1986

Gerhard Goßmann

Der Nachlass des Illustrators, Zeichners und Grafikers befindet sich größtenteils im Gerhard Goßmann Archiv in seiner Heimatstadt Fürstenwalde. Ausstellungen zu seinen Buchillustrationen, Spielkarten und Reisebildern aus Korea, Albanien und Ägypten machen sein Werk dort öffentlich zugänglich. Zu Goßmanns Arbeiten zählen über 270  Buchtitelillustrationen für Kinder und Erwachsene, wie Margaret Mitchells Vom Winde verweht, Charles Dickens David Copperfield und weiteren Büchern u.a. von Hans Christian Andersen, Miguel de Cervantes, Nikolai Gogol, Wilhelm Hauff, Heinrich von Kleist, Theodor Storm oder Leo Tolstoi. Für die Covergestaltung wählt der Künstler häufig weite Landschaftsansichten, die er über Vorder- und Rückseite laufen lässt.

„Meine Gedanken und Empfindungen sind durch die Kunst der Käthe Kollwitz stark bestimmt worden. 1923 habe ich die ersten Zeichnungen und Radierungen von ihr gesehen. Ich habe sie verstanden und nie vergessen.“

Gerhard Goßmann, o.J.

Textbeiträge zur Preisverleihung

„Es schnaubt und gurgelt gepeitscht von glänzenden Flossen das kabbelige Meer – was da schnaubt und gurgelt und kabbelt ist Goßmanns Vorstellungskraft und Phantasie selbst.“ (Auszug Laudatio)

Gerhard Goßmann ist einer der Maler und Grafiker der älteren Generation, die ihre künstlerische Ausbildung bereits Mitte der dreißiger Jahre abgeschlossen hatte. Für die Illustrationskunst unserer Republik wirkte er wegbereitend und stilbildend.

Seit früher Jugend war er mit den Kämpfen der Arbeiterklasse verbunden, entstanden viele Zeichnungen und Gemälde von Demonstrationen und Straßenkämpfen der revolutionären Arbeiterbewegung. Otto Nagel sah 1929 Arbeiten von ihm und schickte sie zur ersten Internationalen Sozialistischen Kunstausstellung. Als jüngstes Mitglied der Berliner ASSO gehörte Goßmann zu den Mitgestaltern der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), wie Dix, Grosz, Heartfield, Kollwitz, Nagel, Sandberg und viele andere. Seine Themen waren vor allem die Aktionen der Massen, wie im Kieler Matrosenaufstand, in der Erstürmung des Berliner Schlosses oder im Demonstrationszug durch den Wedding. Faschismus in Deutschland und Kriegszeit boten ihm keine Möglichkeit öffentlichen Wirkens. Die humanistische und parteiliche Haltung, die auch in seinen Skizzen aus dem 2. Weltkrieg nicht zu übersehen ist, veranlassten Gerhard Goßmann, seine Solidarität mit den Unterdrückten und den Kämpfenden gegen die imperialistische Bedrohung der Menschheit immer aufs neue zu bekunden: Gefahr für den Frieden (1970/71), Angela Davis (1971) oder der Zyklus zur Geschichte der Arbeiterbewegung (1974–77) sind Zeugnisse dafür.

Gemälde, Zeichnungen und grafische Zyklen nach seinen vielen Reisen in sozialistische Länder beweisen, wie einfühlsam Goßmann die Menschen, ihre Kulturen und die Eigenart der Landschaft zu erfassen vermag. Durch intensive geschichtliche, ethnografische und naturkundliche Studien bereichert er ständig seine Wirklichkeitserfahrungen, so dass seine Phantasie auf einem Fundament reichen Wissens basiert. Die bildkünstlerische Rezeption der Kunst des Mittelalters und der Renaissance findet u.a. in seiner Hinterglasmalerei und seinen Monotypien zum deutschen Bauernkrieg ihre schöpferische Umsetzung. Progressive Dichter, Künstler, Gelehrte aller Zeiten sind ihm Mitgestalter seines Weltbildes, Partner seiner künstlerischen Auseinandersetzungen. Seine Bildnisse von Gogol, Dostojewski, Gorki und anderen, ebenso wie seine eigenen Bilddichtungen mit Ideen, Geschehnissen und Gestalten aus ihren Erzählungen, zeigen, wie er deren Wesen aus ihren Werken begreift, auf welche Weise er ihnen geistig und emotional verbunden ist.
Als ein Meister der Zeichenkunst und der vielseitigen Anwendung verschiedenster grafischer Techniken erweist sich Gerhard Goßmann in seinen Illustrationen. Etwa 20 von ihm gestaltete und illustrierte Bücher wurden anlässlich der Internationalen Buchkunstausstellung (iba) in Leipzig als schönste Bücher des Jahres ausgezeichnet und gingen in millionenfachen Auflagen in alle Welt. Die Radierungen zu Heinrich von Kleist, die in Kassettenform als eine Folge von 50 Blatt geschaffen wurden, offenbaren eine neue Qualität, eine Steigerung der Kunst Goßmanns zu hoher Gültigkeit.

Sein bedeutendes Schaffen auf dem Gebiet der Illustration und Buchgestaltung, verbunden mit streitbarer Vitalität und Beharrlichkeit zur Umsetzung seiner Ideen, künstlerischer Verantwortung und hervorragendem Können, findet in der DDR und im Ausland große Popularität und Anerkennung.

