2019
Hito Steyerl
Hito Steyerl bündelt auf provokante und scharfsinnige Weise physische, visuelle und intellektuelle Informationen in ihrem künstlerischen und theoretischen Schaffen. Der Diskurs umkreist gesellschaftspolitische Prozesse: Postkoloniale Kritik, Machtmissbrauch sowie die Einflüsse der Globalisierung auf den Finanz-, Arbeits- und Warenmarkt visualisiert die Künstlerin in verschiedenen Medien. Sie reagiert in montierten und demontierten Bildern, Texten, Performances, Multimedia-Installationen und Dokumentarfilmen auf den Einfluss digitalen und globalen Lebens. Steyerls künstlerische Positionen nehmen neue Perspektiven ein und sind durch die internationale Rezeption nachhaltig relevant für den aktuellen Kunstbetrieb.
Textbeiträge zur Preisverleihung
„Hito Steyerl macht Angebote für neue Sichtweisen und Perspektiven mit Relevanz für den Kunstbetrieb, wie einst Käthe Kollwitz.“
(Auszug Begründung)
Als Käthe Kollwitz 1917 ihr Tagebuch befragt: „Wo ist die neue Form für den neuen Inhalt dieser letzten Jahre?“, ging der Erste Weltkrieg schon in sein viertes Jahr; ihren Sohn Peter hatte sie bereits 1914 an diesen Krieg verloren. Die Ausnahmekünstlerin ringt mit sich in einer von Männern dominierten Kunstwelt, sie sucht nach neuen Formen, ihr Erlebtes künstlerisch umzusetzen. Die Bildhauerin, Grafikerin und Zeichnerin wird zu einer Hauptvertreterin der avantgardistischen Szene, die auch politische und gesellschaftliche Verantwortung übernimmt.
Hundert Jahre, nachdem Käthe Kollwitz 1919 als Mitglied in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen wurde, stellt sich nun Hito Steyerl in die Phalanx der starken und international einflussreichen Preisträgerinnen, neben Mona Hatoum, Katharina Sieverding, Adrian Piper u.a. Der gebürtigen Münchnerin gelingt es wie kaum einer anderen bildenden Künstlerin der Gegenwart, auf provokante und scharfsinnige Weise physische, visuelle und intellektuelle Impulse in ihrem künstlerischen und theoretischen Schaffen zu bündeln. Auch ihr künstlerischer Diskurs umkreist stets gesellschaftspolitische Prozesse: Postkoloniale Kritik, Machtmissbrauch, Gewalt sowie die Einflüsse der Globalisierung auf den Finanz-, Arbeits- und Warenmarkt visualisiert sie in verschiedensten Medien. Steyerl reagiert mittels Montage und Demontage von Bildern, Texten, Performances, Multimedia-Installationen und Filmessays auf den Einfluss des digitalisierten und globalisierten Lebens und revolutionierte damit in den vergangenen Jahren zahlreiche Museumsausstellungen und Biennalen auf der ganzen Welt.
Die Frage nach dem Einfluss virtueller Realitäten auf die Userinnen und User, die zu Rezipientinnen und Rezipienten werden, konkretisiert Hito Steyerl in Hell Yeah We Fuck Die – einer Arbeit, die sie 2016 anlässlich der Biennale von São Paulo konzipierte – im Hinblick auf die Rolle der Computertechnologie in Kriegssituationen: ein Thema, das Künstlerinnen und Künstler seit den 1960er Jahren vor allem in den USA bearbeitet haben, das mit der Entwicklung digitaler Technologien jedoch eine neue Dimension erhalten hat.
Neben ihren raumgreifenden und technisch hochversierten Installationen tritt die Professorin für Experimentalfilm und Video, die auch das Research Center for Proxy Politics an der Universität der Künste Berlin mitbegründet hat, mit Vorträgen und Texten über gesellschaftspolitische Fragen zu virtuellen Realitäten auf die Bühne der Kunstöffentlichkeit und des Wissenschaftsbetriebs: Ein virtueller 360°-Kosmos (Bubble Vision), errichtet mittels Technologie, Medien der Fotografie, Video, Virtual Reality und befeuert durch Social-Media-Portale, Amazon, Google etc., stand in den letzten Jahren im Zentrum ihrer künstlerisch-wissenschaftlichen Recherchen. Hito Steyerl reagiert mit ihrem Werk auf Fragen, die jeden angehen: Was folgt aus dem freien Umgang autoritärer, feudaler oder populistischer Regime mit digitaler Technologie? Und wie können Künstler und Künstlerinnen in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs mit neuen Machtstrukturen, anti-europäischen Tendenzen und dem zunehmenden Rassismus umgehen, denen wir uns alle ausgesetzt fühlen? Hito Steyerl macht Angebote für neue Sichtweisen und Perspektiven mit Relevanz für den Kunstbetrieb, wie einst Käthe Kollwitz.
