2016
Edmund Kuppel
Textbeiträge zur Preisverleihung
„Das Werk von Edmund Kuppel ist eine Demonstration zur Relativität der Wahrnehmung. Es kommt auf den physischen Standort des Fotografen an; es kommt immer darauf an, wo man steht.“
(Auszug Begründung)
Gehen wir an den Anfang. 1972 schrieb Edmund Kuppel über seine Serie von fotografischen und filmischen Arbeiten Demonstration zur Relativität der Wahrnehmung von Bewegung: „Sich an der Erde festschnallen und sie bewegen. Die Erde nach unten drücken. Die Erde hochstemmen. Die Erde nach links oder rechts schieben. Einen Berg 20 Meter weiter ziehen. Eine Bewegung ist als solche nur im Rahmen ihres Bezugssystems wahrnehmbar. Mein Bezugssystem ist der Fotoapparat und die Filmkamera.“
Kuppel ist ein kritisch fragender Pionier auf dem mittlerweile ins Uferlose expandierenden Gelände der fotografischen Praxis. Er hat schon sehr früh mit seinen Arbeiten die Kulturtechnik der Fotografie und der Licht-Bild produzierenden Maschinen hinterfragt und dabei einen enormen künstlerischen Beitrag geleistet.
Seine Pionierleistung ist umso erstaunlicher, weil er konsequent in seiner medialen Auseinandersetzung immer auf die fundamentalen Möglichkeiten der Wahrnehmung verweist, aber auch auf die gleichzeitige Täuschung des Sehens. Dieses Moment in der visuellen Wahrnehmung zwischen Täuschung und Ent-täuschung spiegelt sich für ihn in der Möglichkeit, wie wir in der Flut der fotografischen Bilder mittels dieser Bild produzierenden Apparate die Welt wahrnehmen. Der Expansion fotografischer Bilder setzt Kuppel in seinen Fotoserien, Filmen, Apparaturen und den komplexen Rauminstallationen einen nüchtern konzentrierten und poetischen Blick auf die Kondition des Sehens entgegen. Dabei sind es Bildverrückungen und Spiegelungen, die er immer wieder einsetzt und dabei die entscheidende Frage nach dem Bildausschnitt stellt. Oder besser gesagt, die Frage danach, was aus dem fotografischen Bild fällt. Diese Untersuchungen finden sich sowohl im Urbanen, wie zum Beispiel in seiner fotografischen Topografie über Pariser Plätze oder den verwirrenden Pariser Bistrot-Landschaften, aber auch immer wieder in den weiten Räumen unberührter Landschaften.
Und noch etwas ist bemerkenswert. Trotz seiner fundamentalen Analyse ist Kuppel in seinem Werk kein kühler Theoretiker im medialen Diskurs. Er verwandelt in seinem künstlerischen Denken seine Überlegungen in feine skulpturale Gebilde, er verwandelt das Material in einfachster, das heißt abstrakter Form in apparative Konstruktionen des Staunens über die Wirklichkeit. Und er fragt dabei zugleich nach der Wahrnehmungsfähigkeit der Betrachter selbst.
Das Werk von Edmund Kuppel ist eine Demonstration zur Relativität der Wahrnehmung. Es kommt auf den physischen Standort des Fotografen an; es kommt immer darauf an, wo man steht.
