2020

Timm Ulrichs

Porträt Timm Ulrichs © Simone Engelen, Stuttgart

Die von dem Konzeptkünstler Timm Ulrichs 1961 gegründete Werbezentrale für Totalkunst / Banalismus / Extemporismus mit dazugehöriger Zimmer-Galerie und Zimmer-Theater bildet bis heute den Ausgangs- und Bezugspunkt seiner künstlerischen Produktion, in der Lebens- und Arbeitsräume verschmelzen. Im Zentrum seiner Kunst stehen die eigene Person sowie der gesellschaftliche und urbane Umraum. Der „Totalkünstler“ kämpft um Unabhängigkeit vom Kunstmarkt, um Freiheit im Stil und – im Sinne der Konzeptkunst – um die Anerkennung und den Schutz der Idee, nicht des Objektes. Ulrichs folgt einer Utopie der Moderne, die Leben und Kunst als eine Einheit begreift.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Timm Ulrichs hat fernab der Kunstzentren unermüdlich als Autodidakt seine Enzyklopädie der Ideen erfunden. [...] Die schiere Anzahl und Vielfältigkeit dieser unterschiedlichsten Eingebungen sucht bis heute ihresgleichen.“ (Auszug Begründung)

Weiter im Text

Timm Ulrichs hat, überwiegend von Hannover aus, seit den 1960er Jahren ein im besten Sinne heterogenes, bis heute aktuelles umfangreiches Œuvre geschaffen, das für viele Zeitgenossen und eine jüngere Generation von Gegenwartskünstlerinnen und -künstlern impulsgebend ist. Im Jahr seines 80. Geburtstags wird er nun (endlich) in seiner Geburtsstadt Berlin mit einer der renommierten nationalen Auszeichnungen geehrt und erhält den Käthe-Kollwitz-Preis sowie zwei retrospektive Ausstellungen: Die Akademie der Künste ergründet unter dem Motto Weiter im Text die Beziehung von Sprache und Bild und setzt den Fokus auf die Vorstellung vom Ende des (Un-)Sagbaren bis hin zur biblischen Vorstellung, dass die Welt mit Sprache anfängt und enden könnte: AM ANFANG WAR DAS WORT AM. (1962). Im Haus am Lützowplatz eröffnet im März 2020 Timm Ulrichs: Ich, Gott & die Welt. 100 Tage – 100 Werke – 100 Autoren.

Die von Timm Ulrichs 1961 initiierte Werbezentrale für Totalkunst / Banalismus / Extemporismus mit Zimmer-Galerie & Zimmer-Theater bildet bis heute den Ausgangs- und Bezugspunkt seines umfangreichen Werks: Lebens- und Arbeitsräume verschmelzen miteinander – „Totalkunst ist das Leben selbst“ (1959). Im Zentrum seines Werkes steht er als Mensch und Künstler, sein Körper und Geist ebenso wie der gesellschaftliche und urbane Umraum. Dieser Weg schließt an eine Utopie der Moderne an, in der sich Leben und Kunst vereinen. Ulrichs' Wirkungsorte beschränken sich nicht auf klassische Ausstellungsräume, ihn reizen „Nichtorte“ und der öffentliche Raum. Auf revolutionäre Weise dringt er in kommerzielle Gefilde ein und macht sich bereits 1961 zum Ersten lebenden Kunstwerk. In Spiegel und Spiegelbilder wird sogar das Publikum zum Ausstellungsobjekt. Damals scheitert er am Bürokratismus der Verantwortlichen für die Juryfreie Kunstausstellung Berlin 1965 in Berlin, realisiert diese radikale Idee jedoch 1966 in der Frankfurter Galerie Patio.
„Wollt Ihr die totale Kunst?“, fragt Ulrichs anlässlich der Gründung seiner Werbezentrale in ironisch-aggressiver Weise. Antworten gibt sein ICH ALS KUNSTFIGUR oder: was das ganze theater soll. 2. egozentrisches manifest (1966/69).