Der Jury gehörten an: Douglas Gordon, Katharina Grosse und Ulrike Lorenz
Laudatio, vorgetragen von Florian Ebner anlässlich der Preisverleihung am 20. Februar 2019:
Guten Abend sehr verehrte Damen und Herren,
liebe Mitglieder der Akademie der Künste,
liebe Freundinnen und Freunde von Hito Steyerl,
liebe Hito,
es ist mir eine wirklich große Freude und echte Ehre heute Abend hier zu sein und zu diesem Werk zu sprechen.
Mein Text hat einen Titel und dieser Titel ist ein Zitat aus Hito Steyerls Film November aus der Minute 19: „Not I am telling the story, the story tells me.“ Von Hito Steyerls unbändiger Lust an der Umkehrung der Perspektive.
An einem Abend wie dem heutigen, im Februar 2015, Berlin, vollbesetzter Saal im Kunstquartier Bethanien, an diesem Abend begann eine Veranstaltung mit einer kapitalen Panne. Die Projektion einer aufwendig konstruierten und animierten Website, welche die Künstlerinnen und Künstler des Deutschen Pavillons der Venedig-Biennale 2015 vorstellen sollte, wollte nicht starten. Unter den Gästen auf dem Podium kam Hito Steyerl dem überforderten Moderator zu Hilfe. Mit ironischem Ton, der ihre spätere Kritik an dem Abend an den Mythen des Internets bereits vorwegnehmen sollte, verwies sie darauf, dass dieses Nichtfunktionieren bereits konstitutiver Teil einer vermeintlich partizipativen Technologie sei, deren Rhetorik auf Versprechungen und Täuschungen basiere, die im Grunde doch aber eigentlich großer und unbrauchbarer Quatsch sei. Der mit viel Heiterkeit von Seiten des vornehmlich jungen Publikums begleitete ungeplante Auftritt Steyerls brach mit der verklemmten Coolness und dem ritualisierten Verlauf, den die Veranstaltung vielleicht ansonsten genommen hätte.
Diese kurze Rückblende, zugegeben eine eher kleine Anekdote zu Hito Steyerl, ist doch der symptomatische Widerschein eines Denkens, das unmittelbar von Bildern und Begriffen, Momenten und Orten ausgeht, ihre Kontexte, Anlässe oder Formate stets in Frage stellt, in diesem Falle die Rituale der öffentlichen Podiumsrunde, und gerade deren Scheitern oder Widersprüche produktiv umdenkt – ein Denken, das man gemeinhin nach einer großen Tradition als kritisches Denken bezeichnet hat. Doch selbst vor dem Kritischen macht Hito Steyerl keinen Halt und unterwirft die gegenwärtige Semantik des Wortes, zumindest des angloamerikanischen Gebrauchs critical, einer Dekonstruktion: In Zeiten globaler Terrorwarnungen in den USA und in Großbritannien meint critical nicht mehr kritisch im analytischen Sinn, sondern nur noch kritisch im Sinne der höchsten Alarmstufe. Ausdruck findet dies in Texten von 2007 wie Die dokumentarische Unschärferelation. Was ist Dokumentarismus?1 oder auch in der Arbeit Red Alert, die im selben Jahr auf der documenta 12 zu sehen war. Hito Steyerls Denken begegnet dem alarmistischen Tenor unserer Zeit nicht mit dem Gestus der Betroffenheit, sondern mit der Lust am intellektuellen und dadaistischen Widerstand, und dieser beginnt stets mit der unmittelbaren Dekonstruktion seiner jeweiligen Bedingtheit, auch wenn dies nur der durch ein Softwareproblem bedingte, stotternde Beginn einer Diskussionsrunde sein sollte.
