Texte aus dem Vademekum
Die Nachbarn
Ich fotografiere. Erste leidliche Ergebnisse, aber eindeutig - Ich. Frau Viezens und Frau Fischer,
wie gern ich beide habe. (Einar Schleef, Tagebücher/19.1.1969)
Beschreibung meines Themas
In Ostberlin wohnte ich in den Jahren ´64 – ´76 in einem Mietshaus an der Grenze der Stadtbezirke Weißensee – Prenzlauer Berg. Als ich dort einzog, war ich der einzige Bewohner unter 50 Jahren. Mit 8 alten Frauen benutzte ich ein Klo auf der halben Treppe. Als ich Ostberlin verließ, waren die meisten tot oder ausgezogen. Nachdem ich hier ansässig wurde, begannen mich einige der noch jüngeren Frauen, meist um 80, zu besuchen. In den ganzen Jahren, die wir uns kennen, habe ich diese Menschen fotografiert. Ich wollte festhalten, wie sie leben, und da wir das gemeinsame Klo benutzten, hatte wir auch bald alle den gemeinsamen Ausschlag. Ich war damals Student der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und als solcher auch erzogen worden, und wenn ich nach Hause ging, brach diese Welt einfach zusammen. Ich habe nicht nur die einzelnen Wohnungen und Räumlichkeiten festgehalten, sondern ebenso das Umfeld, die Geschäfte, Anlagen, Friedhöfe, die Bekannten und Verwandten. (Einar Schleef/Die Brotfrau, Sign. 3120, unveröffentlicht, Einar Schleef-Archiv)
Zu meinen Fotos
Ich arbeite immer in Serien, da es mir wichtig ist, bestimmte Situationen in ihrer Entwicklung festzuhalten. Ich habe mit verschiedenen Themen auch Filmversuche gemacht, mußte aber feststellen, daß sie hinter dem Aussagewert der Fotos zurückstanden.
Die Serien H 1-18, G 1-12 und F 1-13 beschreiben die gleiche Situation, eine meiner Nachbarinnen ist krank, die anderen kommen hinzu und lesen gemeinsam aus der Zeitung vor.
Serie A 1-11 beschreibt das letzte gemeinsame Essen meiner Nachbarinnen, bevor die Kranke in eine Pflegestelle auf Nimmerwiedersehen abtransportiert wird. Im Hintergrund räumen Verwandte und Fürsorgerin aus.
Serie B 1-4 beschreibt das Aufstehen der einen Frau. Sie, die heute älteste im Haus fotografiere ich wieder.
Die technische Qualität meiner Vergrößerungen ist zu beanstanden, jedoch habe ich keine eigene Dunkelkammer. Von besserer Qualität sind 4 Vergrößerungen aus der Serie Privatgeschäfte im Stadtbezirk Prenzlauer Berg, die ich deshalb beigeben möchte.
Herr B. I – III, Frau V., Die Kranke ißt (letztes Foto), Frau V. steht auf
(handschriftlicher Vermerk von Einar Schleef auf der Rückseite der Fotos)
(Einar Schleef/Die Brotfrau, Sign. 3120, unveröffentlicht, Einar Schleef-Archiv)
Fotostudien
„Das Gespräch“
„Am Krankenhausbett“ I – III
„Zeitungslesen am Krankenbett“
„Die Kranke ißt“
Zweck der Fotostudien war es, reale Vorgänge in ihrer Entwicklung abzubilden. Daher waren der Motivwahl enge Grenzen gesetzt, ich mußte vermeiden, daß die zu fotografierenden Personen „Fotoposen“ einnahmen. An den vorliegenden Fotos können Gesten und ihre Entwicklung, Milieu und Maske studiert werden.
„Das Gespräch“ zeigt zwei immer intensiver werdende Grundhaltungen, das Erzählen und das Zuhören. Eine deutliche innere Entwicklung der beiden Frauen findet statt.