Timm Ulrichs hat fernab der Kunstzentren unermüdlich als Autodidakt seine Enzyklopädie der Ideen erfunden. Als selbsternannter „Total-Künstler“ arbeitet er in unterschiedlichsten Genres unter anderem als Zeichner, Poet, Schriftsteller, Autor, Bildhauer, Maler, Objektkünstler, Druckgrafiker. Dabei verfolgt er mit seinen geistreichen Einfällen kein durchgehendes Konzept, sondern sucht Originalität in jeder einzelnen Idee. Die schiere Anzahl und Vielfältigkeit dieser unterschiedlichsten Eingebungen sucht bis heute ihresgleichen. Seine Arbeiten richten sich auf die Anerkennung und den Schutz der Idee, des Konzeptes, nicht des Objektes: „Originelle statt originale Kunst“ lautet seine Devise.
Das Feld der Sprache hat er sich seit Anbeginn über Versuchsanordnungen und das Experimentieren mit sprachlichen Grenzen und logischen Missverständnissen erarbeitet. Auch hier kommt es zu einem abgrenzenden Spiel mit dem Objekt: Die Beziehung aus Wort, Begriff, Bedeutung entsteht am Ende in Korrelation mit dem Objekt. Subjektive Beschreibungen werden negiert und die individuelle Wahrnehmung des Betrachtenden vor dem Hintergrund seiner kulturellen Erinnerung erhält in diese Welten als Zufallsfaktor Einzug. Seine Hommage an Gertrude Steins a rose is a rose is a rose is a rose von 1913 (1972/77) oder die Laufschrift ... eine Tautologie ist eine Tautologie ist eine Tautologie ist eine Tautologie ... (1969/70) übertragen eine solche bloße Beziehung des geschriebenen Wortes und dessen abstrakter Bedeutung.
Die Jury sieht eine absolute Notwendigkeit darin, den Käthe-Kollwitz- Preis im Jahr seiner sechzigsten Vergabe an einen Totalkünstler wie Timm Ulrichs zu überreichen, dessen Ideenreichtum damit eine längst überfällige Würdigung erfährt. Ulrichs ist Künstler, ehemaliger engagierter Hochschullehrer und kritischer Beobachter der Szene, der eine unangepasste Existenz jenseits von Mainstream und Kunstmarkt führt. Sein politisches Agieren dient einer jüngeren Generation als Vorbild.

Und natürlich, lieber Timm Ulrichs: Wir denken immer daran, Sie zu vergessen!

Der Jury gehörten an: Ute Eskildsen, Wulf Herzogenrath und Gregor Schneider

Laudatio von Peter Weibel, veröffentlicht anlässlich der Preisverleihung 2020 im zugehörigen Ausstellungskatalog:

Timm Ulrichs – oder der Künstler als Erzeuger von Schemata

Jede Rede beginnt mit dem Wort „jede“. Sie bemerken, mit dieser Bemerkung befinden wir uns bereits mitten in Timm Ulrichs' Territorium. Timm Ulrichs hat 1962 bekanntlich den Satz vom Ursprung der Welt aus dem Johannes-Evangelium „Am Anfang war das Wort...“1 einer Korrektur unterzogen und wortmaterialistisch entgegnet: AM ANFANG WAR DAS WORT AM. (1962). Dieses eine Beispiel bringt bereits auf den Punkt, wie Timm Ulrichs als Wort- und Begriffskünstler die Verhexungen des Verstandes und die Verhexungen der Welt durch die Sprache kritisch entlarvt. Aber dieses eine Exempel verweist ebenfalls auf die Widerstände, die das Werk von Timm Ulrichs weckt.

Der Ausgangspunkt für diese Widerstände ist die Tatsache, dass sich die Malerei – ungeachtet aller medialen und objekthaften, visuellen und akustischen Transformationen und trotz aller Erweiterungen des Kunstbegriffs um neue Materialien, Methoden und Medien im Laufe des 20. Jahrhunderts – noch immer als die dominierende Kunstform behauptet, zumindest im Bereich der Museen, des Kunstmarktes und des Feuilletons. Diese Malerei ist von einem extremen Verdikt gegen alles Verbale geprägt. Die Tafelbilder von Wassily Kandinsky bis Jackson Pollock, von Salvador Dalí bis Gerhard Richter enthalten in der Regel keine Schriftzüge, keine Wörter. Arbeiten wie die von Cy Twombly bestätigen nur die Ausnahme dieser Regel. Dieses Phänomen ist umso erstaunlicher angesichts der Tatsache, dass die beiden malerischen Kunstbewegungen, welche die Moderne einleiteten, Kubismus und Futurismus, bereits dezidiert das Verdikt gegen das Verbale aufgehoben und die Sprache als „Worte in Freiheit“ („parole in libertà“)2 begriffen hatten. Ebenso enthalten Pablo Picassos collagierte Gemälde Sprachfragmente.

