1995

Micha Ullman

Micha Ullman, Foto: Inge Zimmermann

Der israelische Künstler Micha Ullman schafft Orte, die Selbstbegegnungen ermöglichen. Seine Werke orientieren sind nicht am Sichtbaren, sondern geben dem Abwesenden, dem Unsichtbaren und Unzugänglichen Raum. Viele seiner skulpturalen Interventionen an öffentlichen Orten in Deutschland, Israel und anderen Ländern nehmen unterirdische Räume als Ausgangspunkt. So auch das Mahnmal auf dem Berliner Bebelplatz Bibliothek (1995), das an die Bücherverbrennung 1933 erinnert. Sein Werk eröffnet ein Geflecht aus Assoziationen, Erinnerungen und Symbolen weit über politische Grenzen und Religionsunterschiede hinaus.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Ullmans künstlerische Arbeit ist durch äußerste Konzentration auf die Dinge und ihre Energien geprägt, durch den Verzicht auf gestischen Ausdruck und Narration.“ (Auszug Begründung)

Die Akademie der Künste verleiht dem israelischen Künstler Micha Ullman für sein Gesamtwerk den Käthe-Kollwitz-Preis 1995.

Micha Ullman wurde 1939 in Tel Aviv geboren. Seit Jahrzehnten ist er an internationalen Ausstellungen beteiligt, er hat sein Land auf den Biennalen von São Paulo und Venedig, auf der documenta in Kassel und zahlreichen anderen Ausstellungen vertreten. Zurzeit nimmt er einen Lehrauftrag in Stuttgart wahr. Ullmans künstlerische Arbeit ist durch äußerste Konzentration auf die Dinge und ihre Energien geprägt, durch den Verzicht auf gestischen Ausdruck und Narration. Sein Begriff von Gestaltung ist nicht am Bild orientiert, sondern geht auf die Wurzeln unserer ästhetischen Begriffe zurück, die er sowohl in natürlichen wie in urbanen Räumen sucht. In herausragender Weise hat er sein künstlerisches Credo in der Berliner Arbeit Bibliothek umgesetzt, die erst vor wenigen Wochen als Gedenkstätte an die Bücherverbrennung auf dem August-Bebel-Platz eingeweiht wurde. Ullmans negativer, in den Erdboden gegrabener Raum, der nur durch eine im Verhältnis zum Grundriss kleine Glasplatte einzusehen ist, fasst die Erinnerung an die Kulturvernichtung – Vorstufe zur physischen Vernichtung von Menschen – in eine Form, zu der der Betrachter sich individuell verhalten soll und kann. Micha Ullman arbeitet damit der drohenden gigantomanischen Banalisierung des Denkmalgedankens entgegen. Mit der Namensgeberin des Preises verbindet ihn nicht die künstlerische Sprache, sondern etwas Wichtigeres, Größeres, das der Künstler selbst den „Traum, mit der Gesellschaft, mit den Menschen zu arbeiten“ nennt.

Der Jury gehörten an: Frank Badur, Matthias Flügge und Marwan

Laudatio von Amnon Barzel (aus dem Englischen übersetzt von Sabine Vogel), veröffentlich anlässlich der Preisverleihung 1995 im zugehörigen Ausstellungskatalog:

