2021
Maria Eichhorn
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist Maria Eichhorn insbesondere mit ihren Beiträgen für die Documenta11 (Maria Eichhorn Aktiengesellschaft, Kassel, 2002) und die documenta 14 (Kassel / Athen, 2017) in die Öffentlichkeit getreten.
Seit der Realisierung von Ausstellungsprojekten wie In den Zelten… (2015) im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, oder Restitutionspolitik / Politics of Restitution (2003) im Lenbachhaus und Kunstbau München beschäftigt sie sich immer wieder mit ungeklärten Besitzverhältnissen von Kunstwerken, Immobilien, Grundstücken, Bibliotheken etc., die in der NS-Zeit jüdischen Eigentümerinnen und Eigentümern in Deutschland und in den damals besetzten Ländern entwendet wurden.
Der wiederentdeckte Gurlitt-Nachlass bot Eichhorn Anknüpfungspunkte für ein weiteres Projekt: Als künstlerischen Beitrag für die documenta 14 im Jahr 2017 gründete sie das interdisziplinär ausgerichtete Rose Valland Institut (www.rosevallandinstitut.org) mit dem konkreten Ziel, über Nachwirkungen der Enteignung der jüdischen Bevölkerung Europas durch die Nationalsozialisten zu forschen. Ähnlich wie Walter Benjamin versteht sie Geschichte als nie endend, sie ereigne sich gewissermaßen in der Zukunft. In diesem Sinne höre Geschichte nicht auf, sich auf Narrative der Vergangenheit zu beziehen und diese zu aktualisieren oder zu regenerieren, auch Uneindeutigkeiten und Widersprüche zu produzieren.
Im Rahmen des Käthe-Kollwitz-Preises beschäftigt sich die Preisträgerin Maria Eichhorn mit der facettenreichen Geschichte des Denkmals Block der Frauen von Ingeborg Hunzinger, das sich in der Rosenstraße in Berlin-Mitte befindet.
Textbeiträge zur Preisverleihung
„Maria Eichhorn hinterfragt seit nunmehr 30 Jahren mit ihren Arbeiten und Forschungsprojekten kontinuierlich und kritisch das Betriebssystem für die Künste an der Schnittstelle zu Geschichte, Politik und Gesellschaft. Diese Form des politischen Agierens gleicht dem einer Aktivistin, die vor allem einer jüngeren Generation von Künstlerinnen und Künstlern als Vorbild dient.“ (Aus der Begründung der Jury)
Maria Eichhorn hinterfragt seit nunmehr 30 Jahren mit ihren Arbeiten und Forschungsprojekten kontinuierlich und kritisch das Betriebssystem für die Künste an der Schnittstelle zu Geschichte, Politik und Gesellschaft. Diese Form des politischen Agierens gleicht dem einer Aktivistin, die vor allem einer jüngeren Generation von Künstlerinnen und Künstlern als Vorbild dient. Hierin besteht eine enge Verknüpfung zur Namensgeberin des Käthe-Kollwitz-Preises, die zwar im Geiste ihrer Epoche im frühen 20. Jahrhundert und für eine ausgewählte, nämlich benachteiligte Gesellschaftsschicht agierte, aber bis heute als Inspirationsquelle für Kunstschaffende verschiedener Gattungen weltweit Einfluss nimmt. Die in Berlin lebende Künstlerin Maria Eichhorn widmet ihr Werk rund 100 Jahre nach Käthe Kollwitz der wirksamen Offenlegung und künstlerischen Verwandlung von Kategorien wie Kapital, Eigentum und Restitution, die sie dem Publikum in konzentrierten Präsentationen vorstellt. Es geht ihr darum, zum Kern gesellschaftspolitischer und sozioökonomischer operativer Prozesse vorzudringen. Sie transformiert die Logik ihrer Abläufe bei der Konzeption und Projektrealisierung „von innen in dem Bemühen, ihre Strukturen dauerhaft zu verändern und gleichzeitig die Bedeutung ihres Wirkens zu würdigen“1.
