2017

Katharina Sieverding

Die Fotografin Katharina Sieverding stellt grundsätzliche Fragen zu politischen und gesellschaftlichen Bedingungen von Kunstrezeption und künstlerischen Produktionsprozessen. Mit ungewöhnlichen Bildfindungen in Fotoserien, Groß- und Kleinformaten sowie Plakataktionen im öffentlichen Raum hat sie kontinuierlich seit dem Ende der 1960er Jahre die Ausdrucksformen der Fotografie maßgeblich erweitert. Sieverdings Wahrnehmung von Geschichte und Gegenwart ist Ausgangspunkt für eine visuelle Auseinandersetzung mit Themen wie Film, Medien, Öffentlichkeit, Emanzipation, Identität und Individuum. Mit Käthe Kollwitz verbinden sie die politischen und sozialkritischen Ansätze ihrer Arbeiten.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„[Katharina Sieverdings] kreativer Umgang mit dem Politischen, nicht Zitieren, nicht Benutzen, sondern politisch Schaffen, zeichnet sie als Käthe-Kollwitz-Preisträgerin 2017 besonders aus.“
(Auszug Begründung)

Katharina Sieverding erhält den Käthe-Kollwitz-Preis 2017. Mit dieser Auszeichnung ehrt die Akademie der Künste eine deutsche Künstlerin, die in den 1960er Jahren das Zeitalter der großformatigen Fotokunst einleitete und die Entwicklung der Fotografie international nachhaltig prägte. Ihr Grundthema seit der Zeit als Schülerin von Joseph Beuys an der Kunstakademie Düsseldorf ist die „Identität als Individualität und Dividualität und als kollektives Individuum“ – insbesondere Genderfragen spielten für die Künstlerin dabei eine wesentliche Rolle. Film und Fotografie stehen von Anfang an im Hauptfokus ihres Schaffens: in den Close-ups und En-face-Porträts wie Stauffenbergblock (1969) oder Maton (1969–1972) sowie den Color-Großfotos ab Mitte der 1970er Jahre. Seit 1973 arbeitete sie an dem umfangreichen Transformer-Projekt in monumentalen raumbezogenen Multi-Channel-Projektionen und auch an Fotoserien von mehrfach übereinandergeschichteten, re-fotografierten weiblichen und männlichen Ektachrome-Porträts wie bei Motorkamera (1973/74). Die Bundeskunsthalle in Bonn hat Katharina Sieverding im Frühjahr 2017 eine umfangreiche retrospektive Ausstellung mit dem Titel „Kunst und Kapital. Werke von 1967 bis 2017“ gewidmet, in der sehr deutlich wird, dass sie sich immer von Neuem unermüdlich, unabhängig von allen Zwängen und mit entschlossener Ernsthaftigkeit fragt: Wo stehen wir heute? Ihre Arbeit ist ein Teil der Antwort, die ihre Generation als Teilnehmer des Weltgeschehens gegeben hat, einer Welt, die nicht ihre eigene war. Katharina Sieverding ist Zeitzeugin und wusste stets, dass die Welt nicht so bleiben darf, wie sie ist, damit kulturelles und historisches Gedächtnisses nicht verlorengeht.

Heute konfrontieren uns die Folgen der Finanzkrise und der Anstieg der Migration in die Europäische Union mit Entwicklungen, die viele für Phänomene der Vergangenheit hielten: Nationalistische und antiliberale Parteien erleben einen Zustrom und bedrohen die Demokratie in Europa, die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise, das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber etablierten Medien wächst – geschürt durch einzelne Demagogen – und die Verbreitung einer fremdenfeindlichen Einstellung ist unübersehbar. Die Akademie der Künste, Berlin, und ihre Mitglieder haben den Auftrag, in Zeiten des Populismus, der Regression und der Nostalgie die eigene Position und das Wirken ihrer Institution im Kontext, als Teil der Gegenwart und der Vergangenheit zu verdeutlichen. Was heute Tag für Tag durch den Reißwolf der Aktualität geht, ist die Aktualität der Geschichte. Was nicht heutig ist, ist morgen weg. Auf diesem blütenweißen Malgrund der Amnesie gedeiht die Nostalgie nach einer immerzu gleichen Zeit, einem bildhaften Paradies, das sich weder ändern will noch muss. Die Kunst ist keine Pille gegen diese Nostalgie, das erfuhr schon Käthe Kollwitz als Frau und als Künstlerin in ihrer Zeit. Man könnte deshalb sagen: Das müssen wir heute nicht mehr lernen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Gerade das ist es, was alle Gesellschaftsschichten täglich neu erlernen müssen. Auch die Kunst ist Teil des Spiels, das verloren werden kann. Und, auch Käthe Kollwitz forderte ihre Kollegen und Kolleginnen auf, die Gesellschaft nicht zu vergessen, wenn sie an die künstlerische Produktion gehen. Die Gesellschaft, das ist jede und jeder vor sich selbst. Die Preisträgerin 2017 hat diesen Auftrag angenommen.