Wenn Hito Steyerl heute den Käthe-Kollwitz-Preis 2019 erhält, dann wird eine Künstlerin und Filmemacherin, eine Essayistin und Medientheoretikerin geehrt, die ein über 25-jähriges dokumentarisches Werk oder besser ein Werk über das Dokumentarische geschaffen hat. Die Wahl für diesen mit Kollwitz' Namen verbundenen Preis und seine Geschichte erscheint legitim aufgrund einer von beiden Künstlerinnen geteilten engagierten Kunst – ein schwieriger, weiter Begriff, der vielleicht am Ende mehr verdeckt, als er herausarbeitet. Galt die Kunst der Käthe Kollwitz dem herrschenden ästhetischen Verständnis Wilhelm II. als Paradebeispiel der verachteten Rinnsteinkunst, so passt hierzu bestens eine Künstlerin, die hundert Jahre später in einem wegweisenden Text das soziale und politische Potential der poor images untersucht, jenes, wie Steyerl es in einem Text nannte, „Lumpenproletariats“ unserer digitalen Zeit.2 Doch wozu solche Analogien, was ist der Sinn einer solchen Laudatio – ein Wort, das Hito Steyerl per se schrecklich finden muss, als Ausdruck der Selbstgenügsamkeit des Kunstbetriebs, der sich feiert, als ultimative Form des Vereinnahmtwerdens durch eine Art Staatspreis, der zumindest in seiner Geschichte diese Funktion erfüllt hat? Wäre es nicht konsequent im Steyerl’schen Sinne, wenn eine Kreatur künstlicher Intelligenz diese Rede halten würde, die, gefüttert mit ihren Filmen und Texten inklusive einer eingebauten Kontrollschleife des finalen Widerspruchs, ein passendes Fazit geben würde?
Weitaus bescheidener gehe auch ich – ohne ein programmierter Hito-Troll oder Hito-Bot zu sein – vom unmittelbar Vorliegenden aus, den Arbeiten dieser Ausstellung, um eine einfache Frage zu verfolgen: Wie lässt sich über die Jahre ein dokumentarisches Werk entwickeln, wenn zugleich die medialen Werkzeuge und gar die Wirklichkeit ungewiss geworden sind, wenn wir als Subjekte der Geschichte bereits im Taumeln begriffen sind, wie die Roboter in der Installation Hell Yeah We Fuck Die, oder uns ohnehin schon im freien Fall befinden?
Shot/countershot oder auf Deutsch Schuss-Gegenschuss. Auf der Logik zweier Einstellungen basiert Hito Steyerls Videoinstallation Abstract von 2012. Die Künstlerin benennt sie als solche mit den Begriffen der Filmsprache und verweist darauf, dass die „Grammatik des Kinos der Grammatik der Schlacht folge.“ 1981 schreibt Harun Farocki in der Zeitschrift Filmkritik: „Es sind die Autoren, die autoriellen Autoren, die gegen das Schuß-Gegenschuß-Verfahren aufstehen. Das Schuß-Gegenschuß-Verfahren ist ein Verfahren der Montage, das aber zurückwirkt auf das Verfahren der Aufnahme, von daher auf das Ausdenken und Aussuchen, den Umgang mit Bildern und Vorbildern. Schließlich ist Schuß-Gegenschuß die zentrale Regel, das Wertgesetz.“3 Später wird Farocki noch Jean-Luc Godard analysieren – einen dieser autoriellen Autoren –, der in seinem Text Befragung eines Bildes von 1972 das Prinzip des Schuss-Gegenschuss gar in die Nähe des Faschismus rückt.4 Mit Farocki und Godard sind auch die beiden Riesen genannt, auf deren Schultern Steyerl steht, wie sie es selbst immer wieder formuliert hat.5
In der Installation Abstract nimmt sie die ihr eigene Dekonstruktion dieses Prinzips vor. Sie verwendet Schuss-Gegenschuss nicht als sukzessive Einstellungen, um die Illusion einer einheitlich kohärenten Erzählung zu schaffen, sondern bricht es als ein paralleles Nebeneinander auf. An die Stelle der raum-zeitlich linearen Logik einer Filmerzählung tritt die politisch-geografische Ordnung: Die eine Einstellung entstand bei einem Aufenthalt Steyerls in der von Kurden beanspruchten kargen Gebirgslandschaft in der östlichen Türkei. Die Kamera hielt fest, wie sie zusammen mit einem Augenzeugen Reste einer militärischen Auseinandersetzung, Kleidungsstücke und Munitionshülsen von Cobra-Hubschraubern birgt. Parallel dazu zeigt ein zweiter Bildschirm die andere Einstellung, den Gegenschuss: Hito Steyerl auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor, ein Handy vor den Augen, in der Geste des Filmens, eine starke, verblüffende Einstellung, als wäre sie eine Touristin am eigenen Ort. Im Laufe der Montage dieser doppelten Einstellung erfährt man, dass sie die Berliner Vertretung des Waffenherstellers Lockheed Martin am Pariser Platz filmt, der die verwendeten Waffen für diesen Hubschrauber produziert, während der Augenzeuge in der anderen Einstellung davon berichtet, dass an dieser Stelle in Nordkurdistan 39 Menschen getötet wurden, darunter auch Andrea Wolf, Hito Steyerls Jugendfreundin, exekutiert als kurdische Freiheitskämpferin unter ihrem Namen Ronahi, die an dieser Stelle in Steyerls Werk zurückkehrt – von ihrer Geschichte wird noch die Rede sein.