Seit der Realisierung von Ausstellungsprojekten und Arbeiten wie Maria Eichhorn Aktiengesellschaft auf der „Documenta11“ in Kassel (2002), In den Zelten 4 / 5 / 5a / 6 / 7 / 8 / 9 / 9a / 10, Kronprinzenufer 29 / 30, Beethovenstraße 1 / 2 / 3 (1832 bis 1959) > John-Foster-Dulles-Allee 10 (seit 1959) (2015) im Haus der Kulturen der Welt in Berlin oder Restitutionspolitik / Politics of Restitution (2003) im Lenbachhaus München beschäftigt sie sich immer wieder mit ungeklärten Besitzverhältnissen von Kunstwerken, Immobilien, Grundstücken und Bibliotheken, die in der Zeit des Nationalsozialismus jüdischen Eigentümerinnen und Eigentümern in Deutschland und in den damals besetzten Ländern entwendet wurden. Als künstlerischen Beitrag für die „documenta 14“ im Jahr 2017 gründete sie das interdisziplinär ausgerichtete Rose Valland Institut (www.rosevallandinstitut.org), das seinen Sitz in Berlin hat und während der Laufzeit der documenta in der Neuen Galerie in Kassel präsentiert wurde. Seit 2018 unterhält das Rose Valland Institut auch ein Büro an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Es wurden Provenienzrecherchen beauftragt, weitere Interviews geführt sowie öffentliche Präsentationen in Bonn, Turin und Berlin veranstaltet. Das Institut verfolgt das konkrete Ziel, über Nachwirkungen der Enteignung der jüdischen Bevölkerung Europas durch die Nationalsozialisten zu forschen.
„Das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ‚noch‘ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“2 Das schrieb Walter Benjamin in seinem letzten großen Text „Über den Begriff der Geschichte“ (1940), und wie Benjamin versteht Maria Eichhorn Geschichte als nie endend – sie ereignet sich gewissermaßen immer in der Zukunft. Dabei soll Geschichte nicht aufhören, sich auf die Narrative der Vergangenheit zu beziehen, sondern diese aktualisieren und auch Uneindeutigkeiten und Widersprüche produzieren. In diesem Sinne konzentriert sich Eichhorns künstlerische Praxis auf Ideen, Recherchen und Formen der Visualisierung, die die Betrachterin oder den Betrachter zur aktiven Partizipation auffordern. Sie will die Wirklichkeit nicht abbilden oder mittels Bild, Film, Skulptur oder anderer Medien fiktionale Kontexte und Narrationen erzeugen, sondern das Publikum durch Fakten wachrütteln und durch Thesen und Kontextualisierungen zum Nachdenken anregen.
Im Frühjahr 2022 eröffnete Maria Eichhorn mit Relocating a Structure den Deutschen Pavillon zur 59. Biennale di Venezia. Sie setzte sich mit der Geschichte und Baugeschichte des seit 1938 durch die Nationalsozialisten zum Repräsentationsbau umgebauten Pavillons „Germania“ auseinander und legte mit Restauratoren, Historikern und Archäologen Spuren der verschiedenen Bauphasen des Gebäudes frei, publiziert in ihrem Begleitbuch umfangreiches Material und ermöglicht den Besuchenden so einen neuen Blick auf den Ort.
Der Jury gehörten an: Richard Deacon, Bjørn Melhus und Adrian Piper
1. Reinigung und partielle Restaurierung des Mahnmals Block der Frauen (1995) in Auftrag, das von der ostdeutschen Bildhauerin Ingeborg Hunzinger noch im Auftrag des Kulturministeriums der DDR 1990 in Auftrag gegeben wurde und an den Aufstand der Rosenstraße erinnern soll. Der Geschichte des Denkmals und der Künstlerin ist auch das vorliegende Buch gewidmet.
2. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: W. B., Gesammelte Schriften, Bd. I/2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 697.