Katharina Sieverding stellt seit rund fünfzig Jahren grundsätzliche Fragen zu den künstlerischen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen für Produktionsprozesse und für die Rezeption der Kunst. Sie vereint in ihrem Œuvre Aspekte des Archivierens und des kulturellen Gedächtnisses, Selbstreflexion, das Politische, die Provokation, das Analytische sowie den Einfluss der Massenmedien und neuester Technologien auf das Individuum. Ihr kreativer Umgang mit dem Politischen, nicht Zitieren, nicht Benutzen, sondern politisch Schaffen, zeichnet sie als Käthe-Kollwitz-Preisträgerin 2017 besonders aus.

Der Jury gehörten an: Jochen Gerz, Karin Sander und Klaus Staeck

Laudatio (Transkription des Tonmitschnitts), vorgetragen von Hans-Jürgen Hafner anlässliche der Preisverleihung am 11. Juli 2017:

Guten Abend sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Künstlerinnen und Künstler, Kunstkritikerinnen und Kunstkritiker,
liebe Mitfaktoren im kulturellen Feld,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Akademie,
Mitglieder der Jury,
Pola – stellvertretend für die Familie Sieverding,
und: Hey, Katharina!

Wir befinden uns – man muss kein Thomas Bernhard-Kenner sein –, aber wir befinden uns jetzt im Zustand von Preisritualen natürlich in einem hoch genrefizierten Terrain. Und das hoch genrefizierte Terrain wird natürlich nur umso schwieriger für den Laudator, wenn Finanziers von Käthe-Kollwitz-Preisen so brillant sprechen, wie Sie das eben getan haben, Herr Wuerst.

Ich muss mit zwei schiefen Dreiecken anfangen, die mit populären deutschen Sprichworten zu tun haben, um dieses steinige Terrain Preis ein bisschen abzudecken. Da spielen Worte wie Fleiß und Preis eine Rolle und natürlich Ehre und Feinde.

Man kennt das Problem: Preise per se problematisch zu finden, das ist der Job, der mit der Laudatio zwangsläufig verbunden ist. Ich nutz' das Ding aber für ein paar Aspekte mehr und Sie sehen mir nach, dass ich jetzt noch einen gewaltigen Keil zwischen Sie, die Ausstellung und die Drinks treibe.

Ich muss mit drei Zurückweisungen beginnen und da eignet sich die Camouflage der Laudatio natürlich ganz hervorragend. Für dich, Katharina, sind das alles alte Nachrichten, es ist old news, dass du wiewohl Künstlerin, keine Fotokünstlerin bist. Dass deine Kunst, wiewohl sie sich des Mittels des Fotografischen bedient, entsprechend keine Fotokunst ist. Und, wenn wir bei Zurückweisungen sind, ist Punkt zwei mindestens genauso wichtig: Ich denke, als politische Kunst, möchte ich deine Kunst nicht bezeichnen und insgesamt, jede Kunst, die auf sich hält, würde mit der Zuschreibung politisch zu sein, ihre Schwierigkeiten haben. Aber, das lässt sich problematisieren, das lässt sich diskutieren. Eine dritte Zurückweisung wäre die – das ist sicherlich charmant gemeint gewesen –, aber: Eine Ausnahmefrau mag ich in dir wahrhaft nicht erkennen. Und Ausnahmefrau ist natürlich wiederum als Versuch einer Genrefizierung ein ganz problematisches Ding, umso problematischer, wenn eine aktuelle kunstbetriebliche Konvention das handfeste und selten saubere Wirkliche der Biografie zugunsten des notorisch leider extrem projektionsanfälligen Konzepts der Karriere ersetzt hat.

