2006
Thomas Eller
Thomas Ellers bildkünstlerische Arbeiten kreisen um Wahrnehmungsprozesse von Wirklichkeiten und Wahrheiten, die zwischen Betrachterinnen und Betrachtern und den von ihm erzeugten – oft destabilisierten – Bildern entstehen. Diese Beziehungen unterliegen in seinen Arbeiten einer ständigen, meist konfrontativ geführten Überprüfung. Als Autor, Kurator und im Rahmen seiner künstlerischen Forschung stellt er sich stets den Grenzsituationen des Kulturbetriebs, den lokalen politischen Verhältnissen und dem Leben an sich. Ellers frei im Raum installierte Fotoskulpturen, mit denen er in Berlin bekannt wurde, existieren als Objekte ohne temporalen Kontext. So können sie bei der Betrachtung im unmittelbaren Jetzt erfahren werden.
Textbeiträge zur Preisverleihung
„Im Grunde genommen erleben wir Ellers Werke auch unbewusst als surreale Verfremdung der bekannten Dinge, die gerade mit der täuschend genauen Darstellung arbeitet – ganz im Sinne eines René Magritte.“ (Auszug Laudatio)
Thomas Eller hat in seinem Werk dem Medium der künstlerischen Fotografie sehr spezielle grenzüberschreitende Qualitäten erschlossen. Er nimmt damit eine unverwechselbare Position sowohl innerhalb der Fotografie als auch in der bildenden Kunst ein. In seinen installativen Bildern befragt er gleichermaßen die Wirklichkeit, ihr Abbild und die Realität des Kunstwerks selbst. Durch gewöhnliche Manipulationen, wie sie zu den Möglichkeiten der Fotografie gehören – also Vergrößerung, Zergliederung, disproportionale Zusammensetzung oder Verzerrung und pointierte Verschiebung der Perspektiven –, seziert er unsere Sehgewohnheiten und irritiert sie auf ebenso konkrete wie subtile, bisweilen poetische Weise.
Er scheut sich auch nicht, mit seinen sehr zeitgenössischen Bildtechniken Traditionen der Kunstgeschichte und uralte Fragestellungen der Kunst aufzugreifen und sie in die Gegenwart zu wenden. Die Rolle des Bildes, das wir uns von der Wirklichkeit machen, wird mit einem Gruß an Magritte durch das Bild vom Bild oder das Bild des Bildes im Bild oder des Bildes vom Bild im Bild untersucht; die Bildform der ausgeschnittenen Darstellungen erinnert mitunter von weither an die papiers découpés von Matisse, und selbst Heiligenbilder können für Thomas Eller Thema sein. Dazu gehört auch die Befragung jener Ideologie, die den Künstler als „exemplarisch Leidenden“ (Susan Sontag) versteht oder die Frage nach der Identität des Selbst und des Bildes: „Is it a flag or is it a painting“ (Jasper Johns).
Dabei reflektiert Eller die Rolle des Künstlers, Mechanismen der Wirklichkeitsaneignung im Zeitalter elektronischer Medien, unser Wahrnehmungsverhalten überhaupt, thematisiert aber ebenso durch Wiederholung und kaum zu erkennende Veränderungen der Bilder die Künstlichkeit von Natur und Mensch in ihrer Reproduzierbarkeit. Ein anderes großes Thema seiner Kunst ist der urbane Lebensraum und das Verhalten der Menschen in ihm.
So steht Eller als Künstler ebenso direkt wie indirekt, auch versteckt, mit rein künstlerischen Strategien stets im Reibungsfeld der Wirklichkeit, der er ein antwortendes Gegenbild vorhält und in die er mit seiner Kunst hineinwirken will. Für seine Kunst insgesamt, aber ebenso für die einzelgängerische Position, die er unbeirrt durch den Kunstbetrieb in großem Wandlungsreichtum seiner bildlichen Möglichkeiten vertritt, hat die Jury Thomas Eller den Käthe-Kollwitz-Preis 2006 zuerkannt.
Jörn Merkert
Der Jury gehörten an: Eberhard Blum, Dieter Goltzsche und Jörn Merkert
Laudatio, vorgetragen von Jörn Merkert anlässlich der Preisverleihung am 9. April 2006:
Lieber Thomas Eller,
Herr Präsident,
lieber Matthias Flügge,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
als erstes einmal herzlichen Glückwunsch an Thomas Eller für diesen Preis.