Laudatio, vorgetragen von Joachim John anlässlich der Preisverleihung am 24. April 1986:

Meine Damen und Herren, verehrter Illustrations- und Grafikmeister Gerhard Goßmann!

Der Ort Fürstenwalde, wo Goßmann lebt und arbeitet, Fürstenwalde an der Spree nahe den mächtigen Rauenschen Bergen, und der Umstand, dass hier ein Jüngerer einen Älteren lobt – was das Natürlichere wäre, aber selten ist – beides brachte mich auf Theodor Fontane:

„Ob unsere Jungen in ihrem Erdreisten
wirklich was Besseres schaffen und leisten,
ob dem Parnasse sie näher gekommen
oder nur einen Maulwurfshaufen erklommen,
ob sie mit anderen Neu-Sittenverfechtern
die Menschheit bessern oder verschlechtern,
ob sie Frieden sä'n oder Sturm entfachen,
ob sie Himmel oder Hölle machen,
eins läßt sie steh'n auf siegreichem Grunde:
Sie haben den Tag, sie haben die Stunde [...]“

Dieser Tag und diese Stunde aber sind das Ergebnis einer mörderischen Geschichte, die unter größten Mühen zum Besseren gewendet wurde, in unserer Gegend gewendet auf die Seite der Käthe Kollwitz und des Humanismus. Gerhard Goßmann ist Humanist und von Jugend an Sozialist und Aufklärer. Kaum einer der Anwesenden, vielleicht Werner Klemke, Mohr, Sandberg, hat so viele Werke in die Welt gebracht wie Gerhard Goßmann. Bücher mit seinen Zeichnungen und Aquarellen gibt es mehrere Millionen.
Lese ich Kunstwissenschaftliches über einen Künstler, so werde ich oft versucht, diesen für den Größten zu nehmen. Es wäre töricht, den heute zu Ehrenden dazu machen zu wollen; nein: „Jeder Mensch ein einmaliges Wunder!“ – und der Künstler, ausgestattet mit dem großen, immer noch asozialen Privileg, sein Individuellstes in die Gesellschaft einbringen zu können, und, dass es dort auch noch zum Glänzen kommt, so einer – wie viele der Anwesenden – ist Gerhard Goßmann. Man liest in seiner Biografie, dass er einst jüngstes ASSO-Mitglied war, schon in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung gezeichnet hat, Arbeitsloser und Soldat wurde, von Edvard Munch Farben geschenkt bekam, Kunsterzieher, Abgeordneter, Nationalpreisträger und Ehrenmitglied des Künstlerverbandes wurde, dass er über 500 Platten radierte und mehr als 20 Schönste Bücher ausgestattet hat. Durch Goßmanns Kopf, durch seine Hand und über seinen Zeichentisch liefen oder ritten Drachen und Helden, Piraten und Schatzsucher, Robinson Crusoe, Eichendorffs Taugenichts, Kuddel-Daddeldu, Don Quichote und Sancho Pansa, David Copperfield, Hoffmanns Knarrpanti und diverse Wesen bisher ungesehener Art aus Goßmanns privater Biologie. Und dann Kasachen und Afrikaner, Mongolen und Araber, Feuerländer, Nordindianer, Georgier, Kabardiner und dazu Heinrich von Kleist mit seinem Gesamtwerk, Charlie Chaplin, Gogol, Angela Davis, Liebknecht und unser Otto Nagel, Heinrich Heine, Wilhelm Hauff und Maxim Gorki.
Nach meiner Frage an Meister Goßmann, was er unter Illustration verstünde, einigten wir uns ungefähr darauf, dass alles Bildnerische Illustration sei, das alles illustriere im Wortsinne: beleuchte, möglichst erleuchte und die Empfindung des Künstlers leuchten lässt.
In Frankfurt/Oder sah ich vorige Woche ein Gemälde Napoleons Krieg gegen (Die Wale) England, Öl, 70 x 50 cm. Durch den feuchten Dunst im Tiefflug über die kochende See schwankt eine rokoko dekorierte Montgolfiere, die Gondel vollbesetzt mit säbelzuckenden Franzosen, Napoleon zeigt auf einen riesigen, klaffrachigen Wal, „Dorthin die Kugel!“, eine dräuende Kanone schießt dem Befehl des Imperators gleichzeitig gehorchend einen dicken, bunten Knödel gegen das schnaubende Tier. Es schnaubt und gurgelt gepeitscht von glänzenden Flossen das kabbelige Meer – was da schnaubt und gurgelt und kabbelt ist Goßmanns Vorstellungskraft und Phantasie selbst.
Gerhard Goßmann hat durch die weite Verbreitung und große Wirksamkeit seiner Werke die Kunstgeschichte dieses Landes und so seine Geschichte mitgeschrieben. Er hat Weltliteratur verbreiten helfen und Kinder- und Reiseliteratur im Leseland DDR und außerhalb. Er ist selbst auf vielen Meeren gefahren, – und das bringt mich zum Schluss wieder auf einen Berliner Dichter, Karl Mickel:

Die Welt ein Schiff
Voraus ein Meer des Lichts
Uns hebt der Bug
So blicken wir ins Nichts [...]

Dieses Nichts ist das biologische Ende eines jeden von uns, unverwechselbar wie unser Leben, – und dieses Nichts ist jener unvorstellbare, riesige freie, aber gefährdete Raum, den es zu erhalten und vorzubereiten gilt, damit ihn die Nachgeborenen – unser mit Nachsicht gedenkend – betreten werden, um uns auch an Kollwitzschem Humanismus sehr, sehr zu überbieten.