Ende der 1950er Jahre formierte sich im Zeichen von Fluxus und Happening ein Aufstand gegen jene wortfeindliche infantile Regression. Allan Kaprows Happening in der New Yorker Smolin Gallery 1962 titelte „Words“ und nahm die Besucher mit auf eine Reise durch zwei Räume, die mit Texten tapeziert waren – ein Ambiente von Wörtern, das von den Besuchern ergänzt werden sollte. Der Fluxuskünstler George Brecht und viele andere wie Yoko Ono oder George Maciunas haben nur schriftliche Anweisungen („Instructions“) auf kleinen Karten als Kunstwerke hinterlassen. Sogar Komponisten wie La Monte Young, der Begründer der Minimal Music, komponierten 1960 ausschließlich mit Wörtern. Seine Composition #10 to Bob Morris gestaltete La Monte Young“3

1963 publizierte Henry Flynt in der von Monte Young herausgegebenen Anthology of Chance Operations ein 1961 entstandenes Manifest unter dem Titel „Concept Art“, das mit den Worten beginnt: „Konzeptkunst ist in erster Linie eine Kunst, deren Material Konzepte sind, so wie das Material beispielsweise von Musik Klang ist. Da Konzepte eng mit der Sprache verbunden sind, ist die Konzeptkunst eine Art von Kunst, deren Material die Sprache ist. Das heißt, im Gegensatz zu einem Werk der Musik, bei dem die Musik korrekterweise lediglich Klang ist (im Gegensatz zu Notation, Analyse etc.), bezieht die Konzeptkunst die Sprache ein.“4 Damit war offensichtlich eine Wende eingeleitet, welche die Sprache an die Stelle des Bildes setzte. Diese Wende hat einen ihrer Vorläufer in der Philosophie, die ja von Natur aus eine sprachbasierte Wissenschaft ist, was die Titel philosophischer Schriften jener Zeit wie Les mots (Jean-Paul Sartre, 1964), Word and Object (Willard Van Orman Quine, 1960) oder Les mots et les choses (Michel Foucault, 1966) explizit belegen. 1967 erschien zudem die Anthologie von Richard M. Rorty, die den sogenannten Linguistic Turn in der Philosophie einleitete, das heißt jener Philosophie, die sich besonders in Oxford und in Wien als sprachanalytische Philosophie beziehungsweise „ordinary language philosophy“ seit Wittgensteins Tagen formiert hatte.5 Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (1922) enthält die Aussage: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit“ (4.01.). 43 Jahre später hält sich Joseph Kosuth sklavisch an diese Aussage. In seiner Arbeit One and Three Chairs (1965) zeigt er das Foto eines Satzes, das heißt einen plakativ vergrößerten Lexikoneintrag mit einer Definition zum Wort „Stuhl“. Neben dieser Texttafel hängt das fotografische Bild eines Stuhls an der Wand, und in der Mitte zwischen beiden ist davor ein realer Stuhl platziert. Kosuth muss entgangen sein, dass Wittgenstein in den 1950er Jahren seine eigene These widerrufen hatte und fortan die Bedeutung eines Wortes durch seinen Gebrauch definierte, was ein wesentlicher Beitrag zur linguistischen Wende war und zu John L. Austins berühmter Vorlesung und seinem Buch How to Do Things With Words (1955, 1962) führte.
Genau in dieser Epoche formierte sich eine theoretische Kunst, in der Sprache den Ausgangspunkt bildete. Eine englische Künstlergruppe nannte sich 1968 präzise Art & Language und nicht etwa Art & Image. Ein Musterbeispiel für diese Kunst, die später als Konzeptkunst bezeichnet wurde, ist das bereits eingangs von mir erwähnte Werk AM ANFANG WAR DAS WORT AM. (1962) von Timm Ulrichs, das sich auf die Behauptung bezieht, die Welt beginne mit Sprache, der Ursprung der Welt sei die Sprache. Ulrichs kritisiert diese Aussage nicht nur hintersinnig, sondern auch tiefsinnig mit einer sprachanalytischen Methode. Derlei Untersuchungen zur Bedeutung von Sprache und Bildern durchziehen Ulrichs’ gesamtes Œuvre – seine visuellen Texte ab 1960, seine Objekte und Plastiken ab 1964.