In der Folge „Am Krankenbett I – III, einige Wochen nach dem „Gespräch“ aufgenommen, läßt sich auch nach Umgruppierung der Frauen das Statische, Depressive nicht aufheben. Selbst beim „Zeitungslesen“, einer bewusst eingesetzten Ablenkung, kommt es nur zu einer aufgesetzten Heiterkeit.
In „Die Kranke ißt“ kommt es trotz großer Ablenkung, es sind noch drei weitere Personen im Zimmer, zu ausgeprägten Grundhaltungen. Das gemeinsame Essen löst Heiterkeit aus.
Einzelfotos
„Frau V. steht auf“
„Frau V.“
„Herr B.“
Vergrößerung des letzten Fotos aus der Folge
„Die Kranke isst“
„Frau V. steht auf“ ist am Morgen aufgenommen. Es zeigt die Alte in ihrem täglichen Milieu, ohne depressive Züge.
„Frau V.“ diente als Anregung für die Maske der Pasqua (Witwe Pasqua in „Il Campiello“ von Carlo Goldoni, gleichfalls Diplomarbeit von Einar Schleef).
„Herr B.“ zeigt ausgeprägte Erzählgesten, die durch die Kleidung unterstützt werden. Gesicht und Hände sind auffallend.
(Einar Schleef, Text zu den Fotos des entsprechenden Teils der Diplomarbeit vom 19. Januar 1971.)
Zuhause 1970 –
Sangerhausen Geburtsort der Mutter
1981
Berlin
Ich bin fertig, die Fotos liegen in den beiden vorderen Zimmern, ich hatte Angst, ich würde die Negative nicht zusammenkriegen, sie sind da. Trotzdem sind 2 Vergrößerungen verschwunden, beim Einpacken oder Beschriften. Ich hatte sie selber in der Hand, suchte, konnte sie nicht finden, auch Gabriele nicht. Morgen früh gehe ich das Titelbild nochmals zu vergrößern, von dem anderen war noch eine da, bin ganz erschöpft und froh, jetzt kann ich ZUHAUSE abschicken. In die nächste Runde. Unter mir ist immer Krach, ich kann mich nicht beruhigen, konzentrieren, der Hausmeistersohn beherrscht Garten und Keller, macht die Bohrma¬schine an, ich trample, er hört kurz mal auf, er weiß, daß Wände eingezo¬gen werden, sein Protest und mir zittern die Hände, froh, daß ich die Aufnahmen beisammen, morgen früh gehe ich sie nochmals durch, jede einzeln ab¬haken, damit keine fehlt. Über Nacht, ich verbaddle sie selber. Eine Last fällt ab, solange die Fotos mit mir rumgetragen, geschleppt, sortiert, nur festhalten, wozu, ich wußte es nicht all die Jahre, jetzt wird es mein Buch, ganz fest an mich drücken, noch ist es nicht soweit, kann schief¬gehen, bestimmt nicht, vielleicht weil ich froh bin, ist es ein Mißerfolg, ob ich richtig überlegt habe, dumm wäre es, würde ich damit das Buch über Frau Viezens gefährden, das ist wichtiger, umfassender, daran trage ich länger und schwerer. Tragen wie das klingt, irgendwie seife ich mich ein, aber die Kartons stehen da, ich muß was draus machen, an jedem Foto hänge ich, an den dunklen Zimmern, ihren roten Händen, dem kurzen Pferdeschwanz, wenn sie sich früh aus dem Bett wälzt, Wecker und Lenizettsalbe richtet.