Die Einstellung ist die Einstellung, so ist der Titel eines Buches von Gertrud Koch, die Einstellung der Kamera lässt auf die politische Haltung hinter dem Sucher schließen. Die Aussage in der Zusammenschau beider Einstellungen in Steyerls Installation ist evident: Die Verbrechen des Krieges sind nicht ohne die ökonomischen Interessen der einen und die politische Billigung der anderen zu denken. Abstract in seiner konzeptuellen Eindringlichkeit und Radikalität bündelt wie unter einem Brennglas – oder Laser, wie Katharina Grosse vielleicht passender sagte –zentrale Fragestellungen des Steyerl'schen Schaffens: Die Frage nach Zeugenschaft, die Präsenz der eigenen Person und Biografie, die Verquickung von Krieg und Ökonomie, von moderner Technologie und ihrer Auswirkung auf das Filmische, vor allem jedoch die Erweiterung der Erzählung um die unbedingte Dekonstruktion ihrer eigenen Mittel. Wie bei keiner anderen Künstlerin ihrer Generation steht die Umkehrung der Perspektive und das permanente Making-Of des filmischen Dispositivs – im Sinne von Adornos Essay-Prinzip als Selbstreflexion eines Werkes6 – derart im Zentrum ihrer Methodologie, und dies betrifft so gut wie alle ihre Filme wie auch auf anderer Ebene ihre Texte, ihre Lectures und Ausstellungen, die nicht selten als Auftragsarbeiten für einen bestimmten Ort und Kontext entstehen. Es ist daher eine schöne Koinzidenz und eine feine Ironie der Geschichte, dass die Präsentation dieser Arbeit in der Ausstellung gleichsam ex post in der Berliner Akademie der Künste/Standort Pariser Platz stattfindet. Gleich einem Kollateralschaden, um diesen zynischen Begriff zu verkehren, ist die Reflexion über Schuss und Gegenschuss im Nachbarhaus des Frank-O.-Gehry-Gebäudes eingeschlagen, das Hito Steyerl 2012 für Abstract filmte. Die Arbeit erfährt nun eine neue Ebene der Konkretisierung, wenn sie vom Platz in den Palast zieht.
Doch Steyerls Werk weist noch weitaus mehr Bezüge zu diesem Fleck mitten in Berlin auf. Der ebenfalls in der Ausstellung gezeigte Film Die leere Mitte macht jene riesige städtebauliche Brache wieder sichtbar, die sich in den 1990er Jahren vom Reichstagsgebäude bis hin zum Potsdamer Platz erstreckte. Gerade anhand der Leere lässt sich paradoxerweise von der latenten Präsenz der vielfältigen Grenzen sprechen, die an diesem Ort einst existierten und von Ausschluss und Diskriminierung handeln. Wie eine Archäologin legt Steyerl verschiedene bildliche Schichten dieser Vergangenheit frei – ob es sich um die Geschichte des in Berlin Aufnahme begehrenden Moses Mendelssohn, des aus Berlin vertriebenen jüdischen Komponisten Friedrich Hollaender oder des dort ermordeten deutschen Veteranen des Ersten Weltkriegs Mohammed Hussein handelt – und schneidet sie mit der konkreten Situation der 1990er Jahre gegen. In Steyerls Montage sind es die Außenseiter der Gesellschaft, wie die aus China stammenden und ehemals in der DDR Studierenden, die ihre Erwartungen über die Zukunft dieses Ortes äußern, der heute jeglicher gesellschaftlicher Utopie entbehrt. Wenn bei einem Travelling der Kamera über die Kreuze der deutschen Mauertoten die Stimme aus dem Off als Kontrast die Namen derjenigen Menschen vorliest, die 1998 ihr Leben verloren, ertrunken in europäischen Flüssen oder erstickt in Containern, als sie versucht hatten, Europa zu erreichen, wird schmerzhaft deutlich, wie weitsichtig diese komplexe Montage auch heute noch ist, ohne den spektakulären Ton, den gegenwärtige Kunstaktionen um die Toten der Grenzen anschlagen. Als Hito Steyerl ihren Film auf 16mm-Material drehte, gab es noch die Latenz des belichteten Materials, das erst entwickelt werden musste. Die vergangenen zwanzig Jahre machen nun eine andere, politische Latenz dieses Films sichtbar, und die Akademie der Künste am Pariser Platz ist der beste Ort, um sie, in der Sprache der Filmchemie, auszuentwickeln.