Greifen wir beispielsweise die Brunnenskulptur Großer Abwasch (1995/2016) heraus. Sie ist eine konzeptuelle linguistische Skulptur und setzt sich von klassischen Brunnen insofern ab, als diese traditionell mit menschlichen oder tierischen Figuren versehen sind. Dass Fische grundsätzlich als prominente skulpturale Elemente für Brunnen bevorzugt werden, liegt nahe, denn Fische tummeln sich im Wasser. Dass Brunnen mit menschlichen Figuren in Verbindung gebracht werden, liegt etwas weniger nahe – es sei denn, es handelt sich um eine Figuration von Neptun als Gott des Wassers oder um das Brüsseler Wahrzeichen Manneken Pis. Bekanntlich wird Wasser jedoch nicht nur zur Reinigung des Körpers verwendet, sondern dient vor allem auch der Säuberung von Geschirr. Die wahrscheinlich häufigste Konnotation des Begriffs „Wasser“ ist der Abwasch. Einen Brunnen als Abwasch darzustellen, basiert also auf einer typisch linguistischen, das heißt semantischen Operation, nämlich der Metonymie. Damit wird eine Tätigkeit aufgewertet, die in der alltäglichen Praxis deutlich pejorativ besetzt ist. Noch immer gilt meist die häusliche Regel: Der Mann isst und trinkt, die Frau räumt und wäscht ab. „Minderwertigen“ Objekten anstelle heroischer Figuren Öffentlichkeit zu verschaffen, ist demnach als emanzipatorischer Akt zu würdigen. In Ulrichs’ Demokratisierung der Skulptur wurden Generäle auf Pferden ebenso wie Könige auf Thronen verabschiedet und Objekte einer häuslichen „minderwertigen“ Tätigkeit auf dem öffentlichen Platz willkommen geheißen: Nichts Sakrales, nur Profanes.

Mit anderen Worten, Timm Ulrichs kam der Welt auf die Schliche, indem er den Spuren der Sprache folgte. Er dekonstruiert die Welt mittels Sprachanalyse. Kritik der Sprache ist in seinem Werk gleichbedeutend mit Wirklichkeits- und Wahrnehmungskritik. Seine zahlreichen Werke mit optischen Täuschungen oder seine Anagramme, so etwa in der Arbeit von 1965, in der aus dem Wort „Augen“ das Wort „genau“ hervorgeht, oder in der Arbeit von 1969, die in dem Wort „Kino“ das Wort „Ikon“ entdeckt, sind nicht nur Zeugnisse von Wahrnehmungskritik, sondern auch eine hellsichtige Kritik der Mitte der 1990er Jahre eingeleiteten Kehrtwenden zurück zum Visuellen: dem Visual Turn (W. J. T. Mitchell, 1992) und dem Iconic Turn (Gottfried Boehm, 1994), welche eine theoretische Unterstützung für die Rückkehr zu malerischen Traditionen wie Neue Geometrie (Neo-Geo), Neoexpressionismus, Neue Wilde etc. boten.6 Ulrichs steht somit in der Tradition einer Kritik der visuellen Repräsentation. Seine Arbeiten nehmen bei Buchstaben und Wörtern ihren Ausgang, handeln aber weniger von der Beziehung der Wörter zueinander, das heißt von syntaktischen Relationen, sondern operieren vorzugsweise im semantischen und pragmatischen Feld. Er geht buchstäblich von den Bedeutungen der Wörter aus, die aus der Beziehung von Sprache zum Objekt entstehen, und von den Beziehungen der Wörter zum Subjekt. In diesem semiotischen Tripel (Charles Sanders Peirce) aus Syntax, Semantik und Pragmatik bewegt sich das Werk von Ulrichs. Es fächert allerdings die vielfältigen Beziehungen zwischen Sprache und Welt nicht nur sprachkünstlerisch, sondern auch in Bildern, Objekten, Aktionen und Musikstücken auf. Die Arbeit Requiem. Tier-Film III, ein etwa fünfminütiges Video von 1989/2006, zeigt einen elektrischen Insektenvernichter vom Typ Eurozap 16 W (White) als akustisches Environment in Betrieb. Während die Stromleitungen als Notenlinien sichtbar werden, erscheinen die verbrennenden Insekten als Noten und Instrumente zugleich. 1972/73 fertigte Ulrichs unter dem Titel Concrete Poetry eine Plastik aus Beton, die auf der doppelten Bedeutung des englischen Wortes concrete gründet, nämlich „konkret“ und „Beton“. Ebenso befinden sich in Ulrichs’ Werk Bilder, ganze Serien von Bildern: Rahmen, in denen das Wort „Bild“ steht. Den Begriff „Bild“ stellt er an die Stelle einer visuellen Repräsentation. René Magritte schuf 1929 das berühmte Gemälde La trahison des images (Der Verrat der Bilder), auf dem das Bild einer Pfeife zu sehen ist mit der darunter zu lesenden Aussage „Ceci n’est pas une pipe“. Damit verwies Magritte zu Recht darauf, dass es sich um die bloße Repräsentation eines Gegenstands handelt und nicht um die Realität eines Gegenstandes. Ulrichs paraphrasiert und steigert diese Überlegungen. Er zeigt weder die Realität noch die Repräsentation der Realität, sondern nur den abstrakten Begriff, und so könnte die Bildunterschrift lauten: „Dies ist kein Bild!“ – denn in den Köpfen der Menschen wird ein Bild prototypisch mit einer visuellen Repräsentation von Realität verknüpft. Dennoch handelt es sich bei Ulrichs um ein Bild, allerdings um ein Bild aus Schrift. Timm Ulrichs ist also ein Meta-Magritte, ein Meta-Maler. Er verrät den klassischen Bildbegriff, den bereits Magritte anzweifelte.