Thomas Eller betreibt in seiner Kunst auf umfassende Weise die Irritation des Bildes und durch das trügerische Bild die Irritation des Betrachters. Fast subversiv, wie es sich für die Kunst gehört, nutzt er dazu ausgerechnet jenes Medium, dem wir trotz aller gegenteiligen Erfahrung immer noch am meisten vertrauen, die Wirklichkeit authentisch widerzuspiegeln: die Fotografie. Denn seit ihrer Erfindung gehört zum direkten, auf den ersten Blick ganz ungeschönten und objektiven Abbild – ganz anders als beim gemalten Bild – von vornherein die Kraft, selbst Wirklichkeit zu sein; eben weil es so wirklich scheint. Die Technik der Reproduktion hat als Medium vor allem – nicht nur, aber vor allem – die bildende Kunst im 20. Jahrhundert in eine gleichermaßen tiefe wie folgenreiche Identitätskrise gestürzt, die zur völligen Entgrenzung ihres Selbstverständnisses führte – ihrer Formensprache, ihrer Ausdrucksmöglichkeiten, ihrer Techniken, ihrer Fragestellungen, Methoden und Strategien. Die Fotografie wurde dabei in ihrer chamäleonhaften Wandlungsfähigkeit inklusive ihrer höchst scheinhaften Wahrhaftigkeit selbst zum uneingeschränkten künstlerischen Medium.
Als außerordentlich reflektierter Künstler ist sich Thomas Eller dieses verwinkelten Problemfeldes zwischen Kunst und Wirklichkeit, zwischen Kunstwerk und Betrachter, zwischen der eigenen Individualität, der Authentizität des Kunstwerks und schließlich der Unberechenbarkeit des Betrachters genau bewusst. Er weiß, dass es sich nur um sehr dünnes Eis handelt, auf das er sein Publikum lockt, und das im Grunde genommen ein immer noch wenig erforschtes Terrain ist, obwohl sich Scharen von Künstlern seit der Erfindung der kubistischen Collage 1905 damit auseinandergesetzt haben. Deswegen aber kann heute jeder Künstler nahezu alles machen, und er könnte darüber leicht in Verzweiflung geraten – denn selbst Anti-Kunst, deren Urvater Marcel Duchamp noch einen revolutionären Impuls für das künstlerische Denken gab, ist heute gar nicht mehr möglich. Schließlich wirken Schock und Provokation heutzutage kaum noch; und wenn, so sind sie schnell verbraucht und verpuffen meist ohne Wirkung; das heißt, sie bleiben erkenntnislos.
Eines ist den Künstlern heute allerdings in allen noch so verschiedenen Formen des Ausdrucks und der Techniken erstaunlicherweise geblieben, um sich mit der Wirklichkeit, dem Realitätsverlust, der Multiplizierung unserer gleichermaßen reproduzierten wie produzierten Wirklichkeiten und der alles durchdringenden Krise der Identität auseinanderzusetzen: dieses eine ist die Schönheit. In der Sehnsucht nach ihr offenbart sich insgeheim auch der Hunger nach echter Wirklichkeit, gerade weil natürlich – erst recht in unserer Zeit – weiterhin Dürers Satz gilt: „Was die Schönheit sei, das weiß ich nicht.“
Thomas Eller geht als Künstler sehr strategisch vor und nimmt sich seine Methoden und Techniken ganz unbefangen, auch wenn das nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist, und legitim natürlich aus der Kunstgeschichte. Die oft nur subtilen, aber äußerst wirksamen, wiederholten Perspektivverschiebungen in den einzelnen Abbildungen in ein und derselben Arbeit sind letztlich ohne das kubistische Prinzip der Dingzerlegung gar nicht denkbar. Indem dort wie hier die Wahrnehmung als Prozess in das unbewegte Bild integriert wird, kann der Ablauf von Zeit in die Anschaulichkeit übersetzt werden, ohne die strikte Flächigkeit aufzugeben, also ohne jede Form von Illusionismus. Damit ist ein grundlegender Aspekt der revolutionären Modernität des Kubismus verbunden, nämlich der Verzicht auf die klassische Zentralperspektive.
Das tut auch Thomas Eller – und täuscht uns zugleich. Insofern nämlich, als dass jedes Bildteil in sich zwangsläufig mit dem Auge der Kamera perspektivisch eindeutig, realistisch, festgehalten ist. In der Zusammensetzung aus mehreren Teilen, was bis auf wenige Ausnahmen nahezu alle Arbeiten von Eller bestimmt, wird diese Eindeutigkeit aber sofort wieder aufgehoben: Ständig wechseln die Blickwinkel, Proportionen und Dimensionen, widersprechen einander, mal prinzipiell, mal ganz unauffällig. Hier muss vielleicht eine Anmerkung zu den aktuellen und neuen Arbeiten gemacht werden, die hier in dieser Fülle zum ersten Mal in Berlin zu sehen sind, wo er sich des Rückgriffs auf ein ganz altes Verfahren der Kunstgeschichte bedient, nämlich der Anamorphose, die Verzerrung, der Gegenstände, die erst aus einer bestimmten Perspektive wieder lesbar wird – die Perspektive, die der Betrachter einnehmen muss. Aber das Prinzip, das er damit verfolgt, bleibt genauso. Denn genau betrachtet, wendet der Künstler damit die Methode der Fotomontage der Dadaisten an. Während deren Bildmaterial jedoch als Fundstück aus Zeitungen, Zeitschriften und der existierenden bildlichen Wirklichkeit überhaupt gewonnen wurde, stellt sich Eller den Fundus, aus dem er schöpft, mit seiner Kamera selbst her. Während Kubisten und Dadaisten noch mit dem Einbruch des Realitätszitats den Wirklichkeitscharakter des Kunstwerks steigern wollten, kehrt Eller diesen Aspekt gewissermaßen um. Er geht von einer größtmöglichen Künstlichkeit des Bildes aus und enthebt es so, obwohl es nur noch als Konglomerat der fotografischen Abbildrealität besteht, der äußeren Wirklichkeit. Dabei verwandelt er es in ein sehr abstraktes, völlig autonomes Bildkonstrukt.
