2004

Peter Weibel

Seit 1964 entwickelt Peter Weibel Kunstformen, die ihn von der experimentellen Literatur zur Performance führen. In seinen künstlerischen Aktionen untersucht er nicht nur Sprache und Körper, sondern auch die Bedingungen von Film, Video, Tonband und interaktiven elektronischen Umgebungen. Kritisch analysiert Weibel ihre Funktion für die Konstruktion von Wirklichkeit. Er beteiligt sich an zahlreichen Aktionen mit Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch, Valie Export, Hans Scheugl – vom Wiener Aktionismus bis zum Expanded Cinema. Im Rahmen seiner künstlerischen Forschungen arbeitet er mit unterschiedlichen Materialien, Formen und Techniken. Sein Werk umfasst Texte, Skulpturen, Installationen, Filme, Videos und Musik, in denen er sich Computer- und Webtechnologien zu Nutze macht.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„In dieser Hinsicht ist die Kunstpraxis von Weibel eine direkte Fortsetzung der Kunstpraxis der historischen Avantgarde unter den Bedingungen ihrer technischen und medialen Aktualität.“ (Auszug Laudatio)

Peter Weibel hat von Anfang an, seit den späten sechziger Jahren, aus seiner Arbeit ein Anliegen gemacht, das sorglos, oft auch rücksichtslos mit den Grenzen der zeitgenössischen Kunst umging. Den Begriff von der Zeit verdankt er nicht der Kunst allein, so viel Vertrauen scheint er nicht in sie zu haben. Die Zahl seiner künstlerischen Interessen – der großen Mehrheit erscheinen sie außerkünstlerisch – ist ungewöhnlich, und es gibt nicht viele Kollegen oder Kuratoren, von den Kritikern in der Kunst zu schweigen, die verstehen können, was ihn bewegt. So groß wie die Zahl der Orte, in denen er lebte und arbeitete (es sind nicht dieselben), sind die Wissensgebiete, die ihn beschäftigen. Nichts jedoch lenkt ihn bei allen Namen, Begriffen, Identitäten ab von der Arbeit daran, was heute (Kunst) ist.

Die Jury der Akademie der Künste fühlt sich privilegiert, den Käthe-Kollwitz-Preis 2004 zu verleihen. Kollwitz ist bis heute ein Beispiel für die Kunst. Sie stand zu dem, was sie tat, weil sie meinte, dass es einen Zweck haben müsse. Das war wichtiger als ein Künstler zu sein.

Als er gefragt wurde, wer und was er gerne wäre, antwortete Peter Weibel: Anybody anytime anywhere. 

Jochen Gerz

Der Jury gehörten an: Dieter Appelt, Jochen Gerz und Klaus Staeck

Laudatio von Boris Groys, veröffentlicht anlässlich der Preisverleihung 2004 im zugehörigen Ausstellungskatalog:

 
Peter Weibel als Kämpfer für die ästhetische Gleichberechtigung

In der breiten Öffentlichkeit dominiert die Meinung, dass Ziele und Strategien der künstlerischen Avantgarde ihre Gültigkeit heutzutage verloren haben, dass in unserer Zeit ein genuin avantgardistisches Projekt eine Sache der Unmöglichkeit geworden ist. Trotzdem gibt es nach wie vor einzelne künstlerische Praktiken, die diese Meinung widerlegen. Zu solchen Praktiken gehört auch die Kunst von Peter Weibel. Dabei ist es besonders interessant anzumerken, dass Peter Weibel gerade aus dem Grund seine Kunst an die Traditionen der Avantgarde anschließt, der von vielen anderen dazu benutzt wird, den Abschied von der Avantgarde zu legitimieren. Die Möglichkeit und sogar die Notwendigkeit der Re-Aktualisierung des avantgardistischen Programms ergeben sich für Weibel nämlich daraus, dass die Kunst ihre traditionellen geschlossenen Räume verlassen hat und inmitten der heutigen technisierten, medialisierten Welt agieren muss. Die Tatsache, dass die Kunst heutzutage im Kontext der Massenmedien und mit den Mitteln der aktuellen medialen Techniken praktiziert wird, wird in der Regel als Grund für die unvermeidliche Kapitulation der Kunst vor der massenmedialen Ästhetik angeführt. Von allen Seiten hört man, dass die heutige Kunst imstande sein soll, die meisten Menschen leicht zu erreichen, dass die Kunst ihre elitäre, avantgardistische Haltung aufgeben, dass sie gut verträglich, gut verdaulich werden soll. Kurzum: Dass die Kunst, sobald sie beginnt im Kontext und unter der Verwendung der massenmedialen Verfahren produziert zu werden, verpflichtet ist, sich auch ästhetisch an die Gesetze der massenmedialen Verbreitung anzupassen.