Ein Fixpunkt in der Leere

Niemand und Neumond heißen zwei Arbeiten von Micha Ullman. Die erste entwarf er nach seiner Ankunft in Berlin als Gast des DAAD, die zweite, nachdem er zum Professor der Stuttgarter Akademie der Künste ernannt worden war. Beide entstanden im Studio, an einem bloßen Tisch, in einer Atmosphäre der Leere. Im Nichts. Auf dem Tisch seines Stuttgarter Ateliers standen zwei Gläser. Der Schatten warf auf jedes einen Mond aus Licht. Der Abstand zwischen den Händen und den Gläsern und zwischen den Gläsern selbst enthielt die ganze Abfolge des zu- und abnehmenden Mondes. Was Micha Ullman in die Bodenplatten von Schloß Solitude eingravierte, hat weniger mit Astrologie zu tun denn mit menschlichem Maß, Leben und Einsamkeit: Solitude. Es geht darum, in der Leere um und in uns zu existieren, es geht um die Entfremdung in uns selbst, um die Grenze zwischen uns und der Welt, um den Unterschied zwischen sehen und glauben. „Der Abstand ist Licht, ein Zeitraum, in dem Grenzen nicht zu bestehen scheinen“, schrieb Edmond Jabès. „Also sind wir der Abstand.“1 Der Abstand zwischen den Monden, die in die Bodenplatten eingezeichnet sind, entspricht Ullmans Körpergröße. „Hier hat der Mond zu seiner vollendeten Form gefunden“, sagt er in seiner bedächtigen und in sich gekehrten Art über den Entwurf zu Neumond. Das Glas in seinem leeren Atelier ist ein lichtgeformter Fixpunkt in der Leere – nicht eines himmlischen Raumes, sondern des profanen Studios, das dennoch niemals leer ist, denn es ist wenigstens von unserem Einblick in seine Leere erfüllt. Hinsichtlich der etymologischen Intuition und weltlichen Mystizismen steht Ullmans Neumond in direkter Folge zu Niemand, jener großen Struktur aus Eisen und gebranntem rotem Sand von 1990 am Berliner Martin-Gropius-Bau, vergleichbar auch in der Auffassung räumlicher Bezüge.

Die Maße seiner Bibliothek, seinem jüngst verwirklichten Projekt eines Denkmals für die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 auf dem August-Bebel-Platz nahe der Humboldt-Universität, sind die des Menschen. Dieses denkbar introvertierteste Denkmal – und nebenbei eine der klügsten Antworten auf die Denkmalsfrage überhaupt –, sein monolithischer Charakter, seine heroische Präsentation, die expressiven Massen können nicht besichtigt werden. Nur eine glasversiegelte Öffnung in den Bodenplatten des riesigen Platzes enthüllt den Blick in die Tiefe eines weißen Raumes. Eine Leere mit leeren weißen Buchregalen, die statt mit Büchern mit Gefühlen beladen sind. Die obere Glasöffnung hat einen zweifachen Maßstab: einen für den Eingang, einen für den Ausgang, wie Ullman sie definiert. Der Leerraum ist ein Quadrat, das viermal die Länge von Ullmans Körpergröße misst. Seine Höhe entspricht dreimal der Größe eines Menschen. Zur Symmetrie fehlt die vierte menschliche Figur. Sie wird ergänzt durch die Person, die auf der Glasöffnung steht. Der Betrachter der leeren Bibliothek ist das Denkmal. Er ist das einzige Zeichen auf dem leeren Platz. „Die Stadt“, schreibt Italo Calvino, „ersteht aus dem Verhältnis zwischen den Abmessungen ihres Raumes und den Geschehnissen ihrer Vergangenheit.“2