(Einar Schleef/Tagebücher, 1981 unveröffentlicht)
Beschreibung Sangerhausen und Umgebung
Als ich im Bett lag, dachte ich an die weißen Berge in Am¬mendorf, den See in Teutschenthal,
an die Fahrt von Sangerhausen nach Halle, jede Station wie eine Fahrt der Liebe. Ich werde sie für Mutter beschrei¬ben. Als ich daran dachte, die Abdeckerei, den Bahnübergang, die Straße ab¬wärts nach Riestedt, wurde ich ruhig, Riestedt im Tal, dazwischen die Felder, die Straße mit den Pappel, dann, nach dem Blankenheimer Wald zu, das Ge¬höft zwischen den Feldern, so muß es in Italien sein, die Pappeln, das Fachwerk, die braune, fast rote Erde. Dann der Wald und der Tunnel. Wie Mutter im Zug beschossen wurde und mit Tante Hette im Schnee in den Wald floh. Wir als Pioniere im Geländemarsch. Fährt der Zug in den Wald, blickt man zu¬rück, liegt hinten zwischen den beiden Bodenwellen Sangerhausen, gelbliches Licht, die Jakobikirche, rechts oben auf der Welle die Pyramide, die Abraumpyramide. Im Wald links der Abzweig nach Hettstedt-Sandersleben, meine Strecke. Eisleben. Dreck und Halden, die kleinen Kirchtürme, die langgezogene Fabrikmauer mit den Parteiparolen an der Straße. Das Krankenhaus, das Werk. Hinter dem ganzen Dreck hell der Süße See. Mutter ist durchgeschwommen. Den See einmal durch. Seeburg. Die Burg. Unser Schulausflug. Die alten Mauern und Traktoren, das Lehrlingskombinat, die Wellen des Sees bis auf die Straße. In der Kurve links die Badeanstalt und die Weiden. Kindheit. Die schmale Straße durch den Ort, Berg und Tal, 2 kleine Seen in den nächsten Senken. Vom Zug sieht man die nicht. Wie oft kam ich per Anhalter nicht weiter, mußte den Berg hoch, durch Kirschbäume und Plantagen, Weinhänge mitten in diesem Dreck 3 Quadratkilometer Italien, wie auf den Bildern von Purrmann, Iscia. (Einar Schleef, Tagebücher/22.2.1978)
Heimkehr 1990 –
Sangerhausen
Heimkehr
Und da stand ich wieder, nach 14 Jahren, vor unserem Haus, meine Mutter oben hinter der Gardine, ich mußte lange klingeln, da stand ich wieder. 20 Jahre bist du nicht zu Hause gewesen, unterbrach mich meine Mutter, wie du aussiehst, steck dein Hemd rein, so stehst du unten vor der Haustür, wenn das einer sieht, 20 Jahre reichen nicht, 25. Ich wollte meine Mutter unterbrechen, unterbrich mich nicht, 20 Jahre, das reicht nicht, wann bist du hiergewesen, ich habe nicht nach dir gerufen, was willst du hier, dein Bruder aus dem Westen ist dagewesen und will endlich einen Zaun machen.
Einen Zaun, ich sah sie an, und sie schwitzte, wischte sich die Stirn ab, kratzte ihren Hals, so wie ich ihn kratze, wenn ich in meiner Küche sitze und auf den Baum hinausstarre und den Himmel, und nicht weiß, was ich mit mir anfangen soll. 20 Jahre, rechne mir das vor, wann du hier gewesen bist, kannst du das, bist du hiergewesen. Ich will nichts wissen. Ja. Guck dich nur um.