1919, also vor hundert Jahren, wurde Käthe Kollwitz zum Mitglied der Preußischen Akademie der Künste gewählt. Es war ein grausames Jahr und ein blutiger Start der noch jungen Weimarer Republik. Am Anfang des Jahres stand die Niederschlagung des sogenannten Spartakus-Aufstandes, dem bis zum Mai die gewaltsame Unterdrückung aller weiteren Aufstände und anderer temporärer Staatsformen, darunter auch das blutige Ende der Münchner Räterepublik, folgen sollten. Bekanntlich widmete Käthe Kollwitz dem toten Karl Liebknecht ein großartiges Blatt. In Memoriam Karl Liebknecht von 1920 zeigt den am 15. Januar 1919 ermordeten, führenden Kopf der noch jungen KPD in der formal radikalen Horizontalen, unter einem Laken, umgeben von Trauernden. Kollwitz' Komposition verwandelt den kommunistischen Führer unverkennbar in einen toten Christus. Als Zeichnung im Leichenschauhaus vor dem aufgebahrten Liebknecht begonnen, wird das Blatt 1920 als Holzschnitt fertiggestellt, neben einer nummerierten Auflage von 100 Handabzügen existiert noch eine in der Höhe unbestimmte Auflage eines Maschinendrucks. Am 6. November 1919 hatte sie in ihrem Tagebuch notiert: „Wo ist die neue Form für den neuen Inhalt der letzten Jahre?“ Sie fand ihn im reproduzierbaren Holzschnitt, einer Technik, die sie in früheren Jahren nicht verwandt hatte.
Der Ikonisierung von Menschen und Bildern hat Hito Steyerl 2004 mit November einen wichtigen und oft kommentierten Schlüsselfilm gewidmet. Sie denkt diesen Prozess der Ikonisierung, den sie als „the Travelling Image“ bezeichnet, als ein komplexes Zusammenspiel von Bildern, Vorbildern und dem Nachleben von Bildern, dem Wirklichkeit-Werden von Fiktion und der Fiktionalisierung der Realität. In diesem Film begegnen wir Andrea Wolf, der Jugendfreundin Steyerls, auf deren Suche sie sich 2012 in Abstract begeben wird, in drei unterschiedlichen Leben: als charismatische Anführerin einer Amazonen-Gang in den Aufnahmen eines feministischen Martial-Arts-Films, den Hito Steyerl bereits 1983 als 17-Jährige irgendwo in der bayerischen Steppe drehte, als reale kurdische Kämpferin in einem Fernsehinterview der 1990er Jahre sowie als Ikone der im Kampf gefallenen Şehit Ronahi auf den Postern demonstrierender Kurden in Deutschland. Gegengeschnitten wird dieses Material mit unterschiedlichster Kinokultur: einem wilden Russ-Meyer-Streifen, Bruce Lees letztem Film und Costa-Gavras' Revolutionskino, kommentiert und kontrastiert von Steyerls Off-Stimme, die über die Koinzidenz von filmischer Fiktion und politisch-existentieller Schicksalhaftigkeit nachdenkt, die Lebensläufe als dokumentarisches Material begreift, über das sich jedoch nur als Montage verschiedenster Perspektiven sprechen lässt. Erst in der Überblendung der fiktiven Amazone mit dem Bild der realen Märtyrerin bildet sich das Paradoxe, das Absurde und das Wahre dieser Geschichte heraus.
Einige Jahre nach November, um 2007, arbeitet Hito Steyerl an einem Text, den es in mehreren Versionen gibt: Documentary Uncertainty sowie als deutsche Fassung Die dokumentarische Unschärferelation. Was ist Dokumentarismus? Ausgehend von den unscharfen und verpixelten Aufnahmen der Handykamera eines CNN-Reporters aus den Tagen der Irak-Invasion 2003 stellt sie die Frage nach der Relation von Realität, dokumentarischer Wahrheit und Bildern im Zeitalter einer immer mehr auf Affekte setzenden Informationsökonomie. Wenn die Bilder heute nur noch Ausdruck für ihre eigene Ungewissheit sind, wo bleibt dann ihr kritisches und dokumentarisches Potential? Der Text endet mit einer radikalen Schlussfolgerung, die Käthe Kollwitz in ihrer Zeit wohl kaum geteilt hätte: „In diesem Sinne darf kritischer Dokumentarismus nicht das zeigen, was vorhanden ist – die Einbettung in jene Verhältnisse, die wir Realität nennen. Denn aus dieser Perspektive ist nur jenes Bild wirklich dokumentarisch, das zeigt, was noch gar nicht existiert und vielleicht einmal kommen kann.“7 Eine Brücke auch zu den ganz heutigen, aktuellen Arbeiten.