Preise sind auszuhalten. Es gilt, sie zu erleiden. Den Preis als Ehrenauszeichnung könnte ich von Herzen entsprechend nur meinen besten Feinden an den Hals wünschen. Einen Preis kann jemand, dessen Werk und Leben ich so gut, so spezifisch, so dauerhaft überzeugend und vor allem nach wie vor immer wieder attraktiv finde, wie in deinem Fall, Katharina, unmöglich verdient haben. Und da spreche ich jetzt sozusagen in the audience und im zweiten Teil an dich: Wenn wir uns jetzt dann zu den Drinks und zur sozialen Selbstbestätigung im quasi Feierlichkeitsritual weiterbewegen – gedanklich nehmen wir das Geld und rennen um unser Leben. Mit dem Preis versöhnen dürfte dich und uns, dass er mit der Erinnerung und der damit hoffentlich verbundenen kritischen Anerkennung des Lebens und des Werks von Käthe Kollwitz verbunden ist. Tatsächlich ist das ein Grund, warum ich mich freue, Laudator für diesen Preis zu sein: Es passt. Käthe Kollwitz als Namensgeberin dieses Preises ist sozusagen ein wunderbarer Aufschlag damit er jetzt ausgerechnet auch noch im 150. Geburtstags- und Jubiläumsjahr und sozusagen so taufrisch vier Tage danach an dich heute übergeben wird. Kurioserweise fiel der Geburtstag von Käthe Kollwitz zusammen mit dem, was man Hamburger Chaostage nennt. Das ist zumindest die Formel, die die deutsche Medienlandschaft dafür gefunden hat. Und es ist interessant, inwieweit da legitimer Protest und durchaus krimineller Krawall einander überblenden und wie vor allen Dingen die kriminalisierten Krawalle zur Kriminalisierung des sehr legitimen Protests beitragen. Es ist ein problematisches Spektakel, für dessen Deutung man vielleicht Karl Marx' Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte als Vergleichsmoment heranziehen könnte, um nachzuvollziehen wie leicht das geht, dass die Macht sozusagen den revolutionären Impuls, den legitimen Protest inkorporiert, buchstäblich rekorporiert und zum Machterhalt einsetzt. Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen sicherlich wahlkampfbezogen davon hören. Ich finde auch interessant, was Sie, Frau Meerapfel, angesprochen haben, nämlich, dass es ja tatsächlich, Verhältnisse gibt, die Handlungsweisen auf den Plan rufen, und es ist nur schade, wie sinnfrei das beiderseits sozusagen – auf Seiten der Staatsmacht wie auf Seiten der Protestierenden oder Marodierenden –, wie das zu einer Überblendung von Sinnfreiheiten führt und da hat, wer die lauteste Stimme hat, dann fürchte ich lange Zeit die Deutungsmacht in der Hand. Umso schöner ist, dass in der Ausstellung, die wir demnächst gleich sehen können – ich beeile mich –, dass sie eine Arbeit zeigt, realisiert 1978, Schlachtfeld Deutschland, sicherlich eine der populärsten von Katharina Sieverding, die mir in dem Zusammenhang nach drei Zurückweisungen jetzt Anlass bietet für den Versuch einer positiven Zuschreibung. Ich würde sagen, ein Medium deiner Arbeit und eines ihrer Grundmotive ist Aktualisierung und Aktualität. Aus dem Bauch eines ständig anwachsenden Archivs fotografischer Bilder, Notizen, Erinnerungen, wird über das Vergangene grundsätzlich Zeitlichkeit insgesamt adressiert, wird Bild, wird Kontext verschoben und ins Aktuelle gezogen. 1978 ist ein interessantes Jahr: Es kannte einen schwarzen Freitag, in Teheran bei der Erschießung von Demonstranten – eine wichtige Episode auf dem Weg zu einem Umsturz mit dessen Folgen wir uns quasi auf größerem politischen Level heute noch beschäftigen. 1978 ist, rein zufällig sozusagen, das Todesjahr von Hannah Höch, Fotopionierin, tatsächlich eine Ikone der politischen Zuspitzung der Kombination von Bild und Text. 1978, Schlachtfeld Deutschland, eine dreifache Überlagerung einer GSG 9-Einheit – ähnliches konnte man von Hamburger Medienbildern sehen, ein schwer bewaffnetes Einsatzkommando, ein sich lösender Schuss eines zivilen Fahnders – in deinem Fall vor einem Roth-Händle-farbenen, ja tief rotem und entsprechend Tödlichkeit versprechendem Grund.