Die Originalität der Weibelschen Kunststrategie besteht darin, dass er zwar die entsprechende Prämisse teilt, aber die obengenannte Schlussfolgerung nicht akzeptiert. Eine Neupositionierung der Kunst inmitten der technisierten, medialisierten Welt erlaubt es für ihn vielmehr, alte avantgardistische Strategien wieder zu aktualisieren, denn diese Strategien, die im Kontext des Museums, der Kunsthalle, der Galerie allzu vertraut zu sein scheinen, bekommen eine völlig neue Schärfe – und auch eine neue kritische Relevanz – wenn sie im Kontext der heutigen Medien praktiziert werden. Die Tatsache, dass die Kunst nicht mehr in geschützten musealen Räumen praktiziert wird, bedeutet für Weibel also keineswegs, dass die aktuelle Kunst zu einer Mimikry der medialen Oberfläche verdammt ist. Ganz in Gegenteil: Gerade dadurch wird die Absage an eine solche Mimikry wieder notwendig.

Dabei handelt es sich aber nicht etwa um Tabubrüche, oder Grenzüberschreitungen, denn diese sind bloß typische Verfahren zur Erzeugung der medialen Aufmerksamkeit – und somit in der künstlerischen Hinsicht wenig relevant. Vielmehr handelt es sich um die Eigenart der Massenmedien, die darin besteht, dass das Repertoire der Bilder, die in den massenmedialen Netzen zirkulieren, stark begrenzt ist. Nicht nur die sogenannten Bilder des Anderen, sondern auch Bilder, die die Wissenschaft erzeugt, interaktive Bilder, rein subjektive Bilder, von den abstrakten Bildern ganz zu schweigen, haben in der Regel keine Chance, in die große massenmediale Netze Eingang zu finden. Weibel arbeitet aber gerade mit solchen verdrängten, ausgeschlossenen Bildern, die zwar technisch-medial erzeugt werden und in diesem Sinne mit den Netzen der massenmedialen Verbreitung technisch durchaus kompatibel sind, aber zugleich eine ästhetische Inkompatibilität mit diesen Netzen aufweisen. In dieser Hinsicht ist die Kunstpraxis von Weibel eine direkte Fortsetzung der Kunstpraxis der historischen Avantgarde unter den Bedingungen ihrer technischen und medialen Aktualität.

Und in der Tat: Die historische Avantgarde hat darum gekämpft, die Anerkennung aller Zeichen, Formen und Dinge als legitime Objekte des künstlerischen Begehrens und somit auch der gesellschaftlich anerkannten Kunstrepräsentation zu erreichen. Die Bilder der sogenannten Primitiven, abstrakte Bilder, einfache Gegenstände der Alltagswelt haben nacheinander die Anerkennung gefunden, die früher nur bestimmten, geschichtlich privilegierten Bildern zuteilwurde. Diese Tendenz zur Gleichberechtigung aller Bilder hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts kontinuierlich verstärkt als auch die Bilder der Massenkultur, der Unterhaltung, des Kitsches als gleichberechtigte anerkannt wurden. Diese Gleichberechtigung aller visuellen Formen, die die moderne Kunst erkämpft hat, wird heute oft als ihre Beliebigkeit beklagt. Denn wenn alle Bilder als gleichberechtigt anerkannt werden, kann der Künstler scheinbar mit keinem Bild mehr Tabus brechen, provozieren, schockieren oder Grenzen erweitern, denn mit keinem Bild kann er den Anspruch verbinden, eine bis dahin verborgene Wahrheit zu offenbaren. Die Kunstgeschichte scheint somit an ihr Ende angelangt zu sein. Und so gerät jeder Künstler, der nach dem Ende der Kunstgeschichte arbeitete, unter den Verdacht, bloß weitere beliebige Bilder unter vielen anderen zu produzieren. Das Regime der Gleichberechtigung aller Bilder wäre in diesem Fall sowohl das Telos der Logik, der die Geschichte der Kunst in der Moderne folgt, wie auch ihre endgültige Negation. Vor allem die Bildwelt der heutigen Massenmedien wird immer wieder als Beweis dessen beschworen, dass der heutige Künstler keine Chance mehr hat, auf die Etablierung seiner eigenen Bildwelt zu hoffen, denn die Bildwelt der Medien scheint überwältigend zu sein – und jede individuelle Konkurrenz mit ihr als ein von Anfang an hoffnungsloses, vergebliches Unternehmen.