Ich stand vor unserem Haus, die Brennesseln reichten mir zur Brust, die Vorgartentür kaputt, der Zaun, die Haustür, die Dachrinne. Ich kann nicht mehr, schrie sie mich an, als wüßte sie, was ich dachte, ich kann nicht mehr. Das ist nicht mein Haus, das ist euer Haus, euer Haus, und keiner kümmert sich drum. Ich bin zurückgekommen, ich stand vor unserem Haus, wie ich dann wie meine Mutter am Küchenfenster stand und in den Garten hinuntersah, der nun kein Garten mehr war, sondern voller Brennesseln und Goldrute. Die verdorrten schwarzen Kirschbäume, der zusammengebrochene Hühnerstall und der Zaun, der nicht mehr erkennbar war. Der alte Apfelbaum zerdrückte das Hühnerstalldach, so voller grüner Äpfel hatte ich ihn nie gesehen, die Goldrute stand so dicht, daß ich mich später nicht dazwischentraute. Mutter war nie wieder unten gewesen, wie sie nie wieder den Balkon betreten hatte, wie sie nie wieder aufgeräumt hatte, wie sie jeden Abfall auf den Balkon geworfen hatte, mit immer neuen Hinweisen, wofür das und das gut war. 30 Müllsäcke packte ich voll, und der Balkon war noch immer nicht leer, wie sie schrie, daß ich ihr alles, aber auch alles wegnehmen wollte, wie ich immer schneller arbeitete, wie ich schwitzte, mich juckte, nicht mehr waschen wollte, genau wie sie. Wo wäscht sie sich. Ausguß und Hahn in der Küche kaputt, im Klo konnte man den Hahn nicht aufdrehen, da lief gleich das Wasser an der Wand runter, überall stand was rum, und ich stand dazwischen.
(Einar Schleef, Tagebücher …)
Mutter
Daß sie mich, nachdem die Mauer fiel, bat nach Hause zu kommen, bei ihr zu wohnen, darin letzte Hoffnung sah, ihrem Tod zu entkommen, begriff ich zu spät, als ich sie steifgefroren überredete, etwas Heißes zu trinken. Bis zum Morgen saß ich bei ihr, ehe sie zu sich kam, nicht mehr sterben wollte. Sie hatte sich im Oktober, es war ungeheizt, sehr kalt, halb nackt aufs Sofa gelegt, um nicht mehr wach zu werden.
Da saß ich mit meiner halbsteifen Mutter im Arm, die Tränen rannen mir, konnte kaum sehen, hatte nicht genug Wärme um sie festzuhalten, ihre Kälte kroch in meine Klamotten, die Knie froren, taten schon weh, ich wollte ihren Körper nicht loslassen, wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte, woher einen Arzt, wir haben kein Telefon, ich wußte auch nicht, wohin ich rennen sollte. Nach 14 Jahren war ich zum ersten Mal zurückgekommen. Alles hatte sich verändert, blieb wie es ist, ich fand mich nicht mehr zurecht, ich war älter geworden.
Manchmal denke ich, die Mauer hat uns am Leben erhalten, wir wußten, daß wir durchhalten, daß es keine Wiedersehen geben würde, nur das Ausharrenmüssen.
(Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, S. 409/410)
Berlin 1965 – 1976 Ostberlin
Gestern 4 Filme gemacht, das Erzählende in einer Abfolge, ähnlich dem Film, versucht. 1. Straßen in
Weißensee, besonders Pistoriusplatz. 2. Kinder kommen von der Schule, fangen Prügelei an, spielen,
gehen nach Hause. Film riß. 3. und 4. Frau Viezens wieder gesund, erzählt Frau Fischer und mir
vom Krankenhaus. (Einar Schleef, Tagebücher/17.1.69)
Vielmehr kam es von mir, daß ich mich, schon durch die unmittelbare Nähe meiner Wohnung zum Jüdischen Friedhof, von dort angezogen fühlte, den Fried¬hof so oft wie möglich aufsuchte, hatte ich doch dort die meiste Zeit während meines Exmatrikulationsverfahrens verbracht, angefangen, den Friedhof zu fo¬tografieren, was ich fortsetzte, als ich längst wieder studierte. Was der Auslöser war, weiß ich nicht, ich stand jedenfalls mit Stativ im Schnee, fotografierte im Januar 1965 Grab für Grab. Am 13. 2. 65 holte ich meine Exma¬trikulation ab, anschließend ging ich fotografieren…
Wer sollte sich damals für meine Fotos interessieren? Saß ich doch schon auf einem Berg von Negativen, die sich in Jahren vermehrten, die meine Freundin bei ihrer Flucht mitnahm, die ich später teilweise veröffentlichte.
Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, S. 408, 409, 410)
JÜDISCHER FRIEDHOF
Gold regnet auf uns herab
und die Starre der Steine
und die Toten um uns in Nebelalleen
das Blauglas in Scherben
und der vertrocknete Strauch
und das Unkraut der Gräber
Gold regnet auf uns herab
und die Starre der Steine
Toten um uns in Nebelalleen
Blauglas in Scherben
und der vertrocknete Strauch
und das Unkraut der Gräber
(Einar Schleef, Tagebücher 8.10. 1965)
Die Freunde – Russenkasernen
…unsere Nachbarschaft war die sowjetische Kommandantur. Vom unmittelbaren Zusammenleben der Soldaten, Offiziere und deren Familienangehörigen bis zum 17. Juni ist mir außer den Filmvorführungen, deren Teilnahme wir Kinder uns erbetteln mußten, und den drakonischen Strafen, mit denen sich die Russen untereinander fertigmachten, nichts anderes erinnerlich als deren Hunger und Gesang. Jeden Abend in der Dämmerung fingen diese uns fremden Menschen an zu singen, und meine Mutter öffnete die Balkontür, damit das ganze Haus von dem Gesang voll war, schon aus Trotz gegen meinen Vater, der Balkontür
und Schlafzimmerfenster schloß. Hunger war Anlaß vieler Garten¬ und Laubenplünderungen in der Nachbarschaft durch die Soldaten. Ich höre meine Mutter im Schlafzimmer: Willy, die werden heute wieder geschlagen, kannst du nichts machen? Ich sehe sie gleichzeitig mit der angrenzenden Nach¬barschaft diskutieren, daß man eh einen Teil der Obsternte zur Verfügung stellen sollte, sehe uns Kinder mit der Karre voll grüner Äpfel, für die Russen mußten es grüne, unreife Äpfel sein, sie aßen nur diese, sehe den Offizier, der mir 3 Mark für den Kauf
von Zigaretten schenkte, uns abweisen, sodaß wir heimkamen, unsere Mütter entsetzt auf die noch grünen Apfel starrten, was sollten sie mit grünen Äpfeln machen, also wieder Gelee…
(Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Seite 438)
Der Baum 1978 – 1994 Westberlin
Nicht nur dieser Baum ist zerfallen oder zerstört, sondern auch ich. Und ich sah quasi diesen Baum – wie ein Gegenüber, mit dem ich mich ja 15, 16 Jahre lang auseinanderzusetzen hatte. (…)
Komischerweise habe ich dann an dem Morgen, als er in Scheiben zerlegt wurde, hier drüben gesessen und auch dieses Geräusch gehört von der Säge, aber überhaupt nicht begriffen, dass das eben der Baum ist, der da umgelegt wird, sondern irgendetwas. Ich habe dann quasi mit diesem Baum getrauert. Natürlich, von Jahr zu Jahr ist er kaputtgegangen. Zunächst glaubte man ja, dass der Baum dieses Jahr noch Blätter bringt und durchhält. Einschneidend für den Baum war die Wende. Scheinbar hatte der Baum also witterungsmäßig… Genau zu diesem Zeitraum fallen eben große Äste ab. (Einar Schleef, 1995, Stunde der Filmemacher)
Entdeckungen von Arno Fischer im fotografischen Werk von Einar Schleef
Wenn ich an einer Bushaltestelle einen Mann photographiere der auf einen Bus wartet, muß auf dem Foto mehr zu sehen sein als ein Mann, der auf einen Bus wartet. Arno Fischer
