2005
Lutz Dammbeck
Lutz Dammbeck ist Maler, Grafiker, Konzeptkünstler und Filmemacher, der in seinen Bildern, Filmen, Collagen und Installationen nach neuen bildkünstlerischen Ausdrucks- und Erzählformen strebt und dabei immer wieder traditionelle Grenzen überschreitet (Das Netz, Overgames). Seit Ende der 1970er Jahre rückt die antike Kunstfigur Herakles ins Zentrum seines Schaffens und lässt das Gesamtkunstwerk Herakles-Konzept sukzessive entstehen. Dammbeck startet damit seinen bis heute währenden Diskurs über politisches Handeln als Grundbedingung des menschlichen (Zusammen-)Lebens. Durch außergewöhnliche analoge und digitale Collagetechniken visualisiert er seine von Ambivalenz geprägten Prozesse, die thematisch die Bereiche Kultur, Politik, Geschichte, Kunst, Philosophie und Wissenschaft umkreisen.
„In meinen Arbeiten gibt es kein Freund-Feind-Schema.“
Textbeiträge zur Preisverleihung
„Lutz Dammbeck macht Bilder, Filme, um von der Politik sorgfältig verdeckte Quellen in ihren Möglichkeiten zu enthüllen.“ (Auszug Jurybegründung)
Lutz Dammbeck ist ein gründlicher Erzähler, er sticht mit Worten in den Saum der Bilder. Schreibend, drehend, modulierend, bauend, keine Handhabe ist ihm fremd, die Eingriffe erlaubt, um Räume zwischen Bergen und Verbergen von Dingen zu öffnen.
Seit den siebziger Jahren collagiert er, ist mit keinem Medium allein zugange, zeichnet, fotografiert, montiert, filmt und hebt Archive. In den Notizen zu seiner Mediencollage Herakles vermerkt er 1982: „Der Mangel an Quellen zwingt mich, mir selbst ein Bild zu machen.“ Lutz Dammbeck macht Bilder, Filme, um von der Politik sorgfältig verdeckte Quellen in ihren Möglichkeiten zu enthüllen. Von seinen Arbeiten zur deutschen Geschichte, zu den deutschen Blendungen und Dissimulationen, bis zum jüngsten, überwältigenden Film Das Netz, den Maschinensystemen und den infiniten Ableitungen der Kybernetik. Lutz Dammbeck hat von der Jury den Käthe-Kollwitz-Preis 2005 für seinen aufrechten, an den Systemen rüttelnden Gang erhalten, für seine Überzeugung, uns Bilder zu machen, uns verstehen zu lassen und Sinn nicht als gegeben, sondern als Einsetzen der Frage zu betrachten.
Hubertus von Amelunxen
Der Jury gehörten an: Hubertus von Amelunxen, Matthias Flügge und Christina Kubisch
Laudatio (Transkription des Tonmitschnitts), vorgetragen von Matthias Flügge anlässlich der Preisverleihung am 4. Juni 2005:
Guten Tag meine sehr verehrten Damen und Herren,
lieber Lutz Dammbeck,
die Akademie der Künste verleiht den Käthe-Kollwitz-Preis 2005 an Lutz Dammbeck, wie es heißt „in Würdigung seines Gesamtwerkes“. Als ich das las, dachte ich, man hätte auch schreiben können „in Würdigung seines Gesamtkunstwerkes“, aber dann kamen doch Zweifel. Das Wort Gesamtwerk und das Wort Gesamtkunstwerk haben zwar eine semantische Nähe, bezeichnen aber zwei unterschiedliche Dinge. Während Gesamtwerk die Folge der Arbeiten meint, die einer gemacht hat auf der Strecke seines Künstlerlebens, bedeutet Gesamtkunstwerk seit Richard Wagners Prägung und auch seit dem Faschismus einiges mehr. Es bezeichnet eine europäische Utopie der Moderne, einen ästhetischen Vorgriff, ein Modellspiel zwischen esrathologischer Erlösungshoffnung und atavistischem Scheitern. Manchmal schlägt dabei das Spiel in die existentielle Katastrophe um, individuell und gesellschaftlich. Das ist Dammbecks Generalthema. Sein Gesamtwerk befasst sich mit den dunklen Seiten des Gesamtkunstwerkes. Auch der Staat versteht sich ja manchmal als ein solches. Es befasst sich mit den Abgründen von Utopien und Gegenutopien, mit den Verquickungen von Ästhetik, Kunst und Politik, mit deren verborgenen Zielen, und mehr noch, mit den Strategien des Verbergens.