Aktualisierung als Medium, Aktualität als Motiv – das spiegeln deine Arbeiten speziell im Plakatformat – und, ich kann es ankündigen, die Ausstellung besteht auf dem Plakat als Darreichungsform von bildlicher Botschaft. Und gleichzeitig ist das Plakat per se in seiner multiplen Einsatzfähigkeit als Gegenstand, der in den sogenannten öffentlichen Raum hinausgeht, diffundiert, der sozusagen einlädt, angeguckt, aber eben auch benutzt zu werden, beschrieben, abgerissen zu werden, das ist hier sozusagen das handwerkliche Setup, auf dem die Ausstellung zum Käthe-Kollwitz-Preis basiert. Ein sehr passendes Format, wie ich finde.

Das bringt mich nämlich dazu, festzuhalten, dass man deiner fotografischen Arbeit viel zu wenig gerecht würde, würde man immer nur die produktionstechnische Seite, das Bilder machen, angucken. Der wichtige Teil und der, wie ich finde, äußerst signifikante Aspekt deines Werks ist, der äußerst freie, konzeptuell präzise und diskursiv offene Gebrauch, der Einsatz des Fotografischen, was eben auch damit zu tun hat, wie du deine künstlerischen Arbeiten formatierst und in unterschiedlichen Kontexten übergibst und zum Diskussionsgegenstand machst.

Es ist ein großes Bilderpanoptikum, das die Ausstellung, die hinter der Tür zu finden ist, entwickelt, mit einem Motivfundus seit 1967. Wir sprechen also von fünf Jahrzehnten künstlerischer Arbeit von Katharina Sieverding. Da musst du jetzt wirklich sozusagen im Wikipedia-Format vorgehen, um sinnvoll kondensiert, eingedampft, für unser Format Sinnvolles zum Besten zu geben. Da mache ich auch gleich noch mal Werbung: Ich hab den Katalogtext geschrieben, 10 Euro kostet der, das Ding ist nicht so schlecht, da kann man vieles davon nachlesen.

Ich will einen Punkt hervorheben: Bilder selber zu machen ist quasi so ein Klischee, das man an künstlerische Produktion gerne so anlegt. Ich finde interessant, dass Bilder machen und Bilder nehmen, Bilder verwenden und gebrauchen von Anfang an ein wichtiger Aspekt deiner künstlerischen Arbeit ist und im Sinne von transatlantischen Verwerfungen – die Kunsthistoriker unter uns, die haben da wiederum flott solche Genrebezeichnungen auf den Lippen, wie Appropriation Art – an der Stelle bist du einfach von unserer guten alten Bundesrepublik Deutschland West aus gesehen unglaublich früh und das ist ein Punkt, den man anschauen sollte, wie man insgesamt gut verfolgen kann, dass Katharinas Werk eines ist, das uns in den aktuellen Zustand der Kunst als Nachpopuläre, wie das Diedrich Diederichsen kürzlich in einem Buch ausführlich dargestellt hat, sozusagen auf den Weg geholfen hat. Ich würde sagen, an dieser Stelle kann man gerne mal das Wort wichtig in den Mund nehmen und, Katharina, dein Werk ist an der Stelle für mich, der ich so in die Achtziger hineingeboren und aufgewachsen bin, mit diesem Look sozusagen aufgewachsen bin, ist es als Flanke so wichtig wie eine Christa Päffgen, oder Nico, die auch 1967 ein ganz entscheidendes Jahr hatte und die auf diesem Weg zu einer Kunst, die postelitär und mittlerweile nachpopulär ist, ein wichtiger Meilenstein ist. Ich will nicht ewig hier weitermachen, wie gesagt, eine Ausstellung kommt noch, warm ist es auch und trinken muss jeder. Deswegen, an der Stelle ein Shortcut: Es könnten die noch Seiten 7 bis 11 kommen, aber machen wir es so: Du hast den Preis nicht verdient, aber von Herzen gönne ich es dir, dass du ihn erleidest.

Tonmitschnitte der Preisverleihung

Jurybegründung (Jochen Gerz)

Laudatio (Hans-Jürgen Hafner)