Auch diese Konsequenz, Bilder zu zeigen, die das zeigen, was noch gar nicht existiert, aber vielleicht einmal kommen kann. Auch diese Konsequenz gehört zu den paradoxen Denkbildern Hito Steyerls, deren spezifischer Sound eine ganze Generation von jungen KünstlerInnen und MedientheoretikerInnen weltweit begleitet. Ein Denken in Paradoxien und Provokationen, das, wie erwähnt, in Bezug auf das Medium Film nie den Einfluss von Jean-Luc Godard oder Harun Farocki verleugnet hat, seitens der Philosophie von der negativen Dialektik der Frankfurter Schule durchdrungen ist, den dadaistischen Geist der Situationisten in sich aufgenommen und die feministischen Repräsentationsmodelle einer Ulrike Ottinger bis hin zu den Utopien einer Donna Haraway genauso rezipiert hat. Schließlich ein Denken, das sich – technologisch gesehen – in einer Zeit vollzieht, in der das aufzeichnende, indexikalische Bild der Kamera von dem generierten und gerechneten Bild der Computer und der netzwerkbasierten Algorithmen abgelöst wird. Steyerls Perspektive der unbedingten Umkehrung der Perspektiven fällt somit in eine Zeit völlig neuer „skopischer Regime“8, um einen Begriff von Jonathan Crary zu benutzen.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich Hito Steyerl intensiv der Dialektik dieser neuen digitalen skopischen Regime gewidmet, die zwar eine Befreiung von den klassischen Formen der Repräsentation bedeuteten und eine andere, wahre Partizipation und Teilhabe versprachen, und doch zugleich neue Formen der Versklavung, der Ausbeutung, der Verdummung und der Abhängigkeiten mit sich führten. Wenn sie in Werken wie How Not to Be Seen: A Fucking Didactic Educational. MOV File von 2013 unsere absolute Sichtbarkeit in einer vernetzten Welt vor Augen führt, wenn sie einen Teil des Deutschen Pavillons in Venedig in eine Factory of the Sun umbaut, in ein riesiges Computerspiel, als dessen Schauplatz ein Motion-Capture-Studio fungiert, ein gewaltiges Aufnahmestudio, das sich am Ende als Gulag erweist und als Metapher dafür dient, dass nicht „du dieses Spiel spielst, sondern dass es dich spielt“9, wenn sie also die unterschiedlichsten Verwerfungen der digitalen Kultur ins Bild setzt, dann tut sie dies nie mit Nostalgie oder fatalistischer Resignation, sondern stets voller Energie, ironisch, spielerisch, tänzerisch, ikonoklastisch – wie dies auch in der Installation Hell Yeah We Fuck Die von 2016 der Fall ist. Genau diese Energie braucht es heute, um sich den Herausforderungen der Artificial Intelligence zu stellen, von der sie nicht müde wird als Artificial Stupidity zu sprechen10, über deren unkontrollierbare Verwendung und militärische Ausrichtung sie sich aber keine Illusionen macht.
Am Ende ihres Texts In Free Fall schreibt Steyerl: „Fallen bedeutet aber nicht nur, ins Ungewisse zu stürzen, es kann auch bedeuten, dass neue Gewissheit entsteht. Wenn wir uns mit einer Zukunft auseinandersetzen, die sich aufzulösen beginnt und die uns in eine quälende Gegenwart zurücktreibt, werden wir möglicherweise erkennen, dass der Ort, auf den wir zustürzen, weder geerdet noch stabil ist. Er verspricht keine Gemeinschaft, sondern eine sich verändernde Formation.“11 Ein dystopisches Ende wie das Ende mancher ihrer Texte, die wie Variationen von Walter Benjamins Lesart des Engels der Geschichte erscheinen. Die Gewissheit, kein sicheres Terrain mehr zu haben, kann zumindest selbst Gewissheit und Trost sein.