Die introvertierte Reflexion als Bedeutung und Ziel jedes schöpferischen Aktes ist Ausgang für eine lange Reihe von Grabungen, von unterirdischen Löchern und Furchen, rechtwinkligen Höhlen und dem Blei der Striche, denen Ullman den Vorzug gibt, indem er seine Erdarbeiten und Skulpturen als bloße Vorstudien zu seinen Zeichnungen begreift. Für die Verwirklichung seiner Bibliothek auf dem Bebelplatz 1995 fertigte Ullman 14 Zeichnungen des unterirdischen Raumes und 14 der leeren Regale an. Diese Zahl verweist auf die hebräische Schreibweise der Ziffer 14, die als Yad gelesen werden kann: Yad, das bedeutet Memorial, und Yad bedeutet Hand, eine Hand, deren Linien nicht lesbar sind – wie die Innenwände von Ullmans Grabungen. Die Zeichen der Zeichen verwischen ihre Spuren, Erde vermischt sich mit Erde, eine Hand verwandelt den leeren Tisch im Studio zu einer zerbrochenen Struktur, in einen Bunker, ein Versteck für das Selbst. Nur ein paar Lichtflecken könnten sich vor der dunklen Erde abzeichnen. Alles ist tief, alles ist flach, wie von weit oben gesehen. Kaum ist die Konstruktion zu erkennen. Verborgen in der Materialität der Erdpigmente, bedeckt vom Blei des Stiftes, ist sie nur in ihren Konturen entzifferbar. Der Tisch, das Haus, der existentiellste menschliche Raum wird zu einem umgedrehten Bunker, einer Leere im menschlichen Maßstab.
Das Verschwinden der Wirklichkeit, die Introversion der Welt, die Vibration eines stillen Schreis zieht Kreise von Ullmans Grabungen aus dem Jahr 1972 bis in die Gegenwart. Auf der Suche nach den persönlichen Ursprüngen seines Werkes findet sich, dass Ullman einer Generation angehört, die sich von jener erdverbundenen zionistischen Ideologie der Siedler verabschiedet hat. Sie haben sich vom Glauben abgewandt, die Wüste fruchtbar machen zu müssen, und sie betrachten den Boden nicht mehr als einzige Garantie für eine neue Gesellschaft auf dem erneuerten alten Land. Nichtsdestoweniger ist sein Interesse an Archäologie, das die Grabungen und Schürfungen in der Tiefe mitbestimmt, immer auch ein Zeichen für eine Verbindung mit dem Ort selbst, ein Mythos der Wiederkehr zu den kulturellen Quellen und nationalen Wurzeln. Die Generation Ullmans kennt Kriege, die langen Zeiten in Schützengräben: „Das Feld der Landwirtschaft und das militärische Schlachtfeld sind Bestandteile meiner Biografie. Was mich am Graben und Ausheben anzieht, ist die Sehnsucht nach einem Stück Erde. Es geht um die Erdkruste, sie ist die Grenze zwischen den Schuhen und der Erde. Der Vorgang des Grabens kommt einer Verletzung dieser Haut gleich. Dieses Gefühl lässt mich nicht los. Ich mache ein kleines Loch, fast nichts, aber sofort vergrößere ich den Himmel, und das ist nicht weniger kritisch.“ Oder wie Jabès sagt: „Der Himmel ist eine Ebene über der Erde. Wir bewegen uns in der Leere. Doch bei jedem Schritt stoßen wir gegen eine Mauer.“
Die Grabungen und Aushöhlungen signalisieren die dringliche existentielle Notwendigkeit eines Selbstschutzes. Die Erdstühle im Erdbunker, die Ullman seit 1980 in seine Arbeiten integriert, schaffen eine Atmosphäre traumatischer Angst; Angst vor Unterdrückung und Macht. Keine Figur sitzt auf diesen Erdstühlen in der Tiefe, doch in der Abwesenheit ist die Präsenz eines menschlichen Wesens spürbar, das wartet. Auf die nächste Katastrophe? „Die Antizipation einer Katastrophe schärft das Bewusstsein für sie“, sagt Ullman.