Lutz Dammbeck hat in den 60er Jahren in Leipzig studiert, nicht bei Tübke oder Heisig, sondern in der Klasse von Heinz Wagner, einem heute vergessenen Maler, der seinen Schülern die Möglichkeit ließ, sich in Zwischenformen der Kunst auszuprobieren, weil er wohl eingesehen hatte, dass seine künstlerische Autorität nicht ausreichend war, sie an ein Metier zu binden. Bei Heisig und Tübke, wie wir wissen, war das ganz anders. Die Modernisierungsschübe in der DDR, so könnte man daraus lernen, resultierten zuweilen aus Unfähigkeit. Denn dieser zweite Strang der Leipziger Schule stand immer etwas im Schatten des Mainstreams der Großmeister, er brachte aber die Künstler hervor, die wie Morgner, Ranft und andere den figurenmalerisch determinierten Begriff der sogenannten DDR-Kunst seit den 70er Jahren endgültig aufzulösen begannen.
Für Dammbeck allein war diese DDR-interne Diskussion keine Frage der Form und erst recht keine von Gegenstand und Abstraktion, sondern immer eine nach der künstlerischen Freiheit, nach individueller Autonomie in der Erziehungsdiktatur. Während im Westen der späten 60er die Jugend nach der Schuld ihrer Eltern fragte, lebten wir noch in der Illusion kollektiver Entschuldung – zumindest im Bewusstsein, in diesem Teil Deutschlands die gerechte Strafe stellvertretend zu erleiden. Dafür war uns die Verantwortung der Nachgeborenen scheinbar abgenommen. Lutz Dammbeck hat die mentale und moralische Fäulnis dieser Konstruktion früh gespürt. Das war eine Einsicht, die folgenreich geblieben ist, weil seither die Konstellationen von Schuld und Strafe das Werk ebenso formatieren wie das nationalsozialistische Trauma. Später wird Dammbeck die Sichtung eines elterlichen Fotoalbums aus den letzten Kriegsjahren beschreiben, ich zitiere aus seinem Tagebuch: „Wie intensiv will ich fragen? Was will ich wissen, was nicht? Im Gespräch verändert sich dann die scheinbar objektive Wahrheit der Fotos. Das ehemalige Leben, flach und tot auf Papier, verbindet sich mit meinen heutigen Gedanken, Gefühlen und dem Wissen zu einem feinen, schwebenden Gespinst, von jeder Aufzeichnung gefährdet. Für dieses Gespinst eine Form finden, ohne es zu zerstören. Sichtbar machen ...“
In diesen Sätzen ist die Substanz von Dammbecks künstlerischer Arbeit zu finden. Was kann man wissen? Wie verändert sich Wahrheit? Und die Wörter Gespinst, Aufzeichnung, Gefährdung, Form, Wissen und Gefühl – sie stecken gleichsam das Terrain ab, auf dem dieses Werk entstanden ist.
1. Gespinst
Gespinst, sagt mein Wahrig, sei ein zartes Gewebe aus gesponnenen Fäden, aber auch gedrehtes Garn aus endlichen Fäden. Das trifft sich gut.