Es gehört zur Perfidie unserer Zeit, dass die Kunstszene sich in ihren Kompromissen und Widersprüchen eingerichtet hat oder, wie Steyerls WegbegleiterInnen Julieta Aranda, Brian Kuan Wood und Anton Vidokle in ihrer Einleitung zu ihrem Essayband The Wretched of the Screen schreiben, dass „zeitgenössische Kunst dazu dient, die übriggebliebene ideologische Energie gescheiterter politischer Projekte der Geschichte zu absorbieren“12. Inkommensurabel erscheinen viele Ansätze der zeitgenössischen Kunst, sich kritisch den großen Themen der Zeit zu nähern und sich doch gleichzeitig von neoliberalen Strukturen des Marktes finanzieren zu lassen. Widerstand regt sich bei Steyerl, wenn ihre Werke als Spekulationsobjekte von Sammlern in den Zollfreilagern dieser Welt liegen oder wenn ihre Projekte von Unternehmen gesponsert werden sollen, die sich nebenher in den Kriegen dieser Welt bereichern. Wenn sie plötzlich als „most influential person of the art world 2017“ vom System Kunstmarkt vereinnahmt wird, dessen ausbeuterische Haltung sie doch ablehnt.
Steyerls Werk des Widerstands scheint sich indes noch aus anderen Kraftquellen zu speisen als aus der intellektuellen Analyse des here and now. In der Minute 19 des Films November sagt die Stimme aus dem Off, welche die ihre ist: „In November, we are all part of the story, but not I am telling the story, the story tells me“. In ihrer so klugen wie persönlichen Reflexion über die Instrumentalisierung der reisenden Bilder, über das Scheitern von Idealen und Ideologien, möchte der Film November gewiss nicht zurück zu den revolutionären Utopien, wofür der Oktober in der westlichen Kultur- und Filmgeschichte steht. Und doch, wie es die Stimme aus dem Off sagt, „nicht ich erzähle die Geschichte, sondern sie erzählt mich“.
Es ist dies eine Geschichte des gesellschaftlichen Widerstands, damit nicht nur ihre, sondern die einer ganzen deutschen Generation. Und es sind Steyerls Formen der Selbstreflexion, die sie davor bewahren, einerseits in den Aktivismus oder in eine aktivistische Kunst abzugleiten oder sich andererseits vom System korrumpieren zu lassen. Eine Geschichte, die Steyerl trotz aller Dekonstruktion der Medien immer davon abgehalten hat, einem postmodernen Relativismus zu verfallen, und die sie vielmehr danach suchen lässt, was sie noch immer Wahrheit nennt. Eine Geschichte, die untergründig auch von persönlichem Scheitern erzählt, nie verlogen kitschig, aber doch mit einer durchscheinenden Melancholie, wie dies im Film November der Fall ist. Nicht zuletzt eine Geschichte, der es gelungen ist, aus der deutschen ödipalen Nabelschau heraus einen Weg in die globale und digitale Wirklichkeit und ihre Verwerfungen zu finden. Und genau diese Kombination der beiden Dinge macht das Spezifische des Steyerl'schen Werkes aus: Das Herauswachsen einer Filmemacherin und Autorin aus einer kritischen Haltung gegenüber dem (deutschen) Nationalstaat in eine nicht minder kritische Haltung gegenüber einer alles umspannenden globalen, kapitalistischen Ökonomie einerseits und die gleichzeitige und unablässige Reflexion ihrer Medien andererseits, die mit der Digitalisierung keiner geringeren Mutation unterworfen sind. Begleitet wird dies von ihren unentwegten Grenzgängen zwischen der bildenden Kunst und dem philosophischen Denken, einem fließenden Ineinanderübergehen einer Produktion von Wissen und Kunst, von Bildern und Texten.
