9.12.2012, 11 Uhr

Archivfenster
Benjamin in Berlin

Christian Brückner liest Benjamin

»O braungebackne Siegessäule / mit Winterzucker aus den Kindertagen«
© Akademie der Künste, Walter Benjamin Archiv

Die »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« entstand, als Walter Benjamin ahnte, dass er seine Geburtsstadt bald auf immer würde verlassen müssen. Die Miniaturen gehören zum Schönsten, was der Schriftsteller hinterlassen hat. Er entwirft Bilder seiner Großstadtkindheit mit der Einsicht »in die notwendige gesellschaftliche Unwiederbringlichkeit des Vergangenen«.

Mit der Lesung wird das Archivfenster »Benjamin in Berlin« eröffnet. Zu sehen sind ein Pharus-Plan mit den wichtigsten Orten, Fotos und biografische Dokumente, ferner Manuskripte, die den Weg von der »Berliner Chronik« zur »Berliner Kindheit« nachzeichnen: Berlin als Ort zum Schreiben, als literarisches Thema und als Schicksal.

Lesung und Eröffnung des Archivfensters "Benjamin in Berlin", Begrüßung Erdmut Wizisla. € 5/3

In Zusammenarbeit mit der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur
 

Von Erdmut Wizisla

Dokumentation

Eröffnung des Archivfenster „Benjamin in Berlin“ am 24. Oktober 2012

„Benjamin in Berlin“ heißt das neue Archivfenster, das bis zum 14. April 2013 am Pariser Platz geöffnet ist. Drei Vitrinen ermöglichen drei Annäherungen an das Thema. Eine biographische – mit Familienfotos, Dokumenten aus der Schulzeit, Zeugnissen der Studienjahre sowie Belegen von Benjamins essayistisch-kritischer Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt. Eine topographische – mit einem annotierten Pharus-Plan, Ansichtskarten, Zitaten aus Texten Benjamins und Zeichnungen der von der Familie bewohnten Villa im Grunewald. Und eine literarische Annäherung – mit Manuskripten, Typoskripten, einem Verlagsvertrag und Drucken, die den Weg von der »Berliner Chronik« zur »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« nachzeichnen.

Zur Eröffnung der Vitrinenpräsentation, zu der auch ein Computerterminal gehört, las Christian Brückner am 24. Oktober vor ausverkauftem Haus aus der „Berliner Kindheit“.

Aus der Begrüßung von Erdmut Wizisla:

„Was lässt Sie an Ihre Kindheit denken? Sind es Geräusche, eine Musik, ein bestimmter Geruch, der Anblick eines Hauses oder einer Landschaft? Der Klang eines lange nicht gehörten Namens? Eine seit damals nicht mehr gegessene Speise?

Als er im vierzigsten Jahr stand, begann Walter Benjamin, Erinnerungen an seine Kindheit zusammenzutragen. Zunächst, im Frühjahr 1932, entsteht ein autobiographischer Versuch, den er „Berliner Chronik“ nennt. Unter Verwendung dieses Berichts schreibt er kleine Prosastücke, die er immer wieder bearbeitet, umsortiert und vermehrt. Der Text wird zu einem Experimentierfeld und soll unter dem Titel „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ als Buch publiziert werden. Trotz prominenter Fürsprecher gelang es Benjamin jedoch nicht, für dieses kleine und doch so intensive Dokument des Erinnerns einen Verleger zu finden. Er zählt das Buch zu „den zerschlagnen Büchern“. Erst 1950, zehn Jahre nach dem Tod des Freundes, brachte Theodor W. Adorno die „Berliner Kindheit“ im Suhrkamp Verlag zum Druck.

Ohne Sentimentalität und unter Verzicht auf alles Niedliche holt Benjamin Bilder und Eindrücke seiner Knabenjahre herauf: den Lichtstreif unter der Schlafzimmertür als Signal eines bevorstehenden Aufbruchs, das Geläut des Telefons im Hinterflur der großbürgerlichen Wohnung, das freundliche Anschlagen der Klingel im Hause der Großmutter, die umständliche Art, wie ihm der Vater vom Tod seines Vetters berichtet und dabei etwas Entscheidendes verschweigt, Erkundungen im Tiergarten, Schmetterlingsjagden am Brauhausberg, die schönen, leserlichen Buchstaben der Lehrerin Helene Pufahl, die wie die Verkörperung pädagogischer Prinzipien erscheinen. […]

Zur Einladung haben wir eine Aufnahme der Cousins und Cousinen Benjamin und Chodziesner versandt. Das Mädchen rechts im Bild, das seine linke Hand behutsam auf das Kleid ihrer Schwester Margot legt, ist Gertrud Chodziesner, die uns als Gertrud Kolmar ein Begriff ist. Ein solches Foto können wir nicht sehen, ohne mit Schrecken an das Schicksal dieser Menschen zu denken: sie sind Ermordete oder Vertriebene.“