Gleich ob in Filmen, Malereien, Collagen oder Medienarbeiten – immer hat Dammbeck sozusagen endliche Fäden miteinander verknüpft. Solche der Wirklichkeit und solche der Fiktion. Das ist seine bevorzugte Arbeitsform: Die Herstellung von frei verwobenen, parallelen Bedeutungsnetzen ohne Zentrum. Etwas, das so ist, kann auch anders sein, die Fäden führen vor und zurück, wenn überhaupt, so finden sie erst an den Rändern Halt.
Begonnen hat das mit Dammbecks Entdeckung der Filmavantgarde der zwanziger Jahre und den frühen Animationsfilmen, die Legendenstoffe wie Der Schneider von Ulm mit Non-camera-Experimenten und Simultaneität verbanden. Ruttmann und Richter waren die Gewährsleute von Dammbecks Ausbruch aus der Zeitachse des Films. 1981 hat er in der Mediencollage Hommage à la Sarraz ein Resümee dieser Phase gezogen, es war eine Hommage an die europäische Filmavantgarde, ein Faden auch, der ihn zurückband an eine in der DDR kaum vorhandene Erinnerung kinematografischer Methoden des Sichtbarmachens ohne Abbildung.
2. Aufzeichnung
Seit Lutz Dammbeck fast ausschließlich Filme dreht, hat er die Recherche als Kunstform entdeckt. Es entstehen riesige Mengen von Rohmaterial. Bei dessen Sammlung geht der Rechercheur nicht journalistisch planvoll vor sondern lässt sich gleichsam assoziativ von Erfahrungen und Empfindungen leiten. Eines ergibt sich aus dem anderen, alles wird aber festgehalten, aufgezeichnet, um später in einem rhizomatischen Zusammenhang wieder aufzutauchen. Im Unterschied zum klassischen Dokumentarfilm dient das Material nicht dem quasi objektiven Nachweis einer These sondern die Aufzeichnung bleibt erkennbar als Produkt des Aufzeichnenden, der, ob im Bild anwesend oder nicht, den Faden in der Hand behält. In seinen Interviews zum Beispiel lässt Dammbeck sich und seinen Partnern Zeit. Er schneidet jenen Moment nach dem letzten ausgesprochenen Satz, in dem der Interviewte den Fragenden noch einmal anschaut, Bestätigung heischend, zufrieden mit dem Gesagten nickend oder auch unsicher wegschauend, nicht heraus. So wird die Aufzeichnung selbst zum Thema, die Methode bleibt durchschaubar und der Befragte erscheint zugleich als Zeuge der Möglichkeit des eigenen Irrtums. Berechenbarkeit wird auf diese Weise weithin ausgeschlossen und überhaupt bleibt der Zeugnischarakter des Aufgezeichneten offen.
3. Form
Im Grunde ist alles, was Dammbeck macht, Collage. Wirklichkeitsfragmente, endliche Fäden, werden zusammengeführt und ergeben ihre besondere Wirklichkeit, machen sie sichtbar auch dann, wenn sie in den Schichtungen des Materials selbst verschwinden. In der DDR, dem Land der Eindeutigkeiten, das selbst den großen John Heartfield lange unter Formalismus-Verdacht gestellt hatte, war das eine subversive Strategie. Dammbecks Hauptwerk der Leipziger Jahre, die Mediencollage Herakles-Konzept von 1983 sollte eigentlich als Film entstehen. Doch die DEFA wollte das nicht. Also entschied der Künstler, das Projekt in Realzeit aufzuführen. So entstand eine wegweisende Aktion mit Mitteln der Malerei, des Tanzes, der Fotografie, mit Texten und der Beteiligung von elektronischen Medien. Das war ein im Osten so noch nicht gesehener Vorgang. Bild-, Text- und Körpersprache reagierten aufeinander und visualisierten einen Konflikt, den wir damals vielleicht etwas zu kurz auf die DDR zurückschlossen, der aber sehr viel mehr war als eine immanente Systemkritik.