Spätestens jetzt aber müsste ein lautes Stop oder KlappeLAPPE aus dem Off erfolgen: Bitte aufhören mit der Historisierung dieser Person und ihrer Haltung, Schluss damit, höchste Zeit, das Making-Of dieser Laudatio einzuleiten. Allerdings wäre dies von meiner Seite auch nur eine peinliche Vereinnahmung Hito Steyerls, es sei denn, etwas Unerwartetes geschähe, ein Außerirdischer oder eine Kreatur der künstlichen Intelligenz beträte die Bühne und würde nun zum dritten Mal die bereits zweimal gehaltene Silvesteransprache Helmut Kohls vortragen. Vielleicht ist es viel klüger und bescheidener, auf das Ende von Die leere Mitte zu verweisen, wenn die Kamera sich einer Öffnung in der Berliner Mauer nähert, als wäre diese Öffnung eine Lochkamera der deutschen Geschichte, und die Off-Stimme die Worte des von ihr überaus geschätzten Kritikers des Films und der Populärkultur, Siegfried Kracauer, zitiert: „Es gibt immer Löcher in der Wand, durch die wir entweichen können und das Unerwartete sich einschleichen kann.“13
Und dann kam doch noch eine künstliche Intelligenz dazu und dieser letzte Absatz wurde von der Markov chain in Auszügen interpretiert. Und das hört sich dann so an:
„Es gibt immer Löcher in der Berliner Mauer, als würde die Bühne nun zum dritten Mal die bereits zweimal gehaltene Silvesteransprache Helmut Kohls vortragen. Vielleicht ist es viel klüger und bescheidener, auf das Ende von Die leere Mitte zu verweisen, wenn die Kamera sich einschleichen kann. Allerdings wäre dies von meiner Öffnung eine Lochkamera der deutschen Geschichte und die Stimme aus dem Off erfolgt: Bitte aufhören mit der Laudatio! Vielleicht ist es viel klüger und bescheidener, wenn die Kamera eine Öffnung in der deutschen Geschichte beträte, wenn die Worte des von ihr überaus geschätzten Außerirdischen oder einer Kreatur der deutschen Geschichte oder einer Kreatur der Historisierung erfolgt.“
Weiter schreibt die Markov chain: „Höchste Zeit, Schluss damit, höchste Zeit, das Making-Of dieser Laudatio einzuleiten. Allerdings wäre dies von meiner Öffnung eine Lochkamera der Populärkultur: Es gibt immer Löcher in der künstlichen Intelligenz und würde nun zum dritten Mal die Stimme aus dem Off erfolgen: Es gibt immer Löcher in der künstlichen Vereinnahmung Hito Steyerls, es sei denn, das Unerwartetete geschähe, ein Außerirdischer oder eine Kreatur der künstlichen Geschichte Hito Steyerls betritt die Bühne, auch nur eine Lochkamera der deutschen Geschichte, und die Stimme aus dem Off erfolgt: Bitte aufhören mit der Historisierung dieser Person und bescheidener auf das Ende von Die leere Mitte zu verweisen, und Siegfried Kracauer kommt jetzt auf die Bühne.“
(1) Siehe Hito Steyerl, Die dokumentarische Unschärferelation. Was ist Dokumentarismus?, in: Hito Steyerl, Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld. Wien/Berlin 2010, S. 7–16. ↩
(2) The Wretched of the Screen. Berlin 2012, S. 31–45. Erstveröffentlicht online als E-Flux Journal #10, November 2009, https://www.e-flux.com/journal/10/61362/in-defense-of-the-poor-image/, zuletzt am 31.12.2018. ↩
(3) Filmkritik, Juni 1981, Nr. 299/300, S. 507–517, zit. nach montage AV, 20.1.2011, S. 153–165, S. 153. ↩
(4) Genauer gesagt verweist Godard auf die faschistische Verwendung dieses Prinzips in Clint Eastwoods damaligen Filmen, zit. nach http://www.strandspuren.de/vertov.html, zuletzt am 31.12.2018. ↩
(5) In Bezug auf Farocki äußerte sich Steyerl in diesem Sinne zuletzt anlässlich eines gemeinsamen Vortrags mit Trevor Paglen am 10.11.2018 im Centre Pompidou, siehe den Vortrag und die öffentlichen Fragen unter https://www.centrepompidou.fr/id/cdA8A5e/roE6bxq/fr, zuletzt am 18.12.2018. ↩
(6) Vgl. Hito Steyerls Nachwort zu Die Farbe der Wahrheit, wie Anm. 1, S. 139–142. ↩
(7) Steyerl 2010, wie Anm. 1, S. 16. ↩
(8) Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden/Basel 1996. ↩
(9) Vgl. David Riff, „This is not a game.“ Ein Gang durch Hito Steyerls Factory of the Sun, in: Florian Ebner (Hg.), Fabrik. Ausst.-Kat., Deutscher Pavillon, La Biennale di Venezia, Venedig 2015, S. 197–199. ↩
(10) Steyerl 2018, wie Anm. 5. ↩
(11) Hito Steyerl, In Free Fall, in: dies., The Wretched of the Screen, wie Anm. 2, S. 12–30, S. 28; Originalzitat siehe S. 31. ↩
(12) Ebd., S. 6. ↩
(13) Auf dieses besondere, optimistische Ende von Empty Centre hat bereits T. J. Demos hingewiesen, vgl. ders., Reisende Bilder, in: Marius Babias (Hg.), Hito Steyerl. Ausst.-Kat, n.b.k. Ausstellungen, Band 5, Köln 2010, S. 17–28. ↩
Tonmitschnitte der Preisverleihung
Jurybegründung (Katharina Grosse)
Laudatio (Florian Ebner)