Der Jury gehörten an: Bogomir Ecker, Raimund Kummer und Hermann Pitz
Laudatio, vorgetragen von Peter Weibel anlässlich der Preisverleihung am 2. September 2016:
Verehrte Damen und Herren,
ich gratuliere Edmund Kuppel zum Käthe-Kollwitz-Preis 2016, aber ich gratuliere vor allem der Jury. Denn wie wir alle wissen, sind Urteile, vor allem Jury-Urteile, meistens Vor- oder Fehlurteile. Das heutige Urteil aber ist gültig, legal. Legatum, ligatum, lectum kommt vom Lateinischen legere, was so viel heißt wie sammeln. Wir haben uns also versammelt, weil jemand rechtens eine Auszeichnung verdient, weil legere auch echt, recht, ehrlich, rechtlich, gesetzlich bedeutet. Durch eine Versammlung ist gewissermaßen ein Rechtsbestand geschaffen worden, um jemanden zu ehren, dem es rechtens und ehrlich zusteht, buchstäblich zusteht. Denn legere heißt nicht nur sich versammeln und recht, sondern legere heißt auch aufrecht. Deswegen stehen bei Gericht die Menschen im Saale auf, stehen aufrecht vor dem Richter, wenn ein gerechter Urteilsspruch gesprochen wird. Dieses Ritual wurde von der Show-Branche imitiert: Wenn eine Jury einen gerechtfertigten Preis verleiht, dann verwechselt das Publikum den Gerichtssaal mit der Bühne und macht Standing Ovations.
Wie Sie wissen, kommt das Wort Urteil von teilen und trennen. Das Urteil war einmal der richterliche Spruch, der Recht von Unrecht trennt. Deswegen sprechen wir auch von Schiedsgericht, denn dieses Gericht soll rechtens zwischen Recht und Unrecht unterscheiden. Heute können wir sagen, dass tatsächlich Recht gesprochen wurde, dass dieser Preis zu Recht der anwesenden Person zugesprochen wurde und der Richterspruch der Jury ein gerechtes Urteil ist, eine Mitteilung, die wir alle hier im Saal Versammelten tatsächlich teilen. Oder teilt jemand dieses Urteil nicht?
Warum ist diese Auszeichnung rechtens und gerechtfertigt? Sie werden mir erlauben, dass ich nicht weiter das Juryurteil juristisch begründe, sondern medientheoretisch – also mit den Mitteln der Kunsttheorie das Werk eines Künstlers, der mit Medien arbeitet, legitimiere und somit eine weitere Auslegung von legere betreibe.
Edmund Kuppel ist ein Medienkünstler, der mit Fotografie anfing und bereits in diesem Medium die für ihn typische Cartesianische Methode des Zweifels anwandte. An der Fotografie wurde bekanntlich die unnachahmliche Treue der Wiedergabe der Wirklichkeit gelobt und gerühmt. Mit dieser Definition stand die Fotografie in der mimetischen Tradition der Bildkunst. Das Beispiel von Zeuxis und Parrhasios, dem Wettstreit der beiden Maler um die perfekte Mimesis, belegt, dass das klassische Programm der Kunst seit der Antike in der perfekten Darstellung von Realität mit den malerischen Darstellungsmitteln wie Punkt, Linie, Fläche, Farbe usw. – so die Formulierung von Leonardo da Vinci – bestand. Am Anfang stand also die Fotografie im Banne der Malerei. Im Wettbewerb mit der Malerei und in der Repräsentation der Realität war sie sogar der Malerei überlegen. Dies war einer der Gründe, warum sich die Malerei vom klassischen Programm abgewandt und das Band zur Realität zerschnitten hat.
Die Malerei ist zur reinen Selbstdarstellung der Darstellungsmittel Linie, Punkt, Fläche, Farbe übergegangen. Denken Sie an den Titel eines Buches von Wassily Kandinsky Punkt und Linie zu Fläche von 1926. Diese Limitation, diese Selbstbeschränkung der Malerei auf ihre Darstellungsmittel alleine, nennen wir Abstrakte Kunst.
Bis zum Auftauchen der Fotografie hatten die Maler ein Monopol zur Bilderzeugung. Nur wenige konnten ein Bild malen und nur wenige konnten ein Bild bezahlen. Durch die Fotografie entstand eine Art visuelle Epidemie, eine Bilderflut. Viele Menschen konnten zum ersten Mal Bilder von sich selbst mit Hilfe einer Maschine machen. Deswegen kam es zu einem Wettstreit zwischen der Malerei und der Fotografie als Bildmedium. Denken wir an die Maler Richter, Warhol, Kiefer u.a., die nach Bildvorlagen malen oder Siebdrucke unter Verwendung von Bildern aus den Massenmedien herstellen, so sind wir versucht zu sagen, dass die Malerei der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Paradigma der Fotografie stand. Dennoch blieb die Fotografie eine „illigitime Kunst“ – wie der Titel eines Buches von Pierre Bourdieu lautete.1 Und noch hundert Jahre nach Erfindung der Fotografie hat einer der größten Fotografen des 20. Jahrhunderts, Man Ray, frustriert und trotzig 1937 eine Edition seiner besten fotografischen Bildnisse den Titel gegeben La photographie n’est pas l’art.