Ich hoffe, man kann mir zustimmen, dass Timm Ulrichs kein reiner Sprachkünstler ist, sondern dass er mit dem Skalpell der Ratio und dem Tele- oder Mikroskop der Sprache die Welt erforscht und aus anderem Blickwinkel darstellt. Das Ergebnis dieser sprachlichen Methode sind nicht nur Spracharbeiten, sondern auch viele Objekte und raumgreifende Werke. Im Jahr 1970 stellte Ulrichs unter dem Titel „Bildräume + Raumbilder“ in der Wiener Galerie nächst St. Stephan nicht Plastiken aus, sondern den Raum selbst, also keine anthropomorphe Skulpturen oder abstrahierte Objekte. Da der Raum bekanntlich durch die drei Koordinaten x, y, und z definiert wird, gestaltete Ulrichs in der Arbeit Raum- Koordinaten-Raum (1973/75) die drei Raumachsen, die aus einer Ecke des weißen Galerieraums entsprangen, in Form von drei an den Wänden befestigten großen schwarzen Vektorpfeilen, die entsprechend mit „x“, „y“, und „z“ gekennzeichnet waren. Er hat also die Konstruktion des Raums wahrnehmbar und bewusst gemacht. Das Eck, das Raum-Eck, birgt deswegen eine gewisse Faszination, da sich aus der Ecke des Raums die Wirklichkeit des Raums entfaltet.

Die Arbeiten von Timm Ulrichs sind ebenso raumgreifend wie zeitgreifend, was seine Aktionen und Medienkunstwerke eindrücklich belegen. Wer sich mit dem Anfang der Welt beschäftigt, ist entsprechend auch mit dem Ende der Welt befasst. Indem er die sprachanalytische Methode konsequent in das Medium Film übertrug, kompilierte Ulrichs aus 60 Filmklassikern die Schlusseinstellung „The End“ zu einem Abspann für den ultimativ letzten Film, der gewissermaßen ein endloses Ende ist.7 Jedes Ende kündet vom nächsten Ende. Beim Blick auf das semiotische Tripel haben wir in Ulrichs’ Werk Beispiele der Semantik und Syntax behandelt. Kommen wir nun zur Pragmatik, zur Beziehung der Zeichen zum handelnden Subjekt. Auf diesem Gebiet hat Ulrichs früh eine seiner größten Leistungen vollbracht, nämlich seine Selbstausstellung und -darstellung als Gedicht. Bezeichnenderweise erfolgte die Selbstausstellung nicht auf einem Sockel wie im Fall von Piero Manzonis Base magica – Scultura Vivente (1961), sondern in einer Vitrine. Kunstmuseen präsentieren ihre Skulpturen traditionellerweise auf Sockeln. Anthropologische und naturhistorische Museen zeigen ihre Artefakte in Vitrinen. Ulrichs hat sich also als Anthropos, als Exemplar der Gattung Mensch, verstanden, wie sich seinerzeit auch Bazon Brock 1963 an Zoodirektor Bernhard Grzimek wandte und beantragte, in die Sammlung von Primaten aufgenommen zu werden. Ulrichs’ Arbeit Selbstausstellung (1961) zeigt den Künstler als einen Menschen auf einem Stuhl in einer Glasvitrine sitzend. Der Künstler stellt anstelle seines Werks sich selbst aus. Der Künstler ist sein Werk – the artist is present. Sie bemerken, Ulrichs hat damit um Jahre vorweggenommen, was später als Performance Art firmierte. Auch Marina Abramović präsentierte sich unter dem Titel The Artist is Present (2010) ähnlich wie Ulrichs in einer Dauerperformance auf einem Stuhl an einem Tisch im Museum of Modern Art, New York, dem Publikum – wenn auch nicht in einer Vitrine, so doch in einem abgesteckten Geviert.