Das Herakles-Motiv war durch einen Text von Heiner Müller aus den frühen siebziger Jahren angeregt. Als Hauptakteur der Mediencollage erschien das „eigensinnige Kind“ aus dem gleichnamigen, apokryphen Märchen der Brüder Grimm. Das Kind, das seinen Autonomiewillen mit dem Leben bezahlt und noch im Grab gestraft wird. Daneben Herakles, der Übermensch in Bildern von Skulpturen Brekers und Thoraks. Damals ging es noch halbwegs gut aus: Das eigensinnige Kind konnte sich befreien. Herakles indes musste erkennen, dass er mitten in der Hydra steckt, die zu bekämpfen er ausgezogen war, und dass sie sich längst seines Körpers bemächtigt hatte. Beide Texte, der der Brüder Grimm und der Müllers, überlagern sich wie auf einem Palimpsest. Das Motiv der Strafe für Eigensinn und das der Vergeblichkeit und des mit ihr verbundenen Identitätsverlustes, das Aussichtslose des Gefangenseins in einem System öffneten einen Betrachtungsraum, der weitaus größer war als das kleine, verblichene Land. Deshalb musste Dammbeck ihn, diesen Betrachtungsraum, auch nicht verlassen.
In dem erwähnten Text von Heiner Müller, Herakles 2 oder Die Hydra, lautet die zentrale Passage – ich will das kurz zitieren: „Vielleicht war er selber schon zu lange unterwegs, eine Erdzeit zu lange, und Wälder überhaupt waren nur mehr, was dieser Wald war. Vielleicht machte nur noch die Benennung einen Wald aus, und alle andern Merkmale waren schon lange zufällig und auswechselbar geworden, auch das Tier, das zu schlachten er diese vorläufig noch Wald benannte Gegebenheit durchschritt, das zu tötende Monstrum, das die Zeit in ein Exkrement im Raum verwandelt hatte, war nur noch die Benennung von etwas nicht mehr Kenntlichem mit einem Namen aus einem alten Buch. Nur er, der Unbenannte, war sich selber gleichgeblieben auf seinem langen schweißtreibenden Gang in die Schlacht. Oder war auch, was auf seinen Beinen über den zunehmend schneller tanzenden Boden ging, schon ein andrer als er. Er dachte noch darüber nach, als der Wald ihn wieder in den Griff nahm.“ Diesem Schicksal galt es zu entfliehen. 1986 ging Dammbeck mit seiner Familie in den Westen. Aber nun erst zeigten die unentrinnbaren Systeme ihre wirkliche Subtilität.
4. Gefährdung
Herakles, so paradox das klingen mag, ist auch ein Bild für ausdifferenzierte Systeme. Wenn wir Dammbecks Gesamtwerk als eine fortdauernde Arbeit am Herakles-Konzept verstehen – und er selbst legt das nahe – so hat das Motiv seine Bedeutungsebenen in den vergangenen 20 Jahren mehrfach verschoben. Das physische Bild des äußerlich ungebrochenen, im Innern morschen autoritären Helden, das Dammbeck früher mit Skulpturen von Arno Breker assoziierte, war im Westen eindimensional geworden. Breker lebte hier noch, war hoch angesehen und war nicht das Monstrum einer unseligen und im Osten verschwiegenen Kunstgeschichte. Man konnte ihn und seine Freunde besuchen, man konnte sie interviewen.