Da die meisten modernen Kuratoren, Künstler, Kunstkritiker ihren Bildbegriff an der Malerei ausgebildet haben, einem mehr oder weniger handgemalten Bild, haben sie für Fotografie speziell und für Medienkunst allgemein, für mit Apparaten gemachte Bilder, wenig Verständnis.
Edmund Kuppel hat von Anfang an ganz im Gegenteil zur vorherrschenden Doxa die Treue der Wiedergabe der Fotografie in Frage gestellt. Seine fotografischen Werke zeigen, dass die Fotografie in Wahrheit und Wirklichkeit die Abbildungsbeziehung, d. h. die Relation von Repräsentation und Realität, in Frage stellt und damit sogar den klassischen Bildbegriff selbst in Frage stellt. Kuppel untersucht als moderner Künstler die Darstellungsmittel und -weise der Fotografie.
Kuppel stellt die Frage, was ist wahr beim Akt der Wahrnehmung der Wirklichkeit und was ist Wahn und Illusion? Edmund Kuppel zeigt durch Spiegelungen fast immer den Abbildungsapparat selbst. Er zeigt uns die apparativen Bedingungen der Wiedergabe der Wirklichkeit – nämlich als Eingriff in die Wirklichkeit. Seine fotografischen Werke stellen unaufhörlich die Frage: Was ist wirklich wahr und was kann man Wahres über die Wirklichkeit aussagen? Wie konstruieren wir die Wirklichkeit als Wahrheit und wie die Illusion der Wahrheit? Durch die Selbsteinbeziehung der Apparatur, d. h. durch die Selbstdarstellung der Darstellungsmittel, zeigt er uns die Wahrheit als Illusion und Fiktion. Die Beobachtung der Apparatur wie die Beobachtung des beobachtenden Subjekts sind Teil der Realität, die wir beobachten. Dieser Beobachterstandpunkt relativiert das Wahrgenommene und damit die Wirklichkeit. Kuppel stellt also mit seiner Fotografie nicht nur die Wiedergabe der Wirklichkeit in Frage, sondern vor allem die Wahrnehmung der Wirklichkeit schlechthin und somit schließlich die Wirklichkeit selbst. Kuppel betreibt Medienkritik als Wahrnehmungs- und Wirklichkeitskritik.
Damit Sie Edmund Kuppels Leistung besser verstehen und auch die Widerstände gegen sein Werk, die bewirkten, dass seine kompromisslose Forschung vom Marktsystem des Kunstbetriebes marginalisiert wurde, erlauben Sie mir, dass ich historisch etwas zurückgreife und aushole.