Damit gelangen wir zum Kernproblem von Timm Ulrichs’ Œuvre: Als Künstler hat er vieles früher gemacht als andere, zu früh. Deswegen wurden seine Arbeiten vom Kunstbetrieb nicht verstanden und nicht zur Kenntnis genommen oder marginalisiert. Dem nicht genug: Nachdem einige Jahre später Kolleginnen und Kollegen ähnliche Arbeiten wie Ulrichs fertigten, meldete Ulrichs sich mit dem sanften Hinweis zu Wort, er habe das auch schon gemacht, nur eben früher. Auf diese Weise hat er sich den Ruf eines Störenfrieds eingehandelt, weil er die Kuratorenschaft auf ihre Wissenslücken aufmerksam machte. Dadurch fand er sich in einer zweifachen Falle wieder: Als er seine Arbeiten schuf, hat man sie nicht beachtet, als er später auf seine Arbeiten hinwies, wurde er missachtet. Und es folgte eine weitere, dritte Stufe der Illegitimisierung: Der Pionier wurde von den Betriebswirten der Kunst zum Kopisten seiner eigenen Plagiatoren erklärt. Aber Timm Ulrichs zeichnete sich gerade deshalb als großer Künstler aus, weil er sich mit seinem Werk als der Erzeuger von neuen künstlerischen Schemata bewiesen hatte, die kopiert werden konnten.

Die Kunst des 20. Jahrhunderts führte einen neuen Künstlertypus ein. Kasimir Malewitsch erzeugte mit dem Schwarzen Quadrat (1913) ein neues Schema, das unter dem Titel „Geometrische Abstraktion“ endlos variiert werden konnte. Marcel Duchamp hat mit der Einführung des Readymade ebenfalls ein solches Schema geschaffen. Je besser das Schema war, umso leichter und umso häufiger konnte es variiert werden. Denken Sie an die ersten drei monochromen Bilder, das Schema der Monochromie, das Alexander Rodtschenko 1921 einführte. Die Monochromie ist eines der erfolgreichsten Erzeugerschemata der Moderne. Von Yves Klein bis Rupprecht Geiger und Imi Knoebel existieren unendliche Variationen monochromer Malerei. Nennen wir diese freundlicherweise nicht „Imitationen“, sondern „Forschungsprojekte“, und betrachten wir diese als Erforschungen der Farbe. Dennoch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Rodtschenko dieses Forschungsfeld als Erster eröffnete und somit ein neues Erzeugerschema entwickelte, dem andere dann leicht folgen konnten. Duchamp ist der Prototyp eines Künstlers, der sich nicht länger dem Wettbewerb mit anderen Künstlern innerhalb einer Kunstform aussetzten wollte, weil ihm offensichtlich bewusst war, dass seine malerischen Fähigkeiten nicht ausreichten, um sich mit dem Kubismus von Pablo Picasso und Georges Braque zu messen. Er erkannte, dass das Erzeugerschema Kubismus von Albert Gleizes bis Jean Metzinger bereits zu viele Nachfolger gefunden hatte, als dass auf diesem Gebiet noch Herausragendes zu leisten wäre. Nach dem Versuch mit Nu descendant un escalier no. 2 (1912) gab er Experimente in diese Richtung auf und führte ein neues Erzeugerschema ein: eben das Schema, den realen, nicht selbstgemachten Gegenstand als seine Kunst zu definieren. Erzeugerschemata sind auch der Grund dafür, dass in der modernen Kunst keine Stilrichtungen mehr entstanden sind, die Jahrzehnte beziehungsweise Jahrhunderte überdauern konnten, denn an die Stelle der Stilrichtungen sind diese Schemata getreten. Alle wesentlichen Künstlerinnen und Künstler folgten den Modellen von Malewitsch, Duchamp, Rodtschenko und anderen und setzten sich nicht länger der Konkurrenz innerhalb eines Erzeugerschemas aus, sondern schufen neue. Denken Sie nur an einige der bekanntesten. Das Aufschlitzen der Leinwand ist ein solches Erzeugerschema, ebenso das Zumalen der Leinwand, das mit der Monochromie verwandt ist. Je besser ein Künstler der Moderne ist, umso größer ist seine generative Mächtigkeit, die sich durch die Anzahl seiner Nachahmer beweist. Ulrichs’ Kunst gleicht einer generativen Grammatik, die immer neue Erzeugerschemata hervorbringt.