Was als verkünstlichte Widerspiegelung auftritt verschiebt unseren Blick. Im Grunde genommen erleben wir Ellers Werke auch unbewusst als surreale Verfremdung der bekannten Dinge, die gerade mit der täuschend genauen Darstellung arbeitet – ganz im Sinne eines René Magritte. Dessen epochales Bild Ceci n’est pas une pipe (Dies ist keine Pfeife) führte in den 20er Jahren den fundamentalen Zweifel an allen Erscheinungen der Realität mit den reinen Mitteln der Malerei in die Kunst ein, während Duchamp 1913 den banalen realen Gegenstand verfremdend in die Kunstausstellung gesetzt hatte. Weil aber mehr als je zuvor die Welt des 20. und 21. Jahrhunderts im Alltag künstlerische Ideen aufgegriffen hat, ja, diese Ideen selbst zur Wirklichkeit und Wirklichkeitswahrnehmung geworden sind, verschwimmen auch hier die Grenzen. Man denke nur an den allseits praktizierten Surrealismus oder an das Prinzip Collage in der Werbung und überhaupt in unserer Wahrnehmung der äußeren Welt mit Hilfe der Medien. Gerade deswegen aber gewinnen Ellers in ihrer Kunstferne so künstlichen Werke ganz außerordentlichen Realitätscharakter, eben weil wir nicht allein im Abbildhaften, sondern in den methodischen Sehweisen unsere eigene Alltagswirklichkeit wiedererkennen können. Alles ist genauso künstlich und real wie ein Klon in der Naturwissenschaft oder genauso wirklich wie die künstlichen naturidentischen Aromastoffe in unserem Joghurt. Künstliche naturidentische Aromastoffe. Dadurch entgeht Thomas Eller dem Verdikt des Futtertrogrealismus von Kasimir Malewitsch und vereint auf ungekannte Weise Kandinskys prägende Gegenpole der großen Abstraktion und der großen Realistik.
Ob Magritte nun nach der Realität des gemalten Abbildes fragt, oder in leichter Verschiebung Jasper Johns in den 50er Jahren seine gemalten Flaggen als Gemälde in Zweifel stellt: „Is it a flag or is it a painting“, am Ende landet – zumindest der Künstler – immer im Zweifel an sich selbst. Und dieser Zweifel führt ihn nahezu zwangsläufig – zumindest Thomas Eller, als Teil seiner künstlerischen Strategie – immer wieder zum Selbstporträt. Aber auch hier, im Privatesten und Intimsten, setzt Eller durch Übersteigerung die surreale Verrätselung zur Verkünstlichung des Sujets ein – ob im nackten Gewande eines gemarterten Heiligen, ob in der verklonten Vervielfachung des Businessman, ob mit riesigen Vergrößerungen seines eigenen fotografischen Abbilds oder ihrer winzigen Verkleinerungen. Nicht nur in diesen Beispielen nutzt Eller Banalität ebenso wie Ironie zur Brechung tradierter oder besetzter Bildvorstellungen. Um es auf den Begriff zu bringen: Eller inszeniert seine Darstellungen und auch darin treffen wir auf die Künstlichkeit seiner Bildwelten. Er führt vor, als ob er Realität zeigt. Deswegen behaupten seine Werke immer – und stellen auf diesem kleinen Umweg die Wirklichkeit in Frage.
Ihre suggestive Überzeugungskraft gewinnen seine Arbeiten bisweilen auch im – wieder inszenatorischen – spielerischen Umgang mit den sorgsam gewählten, technisch perfekten Bildmitteln. Eller zeigt uns eine schöne neue Welt, in der der Künstler selbst in scharadenhaftem Rollenspiel auftritt. Auch diese scheinbare Selbstbespiegelung mit bisweilen manischen Zügen ist nichts als Verkleidung, Verfremdung, Anonymisierung und in der artifiziellen Wiederholung also jenseits künstlerischer Individualisierung der Versuch, die Identitätskrise des Einzelnen und der Gesellschaft zu analysieren. Schönheit, was immer das sei, bleibt dabei nicht auf der Strecke. Auch sie aber erscheint im Kleid der Subversion. Sie ist kein Element der Wahrhaftigkeit mehr, sondern so trügerisch wie die schöne neue Welt insgesamt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Tonmitschnitte der Preisverleihung
Danksagung (Thomas Eller)