Die Beziehung von Realität und Repräsentation ist bekanntlich ein klassisches philosophisches Problem, das im Mittelalter mit der Gleichung adaequatio rei et intellectus (Übereinstimmung der Sache mit dem Gegenstand) zusammengefasst wurde. Diese Formulierung begleicht eine alte offene Rechnung der Philosophie, nämlich: Wie kann zwischen Ontologie und Epistemologie eine tragfähige Brücke gebaut werden? Ontologie ist die Lehre von dem, was da ist. Epistemologie ist die Lehre, von dem, was wir wissen über das, was da ist. Die Adaequatio behauptet also eine Gleichung und sogar Gleichheit von Sein und Wissen, von Gegenständen und Gedanken, von Welt und Geist. Eine sprachbasierte Philosophie gibt seit Jahrtausenden mehr oder minder die gleiche Antwort. Seit Parmenides, der etwas verkürzt sagte, Denken und Sein sind eins, bzw. Sprache und Sein sind eins, gilt, dass die Sprache zwischen Gedanken und Gegenständen vermittelt. Deswegen schrieb noch 1921 Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus Logico-Philosophicus „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit“ und noch in den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts tragen Bücher der berühmten Philosophen die Titel Les mots et les choses (Foucault, 1966), Words and Objects (Quine, 1960). Die Aussage von Wittgenstein ist insofern interessant, als bei Foucault und Quine die Beziehung zwischen Geist und Gegenstandswelt eine binäre ist, hingegen bei Wittgenstein eine tertiäre Beziehung vorliegt. Der Satz ist eine Abbildung der Wirklichkeit. Er schiebt also zwischen Gedanken und Gegenständen Sätze und Bilder, also Vermittlungsmedien. Diese tertiäre Beziehung wird in der kritischen Fotografie Kuppels und anderer zu einer tertiären Beziehung zwischen Bild und Wirklichkeit, nämlich durch den Apparat. Kuppel zeigt uns in seinen Fotografien, den Bildern der Wirklichkeit, den Fotoapparat, mit dem diese Bilder hergestellt wurden, immer wie gespiegelt. Er zeigt uns also, dass zwischen Gedanken und Gegenständen Geräte vermitteln, genauer gesagt, dass zwischen Bildern und Gegenständen Geräte vermitteln.
Die sprachbasierte Philosophie, die mit Descartes zwischen res extensa (Volumina, Gegenstände) und res cogitans (Geist, Intellekt, Vernunft) eine Gleichung herstellen möchte, geht zurück auf die griechische Hierarchie der Wissenssysteme, welche die Grundlage für die Wissensbäume lieferte, die uns seit Jahrhunderten begleiten und beherrschen. Die Griechen unterschieden zwischen zwei Wissenssystemen: episteme und technē. Unter episteme verstanden sie die höheren, sprachbasierten Erkenntnisformen (Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie). Unter technē verstanden sie die niederen handwerklichen Fertigkeiten und Kenntnisse wie Agrikultur, Architektur, Malerei und Bildhauerei. Die episteme waren für die freien Bürger Athens bestimmt und die technē für die Sklaven, banausos und idiotae. Die Römer haben diese beiden Wissenssysteme übernommen, ihnen jedoch zwei neue Namen gegeben. Die episteme wurden zu den Artes liberales. Damit verstanden sie jedoch nicht das, was wir heute unter den Künsten verstehen, sondern die antiken Wissenschaften Rhetorik, Grammatik, Logik, Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie. Und sie nannten diese Artes liberales in Erinnerung daran, dass diese Disziplinen für freie Bürger waren. Dahinter stand also nicht die Idee, dass die Künste frei waren, sondern dass die Bürger frei waren. Die Idee der individuellen Freiheit der Kunst tauchte erst im 19. Jahrhundert auf, als ein freier Markt die Auftragskunst ablöste. Die antiken handwerklichen Künste, die technē der Griechen, nannten die Römer Artes mechanicae (die mechanischen Künste). Um 1500 entstand aus diesem Konflikt zwischen höheren und niederen Wissensformen der Wettbewerb der Künste, nämlich der Paragone. Leonardo da Vinci schrieb um 1490 ein mehrere hundert Seiten umfassendes Manifest mit dem Titel Trattato della Pittura (Abhandlung über die Malerei), um die Malerei aus den Klauen der Artes mechanicae zu befreien. Er wusste, er konnte nicht die Gesamtheit der Künste (Poesie/Dichtung, Malerei, Musik, Skulptur, Architektur) im Fahrstuhl der Hierarchie nach oben verfrachten. Er wusste, ein Platz an der Sonne ist höchstens für eine künstlerische Praxis möglich. So entschloss er sich, die Vorzüge der Malerei und die Nachteile der Musik, Poesie und Bildhauerei hervorzukehren. Er versuchte also nachzuweisen, wieso und wie sich die Malerei von den handwerklichen Künsten unterscheidet. Dabei beantwortete er die Frage, was Malerei sei, mit der Aussage: „Scienza è detto quel discorso mentale“2 Entsprechend beginnt sein Traktat mit der Kapitelüberschrift „Die Malerei ist eine Wissenschaft“ (Se la pittura è scienza o no).3
Die Hierarchie der Wissenssysteme allgemein wurde auf die Hierarchie der Kunstsysteme speziell übertragen. Dieses hierarchische Denken hat bis in das 20. Jahrhundert dominiert und hat zur Abwertung der Fotografie und aller Medienkünste als rein handwerkliche, mechanische Tätigkeit im Gegensatz zur spirituellen Tätigkeit der Malerei geführt – denken Sie an das Buch des Malers Kandinsky von 1912 mit dem Titel Über das Geistige in der Kunst. Als ich um 1990 herum dankenswerterweise von Kasper König, dem damaligen Rektor der Städelschule Frankfurt am Main, eingeladen wurde, ein Institut für Neue Medien zu gründen, haben mich die amtierenden Malerfürsten der Städelschule, deren Namen ich aus Mitleid für ihre Unbildung verschweige, daher mit dem typischen Schlachtruf empfangen: „Sie bringen also das mechanische Denken in die Schule!“.