Timm Ulrichs ist ein Künstler, der in seinem Leben nicht nur eines, sondern viele solche Erzeugerschemata hervorgebracht hat. Das, was seine Tragik ist, ist daher zugleich auch sein Triumph: Da er ein großer moderner Künstler ist, der viele prägende Erzeugerschemata entwickelt hat, konnte er so viele Nachahmer finden, dass sie die Sicht auf den Urheber des eigentlichen Schemas versperren. Im Allgemeinen folgt daraus, dass die nachahmenden Künstler von den Kuratoren mehr geschätzt werden als die Urheber.

Um die Formalisierungstendenzen der modernen Kunst zu verstehen, mag ein Hinweis auf die Mengenlehre dienlich sein. Wie entsteht eine Menge? Der allgemeine Mengenbildungsprozess, der als die Formalisierung eines Abstraktionsprozesses verstanden werden kann, lautet: Zu jeder Eigenschaft E gibt es eine Menge x, welche die Prädikatenextension von E ist. Jede Menge x ist also die Prädikatenausdehnung einer Eigenschaft E. So gibt es zum Beispiel eine Menge roter Dinge, also die Menge aller Dinge mit der Eigenschaft „rot“. Zur Eigenschaft E „rote Farbe" gibt es also eine Menge x von Gemälden, welche nur die rote Farbe verwenden. So entsteht die monochrome Malerei. Die monochrome Malerei ist folglich die Prädikatenextension einer einzigen Farbe. Die Farbe selbst ist eine freie Variable, die mit jeder Farbe belegt werden kann. Das Erzeugerschema ist also die mengentheoretische Prädikatenextension, und monochrome Malerei ist das Ergebnis eines Mengenbildungsprozesses. Die moderne Kunst ist als Formalsystem ein offenes Axiomensystem zur generativen Mengenbildung.
Künstler wie Timm Ulrichs schaffen mit ihren abstrakten Ideen genau dieses Axiomensystem zur generativen Mengenbildung. Sie liefern eine Arbeit, um die sich eine andere Menge von Arbeiten bilden kann. Ulrichs liefert gewissermaßen die Eigenschaft E oder den Satz E (x), wobei die anderen Künstler die Menge x bilden, welche die Prädikatenextension von E ist. In diesem Sinne kann man sogar behaupten, Kunstwerke, die nicht wiederholt und nachgeahmt werden können, sind keine Kunstwerke, zumindest keine modernen Kunstwerke. Das untrüglichste Zeichen für ein modernes Kunstwerk, für die Tiefe und Größe seines Erzeugerschemas, für seine generative Mächtigkeit ist die Nachahmbarkeit. Timm Ulrichs ist der lebende Beweis für dieses Theorem.