Einmal im Monat fährt Arno Fischer für drei Tage nach Dortmund, wo er seit 1990 an der Fachhochschule Photographie lehrt, indem er, wie schon sein ganzes Leben lang über Photos spricht, konkrete Hinweise gibt – „ick verkünde keene Theorien“ – und besessen nach eigenen Ansätzen in den Arbeiten seiner Schüler sucht. Er fordert sie auf, genau hinzusehen, eben zu „kucken“, mit Betonung auf beiden Silben. Man sagt ihm Charisma nach. Vielleicht kommt Charisma nicht nur aus Selbstsicherheit, sondern auch aus Selbstzweifeln. „Ich glaube schon, dass ick zu den besten Lehrern gehöre“, sagt Fischer und … „ick habe nie gestrampelt, um mich und meine Bilder bekannt zu machen…“ (Jutta Voigt „Der Mann, der auf den Bus wartet“ in Arno Fischer Photographien, Herausgegeben von T.O. Immisch und Klaus E. Göltz, Connewitzer Verlagsbuchhandlung 1997)
Künstler Ost – West
Ich will fliehen, weit weg, nur nicht hier. Es ist entsetzlich. Niemand darf man etwas fragen, niemand nach der Wahrheit fragen, alle belügen sich, ich selbst lüge, lüge, merke es, und ich gehe mit großer Selbstverständlichkeit darüber hin. Vor mir auf dem Schreibtisch mein erstes Fotos (von mir, es stellt mich dar). Der blaue Anorak, der weiße Ausklopfer am Kragen, noch eine glatte Stirn, um den Mund ein großer, herrischer Zug, Oberlippe und Unterlippe. Die sauber gescheitelten Haare, alles so lächerlich. Ich möchte aufschreien, lese Brecht und tue nichts. Was bin ich nur? Ich glaube an nichts und predige Menschlichkeit, und bin doch selber nicht menschlich. Ach, wozu das alles. (Einar Schleef, Tagebücher, 5.1.1963)
DIE ZEIT IST UM
Es geht jetzt alles wohl zu Ende
Die Zeit ist um
Wer denkt noch an die Wende
Die Einsamkeit verwischt die letzten Spuren
Du stehst im leeren Raum
In ihrer Mitte
Die Zeit ist um
Wer denkt an Dich
Wer schreibt Dir
Niemand
Die Zeit ist um
Lauf weg lauf weg
Noch tragen Dich Deine Füße
(Einar Schleef, Tagebücher, 18.12.1963, Rotes Heft 1963)
Einar Schleef über Eadweard Muybridge 1830-1904
…Muybridge, der über 100 000 Körperstudien fertigte, wies in jahrelanger fotografischer Arbeit nach, dass Maler Bewegungsabläufe falsch darstellten, belegte damit die unterschiedliche Wahrnehmung einer Bewegung durch Kamera und Auge. Seine höchst „technischen“ Aufnahmen, die heute nichts von ihrer Modernität verloren haben, zeigen die dargestellten, Menschen nackt, nicht entkleidet, sondern nackt. Muybridge beschreibt die Bewegung, indem er den Bewegungs-ablauf technisch zerlegt, ihn in Einzelstadien festhält, technisch ausgedrückt, Muybridge „stottert“ im Fotografieren, er segmentiert… (Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Seite 366)
Zitat- und Literaturnachweis
Einar Schleef, Tagebuch 1964 - 1976, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005,
S. 284, S 284, S. 110, S. 49
Einar Schleef, Tagebuch 1953 - 1963, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 2004
S. 25, S. 260, S. 251, S. 376
Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1997
S.409/410, S. 408/409, S. 438, S. 191, S. 363, S. 481, S. 366
Einar Schleef, Die Brotfrau, Findbuch, Einar Schleef-Archiv, unveröffentlicht
Einar Schleef, Text zu den Fotos in der Diplomarbeit, Findbuch, ohne Sign., Einar-Schleef-Archiv
Einar Schleef, Tagebuch 1977,1978, 1990
Einar Schleef in: Alexander Kluge, Facts & Fakes 5, Fernseh-Nachschriften, Einar Schleef - Der Feuerkopf spricht, Hg. von Christian Schulte/Reinald Gußmann, Verlag Vorwerk 8, Berlin 2003
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