Die Fotografie hatte auch ausgerechnet in Düsseldorf, dem Ort der berühmten Düsseldorfer Schule der Fotografie, an der Düsseldorfer Akademie unter der Leitung des Malers Markus Lüpertz keinen Platz. Sie sehen, so weit reicht der Arm der klassischen Hierarchie der Wissenssysteme und die Abwertung aller Medienkünste – angefangen mit der Fotografie.
Die Herrschaften haben natürlich nicht gewusst, bzw. zur Kenntnis genommen, dass bereits die Enzyklopädisten von Denis Diderot bis Voltaire, diese Morgenröte der Französischen Revolution, die Klassenhierarchie der Künste in ihren vielen voluminösen Bänden aufgehoben haben und gerade den mechanischen Künsten das Primat erteilten. Sie votierten explizit für die Aufhebung der Klassenhierarchie der Künste mit dem Argument, dass diese unteilbar verbunden sei mit der Aufhebung der sozialen Klassenhierarchie. Erst heute, nachdem zwei Generationen von Medienkünstlern ihr Talent, ihr Blut und ihr Leben zur Rechtfertigung der Medienkunst eingesetzt haben, ist es annähernd soweit, dass die Medienkünste gleichrangig und gleichwertig behandelt werden wie die klassischen Künste der Malerei und Bildhauerei – allerdings bei weitem noch nicht auf dem Kunstmarkt.
Aber in die Niederungen des Kunstmarktes, wo die Kunst zur Magd des Marktes und die Museen zu den Komplizen des Marktes werden, wollen wir uns nicht begeben. Wir kehren lieber zurück zur mittelalterlichen Gleichung zwischen Gedanken und Gegenständen, Denken und Sein.
Eine sprachbasierte Philosophie hat also alle sprachbasierten Systeme als die eigentlichen Wissens- und Erkenntnissysteme behauptet, also die episteme. Die technē, die Geräte, leisten dies für die sprachbasierte Philosophie offensichtlich nicht. Deswegen schreibt Wittgenstein in seinem TLP „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“. Es ist ausgerechnet dem Ontologen Heidegger zugute zu schreiben, dass er in seinem lebenslangen Kampf gegen die antike Metaphysik diese Philosophie in Frage gestellt hat und das Gestell, also die Geräte und die Technik, in seine Überlegungen mit einbezogen hat. Bereits mit Heidegger könnten wir sagen: Nicht die Grenzen meiner Sprache, sondern die Grenzen meiner Werkzeuge, sind die Grenzen meiner Welt.