Die heutige Medienwelt ist in der Tat die weitaus größte und effektivste Maschine zur Produktion der Bilder – viel grösser und effektiver als das heutige Kunstsystem. Ständig werden wir mit Bildern des Krieges, des Terrors, der Katastrophen unterschiedlicher Art konfrontiert. Wenn man dazu noch Bilder der Werbung, des kommerziellen Films und der Unterhaltung zählt, wird deutlich, dass der Künstler – dieser letzte Handwerker der Moderne - keine Chance hat, der Übermacht dieser bildgenerierenden Maschinen seine eigene Kunst als singuläre entgegenzusetzen. Allerdings kann der Künstler, der in der Nachfolge der klassischen Avantgarde steht, etwas anderes tun – nämlich auf die Unendlichkeit des künstlerischen Bildfeldes verweisen, in dem die Bildfelder der Macht, der Werbung und der Unterhaltung nur kleine Ausschnitte darstellen. Wenn das Kunstsystem, wie es oft passiert, als kleines Subsystem des großen medialen Ganzen gesehen wird, wird nämlich übersehen, dass dieses mediale Ganze erstens seinerseits auf dem Territorium der Kunst operiert und zweitens sich in einem Zustand befindet, der mehr oder weniger dem Zustand entspricht, in dem sich die Salonkunst des 19. Jahrhunderts vor dem Einbruch der klassischen Moderne befand. Der mediale Bildraum scheint zwar auf den ersten Blick immens, fast unübersichtlich zu sein. Die ästhetische Vielfalt der Bilder, die in den medialen Räumen der Massenkultur zirkulieren, ist aber in Wirklichkeit äußerst begrenzt. Um in den kommerzialisierten Massenmedien effektiv verbreitet und verwertet zu werden, müssen Bilder nämlich für das große Publikum leicht wiedererkennbar sein. Das macht die Massenmedien extrem tautologisch. Die Vielfalt der Bilder, die in den Medien zirkulieren, ist de facto wesentlich kleiner als Vielfalt der Bilder, die etwa in Museen aufbewahrt werden. Und das bedeutet: Die formale Gleichberechtigung aller Bilder entspricht keineswegs ihrer realen Ungleichheit im Kontext der heutigen kommerzialisierten Massenkultur. Die Mehrzahl der Bilder bleibt aus der medialen Zirkulation ausgeschlossen.

Die heutige Kunst agiert also in der Kluft zwischen formaler Gleichberechtigung und faktischer Ungleichheit der Bilder. Das gibt dem Künstler die Möglichkeit, sich in seiner Kunst auf diese Ungleichheit zu beziehen. Der Künstler des Ancien Régime wollte ein Meisterwerk schaffen – ein Bild, das für sich allein steht, das keiner Menge der Bilder angehört, das sich in Bezug auf alle anderen Bilder abhebt, weil es eine singuläre Wahrheit sichtbar macht, die von allen anderen Bilder auf diese oder jene Weise verdeckt bleibt. Der Künstler der Moderne präsentiert vielmehr Beispiele einer unendlichen Reihe der Bilder, so wie Kandinsky Beispiele der abstrakten Kompositionen, Duchamp Beispiele der Ready-mades oder Warhol Beispiele der massenkulturellen Ikonen präsentiert haben. Die explosive Kraft, die diese Beispiele für uns ausstrahlen, hat ihren Ursprung nicht in ihrer Exklusivität, sondern vielmehr gerade in ihrer Fähigkeit, bloß Beispiele zu sein: Dadurch präsentieren sie nämlich nicht nur sich selbst, sondern verweisen auf die unendlichen Bildermengen, deren gleichberechtigte Elemente sie sind – und es ist gerade dieser Verweis auf das unendliche Ausgeschlossene, der diesen einzelnen Beispielen ihre Faszination und ihre Bedeutungen in endlichen Kontexten der künstlerischen Repräsentation verleiht.

Die künstlerischen Arbeiten von Weibel präsentieren sich ebenfalls als Beispiele eines potentiell unendlichen Spiels des Künstlers mit Möglichkeiten der heutigen medialen Technik. Oft haben diese Arbeiten eine unverkennbare politische Dimension. Und immer wieder verweisen sie sowohl auf Chancen, wie auch auf Unzulänglichkeiten und Absurditäten der heutigen medialen Techniken. Aber fast immer weisen diese Arbeiten einen sehr spezifischen Sinn für Humor auf. Soeren Kierkegaard hat bekanntlich zwischen Ironie und Humor scharf unterschieden. Die Ironie war für Kierkegaard die Manifestation einer vermeintlich unendlichen Subjektivität, die über die Endlichkeit der Dinge triumphieren will. Der Humor war für ihn dagegen das Ergebnis der Einsicht dieser Subjektivität in ihre eigene Endlichkeit. Weibel ist sich der Endlichkeit der menschlichen Subjektivität sehr bewusst – und kontrastiert sie immer wieder mit der potentiellen Unendlichkeit der technischen Medien. Aber sein Humor ist das deutlichste Zeichen eines souveränen Umgangs mit diesen Medien – und damit auch des Glaubens an das Überleben der Kunst unter den Bedingungen des medialen Zeitalters.

Tonmitschnitte der Preisverleihung

Danksagung (Peter Weibel)