Weil Ulrichs sich selbstverständlich dieser von mir geschilderten Problematik des Verschweigens des Urhebers und der Nachahmung des Erzeugerschemas bewusst ist, konnte er viele wunderbare Formulierungen finden, die damit spielen: in worte gekleidet – in schweigen gehüllt (eine Textaktion von 1980) oder in gedanken versunken – aus der erinnerung auftauchend (eine Neonschrift von 1977/78) – und vor allem der Wortlaut seines visionären Grabsteins aus dem Jahr 1969: Denken Sie immer daran, mich zu vergessen! Timm Ulrichs weiß, dass das Verdikt des Vergessens über jedem Künstler schwebt, auch über dem größten. Aber dadurch, dass er das Vergessen in einen Imperativ verwandelt, das heißt in die Denkaufgabe „Denken Sie immer daran“, wird man ihn nicht vergessen können.
Ulrichs’ Epitaph steht gedanklich neben zwei anderen großen „Denkmälern“, die den Rang von Timm Ulrichs belegen: Erstens dem Grabstein des großen deutschen Mathematikers David Hilbert (verstorben 1943) in Göttingen mit dem Diktum „Wir müssen wissen, wir werden wissen“, das Hilbert erstmals am 8. September 1930 in einer Radioansprache formulierte, und zweitens dem Grabstein von Marcel Duchamp (verstorben 1968) auf dem Friedhof in Rouen mit der von Duchamp selbst entworfenen Inschrift „Übrigens, es sind immer die anderen, die sterben“ („D’ailleurs c'est toujours les autres qui meurent“).

Mit der Verleihung des Käthe-Kollwitz-Preises ist nun ein enorm wichtiger Schritt getan, Timm Ulrichs NICHT ZU VERGESSEN. Der Käthe-Kollwitz-Preis ist nämlich einer der besten Kunstpreise, den wir in Europa haben und eine Versicherung gegen ein Vergessen auf Raten. Ich sage das nicht nur, weil ich diesen Preis 2004 selbst entgegennehmen durfte, sondern weil viele andere bedeutende und großartige Künstlerinnen und Künstler wie etwa Hito Steyerl, Adrian Piper, Katharina Sieverding oder Douglas Gordon, Edmund Kuppel und Mona Hatoum diesen Preis erhalten haben. Meine Gratulation gilt daher nicht nur allein dem Preisträger Timm Ulrichs, sondern auch der Jury für ihre Wahl. Übrigens, die Jury könnte selbst ein Werk von Timm Ulrichs sein – denn bei allen Preisen ist beziehungsweise hat das letzte Wort die Jury.

(1) „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott [...] Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.“ Johannes 1ff. (Einheitsübersetzung 2016).

(2) F. T. Marinetti formulierte das Diktum „le parole in libertà!“ zur radikalen Erneuerung der Literatur und Poesie zunächst in seinem „Manifesto tecnico della letteratura futurista“ (11. Mai 1912). Vgl. Technisches Manifest der futuristischen Literatur, in: F. T. Marinetti, Manifeste des Futurismus, Berlin 2018, S. 38–50, hier S. 49.

(3) La Monte Young, Compositions, in: ders. und Jackson McLow (Hg.), Anthology of Chance Operations, New York 1963, S. 117.

(4) „Concept art is first of all an art of which the material is concepts, as the material of e. g. music is sound. Since concepts are closely bound up with language, concept art is a kind of art of which the material is language. That is, unlike e. g. a work of music, in which the music proper (as opposed to notation, analysis, etc.) is just sound, concept art proper will involve language.“
– Henry A. Flint Jr., Concept Art (Provisional Version, 1961), in: La Monte Young und McLow 1963, wie Anm. 3, S. 30–34.

(5) Richard M. Rorty (Hg.), The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method, Chicago 1967.

(6) Vgl. Benjamin H. D. Buchloh, Figures of Authority, Ciphers of Regression: Notes on the Return of Representation in European Painting, in: October, 16 (Frühjahr 1981), S. 39–68 .

(7) Timm Ulrichs, The End. Die Anthologie aus 60 „End“- Einstellungen und Schlussbildern klassischer Filme ist Teil einer Trilogie The End (Idee: 1970, Realisation: 1966/81/90/97).

Eindrücke von der Preisverleihung

Käthe-Kollwitz-Preis 2020 an Timm Ulrichs: Blick ins Publikum

Käthe-Kollwitz-Preis 2020 an Timm Ulrichs: Akademie-Mitglied Gregor Schneider verliest die Jurybegründung

Käthe-Kollwitz-Preis 2020 an Timm Ulrichs: Peter Weibel verliest die Laudatio

Käthe-Kollwitz-Preis 2020 an Timm Ulrichs: Standing Ovations für den Preisträger

Tonmitschnitte der Preisverleihung

Laudatio (Peter Weibel)

Danksagung (Timm Ulrichs)