Die Revolutionen der neuzeitlichen Wissenschaft, von Galileos Teleskop bis zum Rastertunnelmikroskop von Binnig und Rohrer, von Leeuwenhoeks Mikroskop bis zum Large Hadron Collider in Genf, verdanken ihre Erkenntnisse, ihre Horizonterweiterung Geräten. Mithilfe von Geräten werden Beobachtungen und Experimente möglich, die empirische Nachweise für die Richtigkeit von Theorien erbringen. Mithilfe von Theorien und Geräten werden neue Gegenstandswelten entdeckt: Gestirne und Atome, Mikroben und Viren, Quanten und Elektronen. Mithilfe von Geräten, Theorien und Apparaten entdecken wir Milliarden von Galaxien und einen ungeheuren Teilchen-Zoo. Die Werkzeuge sind es also, die unseren Horizont, unsere Gegenstandswelt, die Ontologie operativ erweitern. Sie erzeugen etwas, das vorher nicht da war oder von dem wir nichts wussten. Zwischen Gedanken und Gegenständen haben also nicht nur Worte neue Beziehungen hergestellt, sondern Geräte, Apparate, Maschinen, Medien stellen eine neue Verbindung, eine neue Beziehung, eine neue Gleichung zwischen Gedanken- und Gegenstandswelt her. Seit den Revolutionen der neuzeitlichen Wissenschaft liefert vor allem die technē und nicht die episteme die neuen Erkenntnisse und Veränderungen der Welt. Wir befinden uns also an der Schwelle einer noetischen Wende, von einer sprachbasierten zu einer werkzeugbasierten Kultur. Medienkünstler wie Edmund Kuppel sind Teil dieser Wende, indem sie diese vollziehen und indem sie uns gleichzeitig die Prinzipien dieser Wende vorführen, nämlich wie die Geräte in die Konstruktion der Welt und deren Abbildung eingreifen. Das technische Bild, die apparativen Mediensysteme sind Teil dieser noetischen Revolution, welche die Sprache als Primat der Adaequatio nicht ablösen, aber die Werkzeuge mit der Sprache gleichstellen. Das apparative Bild ist das Tertium Comparationis von Repräsentation und Realität. Kuppel zeigt uns die technischen Bedingungen der adaequatio rei et intellectu. Er zeigt uns, dass diese apparativen Bedingungen variable Größen sind, keine festen Bindungen. Wie Quine den Gültigkeitsbereich der Ontologie eingeschränkt hat mit dem Diktum „to be is to be the value of a variable“, so zeigt uns Kuppel in seinem langjährigen Forschungsprogramm, dass die Beziehung zwischen Repräsentation und Realität nur unter besonderen Bedingungen eine Gleichung der Gleichheit erlaubt, eine identitäre bzw. isomorphe Beziehung. In den meisten Fällen ist die Beziehung zwischen Repräsentation und Realität eine skalierbare variable Größe, abhängig vom Beobachterstandpunkt. Er zeigt uns also die Repräsentation von Realität abhängig vom Beobachterstandpunkt. Seine Kunst zeigt uns die beobachterrelative bzw. die geräterelative Darstellung der Wirklichkeit. Realität ist beobachterrelativ.