Die asketische Ästhetik formuliert eine Präsenz der Abwesenheit. In jeder Zeichnung, in jeder unterirdischen Skulptur ist die menschliche Existenz gegenwärtig – doch der Mensch ist nirgendwo. Nicht in der von allen Büchern entleerten Bibliothek, nicht in den vier Gräben, die Ullman 1980 anlässlich der Biennale von Venedig im israelischen Pavillon in Form eines abgestürzten Flugzeugs aushub. Ullman ist ein Augenzeuge, doch was will er bezeugen? Furcht, Ängste, Verlust? „Ich möchte Zeugnis ablegen von einer bedrohlichen Situation, wie es der Maler von Doppelporträt von Giovanni Arnolfini und seiner Frau tat, als er in sein Bild schrieb ‚van Eyck war hier‘.“ Im Hebräischen wird „ich bezeuge“ und „ich weiß“ mit denselben Buchstaben geschrieben, jedoch in umgekehrter Reihenfolge. Ullman bekennt, er interessiere sich nur für Dinge, die er nicht versteht. Allein das Unbekannte zieht ihn an. In seinen wunderbaren Erzählungen vom Ende des 18. Jahrhunderts schrieb Rabbi Nachman aus Breslau: Wenn wir alles wissen, was einem Ding fehlt, kennen wir sein Wesen, ohne es jemals gesehen zu haben. Also macht Ullman uns, indem wir sein Werk wahrnehmen, zu Zeugen seiner unterirdischen Leerräume, die den Schmerz, die Furcht, den Zweifel und die Erinnerung bergen. Einen starken Einfluss auf Ullman übten Fotografien von Paul Virilio aus: Betonbunker aus dem zweiten Weltkrieg, die, zur Seite geneigt, in den Dünen der Küste der Normandie versinken. Architektur des Krieges, Archäologie einer entleerten Macht. Die Bibliothek ist ein umgekehrter Raum mit einem Fenster in der Decke. Die leeren Buchregale wecken in unserem Bewusstsein die Assoziation an die hölzernen Bettregale in Auschwitz. Ein umgekehrter Raum ist auch das Niemand-Projekt für Berlin. Der mit Eisen und Sand versiegelte Raum ist der Ort, wo die Zeit Selbstmord begeht. Der Umriss einer Tür in der Wand markiert ein auf dem Kopf stehendes Haus, in das wir keinen Einblick haben, vergleichbar den unbegehbaren Leerräumen im Architekturentwurf von Daniel Libeskind für das Jüdische Museum Berlin. Dort unterteilen abgeschlossene Lücken die Konstruktion der Raumfluchten in vertikalen Rhythmen. Wie die Stille zwischen zwei Herzschlägen bringen die architektonischen Leerstellen den Tod jüdischer Lebensweise und Kultur im Europa des Holocaust zum Klingen. Die Leere verdinglicht die Erinnerung an das Verlorene. Für eine Arbeit, die zur Realisierung in Jütland, Dänemark, entlang der Bunker am Atlantikwall, konzipiert ist, plant Ullman, zwei Löcher eines Fernrohrs in den Stein zu treiben: Zwei sehen dich an, zwei, um zu sehen – wie der Neumond dich betrachtet, die Ausstrahlung der Gräben, in denen Niemand auf dem Stuhl in der Erde sitzt, versteckt, um nicht gesehen und gejagt zu werden.

Die Kunst Micha Ullmans hat nichts mit Stilen zu tun. Er kämpft um eine radikale Reduktion. Um eine Reinigung jedweder Aussage und Absicht der Formgebung. Die radikalste aller Reduktionen und Verdichtungen drückt sich im Zimzum aus, einem hebräischen Begriff aus der Kabbala, mit dem die „Selbstbeschränkung Gottes zur Eröffnung kreativer Räume“ bezeichnet wird.

Barnett Newman, eine der wichtigsten Figuren des New Yorker Modernismus in der Mitte unseres Jahrhunderts, dessen Kunst als Leitfaden für das Verständnis von Minimalismus und Reduktion gelten kann, entwarf 1963 eine Synagoge, der er den Namen Zim Zum gab. Sein Interesse an der Kabbala und die Definition seiner Arbeit lassen uns eine tiefe Verwandtschaft zwischen den Innenwelten von Ullman und Newman entdecken. Die radikale Reduktion, das Zimzum, und der Hang, einen Raum zu gestalten, Makom im Hebräischen, scheinen eine klare Verbindungslinie von Newman zu Ullman zu ziehen. Beide beziehen sich auf einen Raum als Heimstatt der Seele, erfüllt von einem inneren Licht. Newman identifiziert die zentrale Bühne seiner geplanten Synagoge als einen Hügel – ein Ort, an dem eine Person „ihr ganzes Wesen erfahren kann“, Ullmans reduzierte Erdschächte sind Stätten zur Bewahrung des Selbst. In einem Essay über Newman schrieb Thomas Hess 1972: „Für die frühen Kabbalisten, wie für Aristoteles, waren Raum und Ort identisch. Es gab keinen abstrakten, metaphorischen Raum. Alles war Ort, sogar der Himmel“ (einer der Namen für Gott lautet Makom). Die Orte von Ullmans Zeugenschaften liegen in unserem Bewusstsein, eingraviert wie Tätowierungen der Erfahrung und zugleich aus ihrem Gehäuse der Introversion hinausstrahlend.

(1) Edmond Jabès. Le Livre des Questions. Paris 1963
(2) Italo Calvino. Le città invisibili. Turin 1972