So drehte Dammbeck 1993 Zeit der Götter, seinen ersten großen Film, der in Hamburg entstand. Es ist ein bewegter und bewegender Essay über die politische Macht der Bilder, die im vermeintlich unpolitischen Raum der Kunst auftauchen. Zwei Jahre später Dürers Erben, der nächste Film, untersuchte gleichsam in Parenthese die Verbindungen der Großmeister der Leipziger Schule mit den Inkarnationen der Macht im Osten. Dieser Film ist Dammbecks Abrechnung mit der DDR, er handelt von der politischen Ohnmacht der Künstler unter den Bedingungen der Allgegenwart von erstarrter Politik. Gemeinsamer Fluchtpunkt beider sind die Bewegungen der Lebensreform am Beginn des 20. Jahrhunderts. Dammbeck zeigt die Ambivalenz von Moderne und Antimoderne, und wie die Wege, die ihre Protagonisten gegangen sind, in eine schicksalhafte Alternative von Faschismus oder Kommunismus führten. Er zeigt auch, wie die Manipulation und der Religionsersatz der Bildverehrung einen Autonomieverlust erzeugen, den des Bildes und den des Menschen. Nun findet ein Rollentausch statt: Das Bild weist nicht mehr Herakles vor, es ist nun selbst zur Hydra geworden.
Immer kreisen Dammbecks Filme um die Polarität von rechts und links, so nahe beieinander sie auch liegen mögen. So auch in Das Meisterspiel (1998). Nachdem im Jahr 1994 Unbekannte in Wien Bilder von Arnulf Rainer übermalt hatten, hinterließen sie eine Schrifttafel, auf der stand: „Und da beschloss er, Aktionist zu sein.“ War es ein Neider, ein Studentenulk? Bald darauf wurde ein Bekennerschreiben in die Öffentlichkeit lanciert. Dammbeck erhielt eine Kopie, als er bei der Endfertigung zu „Dürers Erben“ war. Er las und sofort war klar: Hier ist der Stoff, der an die beiden vorhergehenden Filme anschloss, sie gleichsam in die Gegenwart verlängerte. Das Bekennerschreiben war ein wüster Angriff auf die zeitgenössische Kunst und verstieg sich zu der kruden Behauptung, Künstler wie Arnulf Rainer seien die eigentlichen Nutznießer des Nationalsozialismus, mit dessen Untergang auch die wahren Werte der Kunst verschwunden seien, sodass ein Vakuum entstand, in das sie einströmen konnten. Dammbeck fällt das Hitler-Zitat aus Mein Kampf ein: „Ich aber beschloss, Politiker zu werden.“ Was, so fragte er sich, bedeutete diese semantische Nähe?
Er macht sich auf die Suche, taucht tief ein in das austriakische nationalkonservative Milieu, findet in Österreich bei der FPÖ und in Deutschland unter gewendeten Altlinken Exponenten dieser Ideologie, die sich anschicken, den grassierenden Neonazibewegungen ein intellektuelles Fundament zu errichten. Vor der Kamera sprechen sie offen über ihre antimodernen Affekte, über die „Entsittlichung“ der Kulturbegriffe, den Verfall durch Multikulturalität und dergleichen. Und Dammbeck findet Zugang in die akademische Jugendszene, in Kreise, die zu Ernst Jünger pilgern, von einer „Moderne von rechts“ träumen und von einem neuen Kunstbegriff, der Politik, Ästhetik und Gefühl in eins zu setzen vermag. Einer von ihnen hat sich im Haus von Otto Weininger nach einem k.-k.-Offiziersritual erschossen, nun ist er der Held. Dann die jähe Wendung: Briefbombenattentate erschüttern die Republik, bei einem Sprengstoffanschlag in einem kleinen österreichischen Ort werden vier Roma getötet. Wieder gibt es einen Bekennertext, und der hat strukturelle Ähnlichkeiten mit dem des Kunst-Attentäters.