Seine medialen Forschungen in den Bereichen Foto, Film, Video sind auch kunstintrinsisch gesteuert. Er folgt den Spuren wie sie Op-Art und Kinetik Ende der 1950er und Anfang der 1960er gelegt und vorgelegt haben. Die berühmte Pariser Gruppe GRAV war ein Akronym für Groupe de Recherche d'Art Visuel. Die visuelle Kunst war also ein Forschungsprogramm. Die Künstler der Internationalen Nouvelle Tendance haben in den 1960er Jahren das Wort Kunst gestrichen und sprachen nunmehr von visueller Forschung. Genau in dieser Tradition steht Kuppel, der die visuelle Forschung der Maler in die Medienkunst Fotografie, Film, Video transferiert hat. Dabei steht der nachrichtentechnische Begriff der Störung oder des Rauschens im Mittelpunkt. Er zeigt uns nämlich, dass die unnachahmliche Treue der Wiedergabe der Wirklichkeit eine naive Idee war, die das Wesen der Medien verkennt. Die Repräsentation von Realität mithilfe von Werkzeugen, Geräten und Maschinen zeigt einen Konflikt zwischen Abbild und Wirklichkeit, einen Graben zwischen Repräsentation und Realität, der zu einer Kluft wird, die fast unüberwindlich wird. Sein letzter Film (zum Thema Sisyphos), der wiederholte Anstieg über Treppen zu einem Gipfel hinauf, wo ein Fels thront und herunterfällt, ist genau die Metapher des modernen Menschen, der immer wieder versucht, die Kluft zwischen Realität und Repräsentation zu überwinden und immer wieder scheitert. Der moderne Sisyphos ist ein Medienkünstler, der uns die Differenz von Repräsentation und Realität zeigt. Durch die Arbeit von Kuppel erkennen wir nicht nur die apparative Beobachterrelativität der Realität, dass also das künstliche Organ Kameraauge die Wirklichkeit verstellt und herstellt, sondern dass auch bereits das natürliche Auge nur ein Organ, ein Werkzeug ist, das die Wahrnehmung der Gegenstandswelt, also die retinale Repräsentation der Realität, ebenso verstellt und herstellt wie die technische, künstliche Kamera. Dieser Befund der Differenz von Repräsentation und Realität hat bekanntlich bei Jorge Luis Borges und Jean Baudrillard eine überzeugende Metapher gefunden.4 Beide haben Repräsentation und Realität mit der Beziehung von Landkarte und Land verglichen und gezeigt, dass die Landkarte das Land nicht abbildet, sondern die Landkarte, also die Medien, die Wirklichkeit, das Land, konstruieren. In deren Zeitgenossenschaft zeigt uns Kuppel, wie die Konstruktion der Realität durch die Medien fälschlich als Repräsentation der Realität verstanden wird. Es gelingt ihm dabei etwas wirklich Außergewöhnliches, nämlich die Umdrehung der Klassenhierarchie der Erkenntnissysteme. In seiner Kritik der Repräsentation macht er aus der technē, dem Handwerk, ein Erkenntnisinstrument, wie es bisher der episteme vorbehalten war. Er beweist und belegt, dass technische Systeme die wahren epistemischen Systeme von heute sind. Wie alle großen Medienkünstler zeigt er: Medien sind epische Systeme. Wir sollten also nicht mehr von Bildmedien sprechen, wie es die klassischen Kunsthistoriker tun, die damit die Medien verbannen bzw. unter den Bann der Malerei stellen. Wir sollten vielmehr von epistemischen Medien sprechen.
Deswegen möchte ich der Akademie der Künste und der Jury danken, dass sie Edmund Kuppel den Käthe-Kollwitz-Preis 2016 verleihen, den ich selbst 2004 erhalten habe. Käthe Kollwitz hat der Kunst die Aufgabe zugewiesen, die sozialen Bedingungen aufzuzeigen. Kuppel zeigt in der Kunst die technischen Bedingungen auf. Kollwitz und Kuppel leisten dies beide im Dienste der Aufklärung. Das Werk von Edmund Kuppel wurde im Verborgenen entwickelt. Wenn es legitim ist, von defekten Demokratien5 zu sprechen, darf man auch von defekten Kunstsystemen sprechen, deren Defekt darin besteht, dass der Markt klarerweise sich nicht im Dienste der Aufklärung sieht und daher Künstler, die analytisch bis kritisch vorgehen, vom Kunstsystem marginalisiert werden. Aber der Käthe-Kollwitz-Preis ist sich dessen bewusst und gerade deswegen besteht der Sinn des Käthe-Kollwitz-Preises darin, vergessene, verborgene Künstler ans Licht zu holen. Ich zitiere: „Die Auszeichnung richtet sich sowohl an Künstler, die sich in der kunstinteressierten Öffentlichkeit national und international einen Namen gemacht hatten, als auch an Künstler, die fernab der Kunstszene und des Kunstmarktes in der Zurückgezogenheit arbeiteten und wirkten.“6
Vor allem danke ich der Jury, die interessanterweise aus Bildhauern und Objektkünstlern bestand. Ich behaupte: Eine Jury aus Medienkünstlern hätte Edmund Kuppel keinen Preis gegeben, weil die meisten Medienkünstler selbst einem Bildbegriff anhängen, der malerei- orientiert ist, oder der Hollywoodisierung eines narrativen Bildbegriffs folgen. Gegenwärtige Medienkünstler hätten wie die meisten Museumsdirektoren den Wert und das Wesen der medienkünstlerischen Arbeit von Edmund Kuppel gar nicht erkannt, denn sie hätten über kein begriffliches Instrumentarium verfügt, um dieses zu verstehen. Raumkünstlern fällt es offensichtlich leichter zu erkennen, dass Kuppel mit seinen Medienarbeiten Raum- und Zeitmaschinen herstellt, welche die Erfahrung von Raum und Zeit neu definieren, nämlich apparativ relativieren. Sein Werk führt also Elemente und Impulse der Op-Art und Kinetik weiter ins Zeitalter der Medien. Von den virtuellen Volumen, von denen bereits Moholy-Nagy in den 1920er Jahren sprach, bis zur virtuellen Realität von heute, entstand ein neuer Raumbegriff, für den die Raumkünstler sensibler sind als die Bildkünstler. Daher haben sie die spezifischen Qualitäten von Edmund Kuppels Kunst, seine Pionierleistung für den Skulpturbegriff leichter erkannt. Raumkünstler wissen, dass der Skulpturbegriff heute einen Wahrnehmungsakt erfordert, der Raum und Zeit herstellt. Die Skulptur wird also zu einer Handlungsform. Der moderne Raumkünstler weiß, dass die zeitgenössische Raumerfahrung nicht mehr auf natürlichen Organismen basiert, sondern vom Flugzeug bis zum Auto maschinenbasiert ist. Die Wahrnehmung des Raumes und seiner Gegenstände hat sich also körperlich und wahrnehmungsmäßig verändert. Die performative Wende gilt also auch für die Skulptur. Diese Jury kann also in ihrer Qualität nur mit dem System des Peer-Reviewing in den Wissenschaften verglichen werden. Nur Kollegen haben offenbar die Kompetenz, die Leistung anderer Künstler zu erkennen. Daher nochmal ein Lob den Kollegen nos semblables, – nos frères (frei nach Baudelaire). Sie haben erkannt, dass Kuppel nicht ein leichter Hügel in der Medienlandschaft und kein kleiner Berg, sondern ein Massiv der Medienkunst ist.
(1) Pierre Bourdieu, Luc Boltanski, Robert Castel, et al., Eine illigitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt 1981. ↩
(2) Leonardo, Trattato della pittura. Introduzione e apparati a cura di Ettore Camesasca. Mailand 1995, S. 1. ↩
(3) Ebd. ↩
(4) In La précession des simulacres (Erstveröffentlichung in: Traverses, Nr. 10, Paris 1978) nimmt Jean Baudrillard Bezug auf die Kurzgeschichte von Jorge Louis Borges Von der Strenge der Wissenschaft (1960) – die Geschichte über die Landkarte und das Land –, um seine These zu belegen, dass die Simulation die Realität präzediert. ↩
(5) Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle, et al. (Hg.), Defekte Demokratie, Band 1: Theorien und Probleme. Wiesbaden 2003; Dies. (Hg.), Defekte Demokratie, Band 2: Regionalanalysen. Wiesbaden 2006. Siehe auch: Wolfgang Merkel, Eingebettete und defekte Demokratien, in: Zeitgenössische Demokratietheorie. Band 2: Empirische Demokratietheorien, hrsg. von Oliver W. Lembcke, Claudia Ritzi u. Gary S. Schaal. Wiesbaden 2016, S. 455–492. ↩
(6) Akademie der Künste (Hg.), Edmund Kuppel. Käthe-Kollwitz-Preis. Berlin, Akademie der Künste 2016, S. 10. ↩
Tonmitschnitte der Preisverleihung
Jurybegründung (Raimund Kummer)
Laudatio (Peter Weibel)
Danksagung (Edmund Kuppel)