Der Weg des Filmemachers im Labyrinth der alten Rechts-Links-Schemata führt nun bis zu jenem Punkt, wo sie sich im Zirkelschluss von Gewalt und Terror begegnen. Hier lösen sich die Spuren im Diffusen auf, Dammbeck stilisiert sich selbst als Sucher und Flaneur, und es zieht sich eine bedrückende Atmosphäre der Mutmaßungen durch den Film. Die vielen Befragten, Zeugen, Polizisten, Exegeten, sind nur Figuren in diesem Meisterspiel, dessen Regelwerk Geheimnis bleibt. Vor allem: Wer ist der Meister? Kunst, so lernen wir, kann hilfreich kaum erlösend beitragen. Die Moderne hat der Rationalität nicht zum Durchbruch verholfen, die Etiketten des Gutlinken und Rechtsbösen bezeichnen nichts mehr, das virulente Gebräu aus Fremdenhass, Selbsthass, Kunsthass und dumpfer Aggression lässt für Momente Unglaubliches möglich erscheinen. Und Rainer, der Künstler, wird in diesen Strudel hineingezogen, es ist ein Spiel, an dem er nicht teilnehmen will – aber mittlerweile spielt es auch ihn. Längst ist im Schatten des religiös motivierten Terrorismus ein Terror des Nihilismus entstanden, der aus der Mitte der Zivilgesellschaft kommt und sich quasi-künstlerischer Strategien bedient. Die alte Utopie der Avantgarde, die Verbindung von Kunst und Leben, beginnt sich gegen das Leben zu kehren. Das surrealistische Gedankenspiel – denken Sie an André Bretons Satz, die einfachste surrealistische Handlung sei, auf offener Straße einen Menschen zu erschießen – verkehrt sich in Wirklichkeit. Das war lange vor dem 11. September 2001. Auf Karlheinz Stockhausens spontane Reaktion an diesem Tag sei hier wenigstens verwiesen. Man hat ihn missverstehen wollen. Aber das ist schon ein weiteres Kapitel desselben Textes.
5. Wissen und Gefühl
Wenn Dammbeck die Kunst als Modell gesellschaftlicher Ernstfälle untersucht und den Einsatz künstlerischer Methoden zur Auratisierung militärischer oder machtpolitischer Interessen beschreibt, so geschieht das in einer nur ihm eigenen, die Grenzen verwischenden Verbindung von Recherche und Intuition. Genau das werfen seine Kritiker ihm vor. Aber Dammbecks Filme sind keine Dokumentationen im Detail beweisbarer Vorgänge. Sie sind auch keine auf Insinuation gegründeten Bewusstseinssteuerungen durch ausgewählte Wirklichkeitsrelikte wie die Filme von Michael Moore. Nein, sie sind Versuchsanordnungen gesellschaftlicher Situationen, die Dammbeck als Systeme begreift.
Die jüngste Arbeit Das Netz, zu der die Materialien in der – Robert Kudielka hatte es schon gesagt – unten gezeigten Installation All Systems Go aufbereitet sind, ist in dieser Hinsicht Lutz Dammbecks meist avanciertes Werk. Der Film untersucht die im kalten Krieg entstandenen Verbindungen von Wissenschaftselite, Kunstavantgarde, Geheimdiensten, Drogenforschung und militärindustriellem Komplex bei der Schaffung eines, wie es hieß, „antiautoritären Menschen nach Maß“, der gegen die Versuchungen des Totalitarismus zu immunisieren und auf den American way of life im Wortsinn zu programmieren sei. Kybernetik, Nachrichtentechnologie, Psychologie und experimentelle Kunst aus der Mitte der lebensreformerischen Hippie-Bewegung arbeiteten dabei eng zusammen. An diesen Schnittstellen rückgekoppelter Systeme entstanden die Visionen und bald darauf die Realität von Internet und Cyberspace.
Protagonist, Opfer und Täter dieser Entwicklung ist der hochbegabte Mathematiker Ted Kaczynski, in jungen Jahren CIA-Versuchsperson, dann Berkeley-Professor und schließlich Eremit in einer Thoreauschen Hütte in Montana, aus der er Briefbomben an Personen der akademischen und der Computerelite versendet, um die Veröffentlichung seines radikal zivilisationskritischen Manifestes Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft zu erpressen. Als New York Times und Washington Post nachgeben und das Pamphlet drucken, wird Kaczynski gefasst und nun sitzt er lebenslänglich ein. Dammbeck korrespondiert mit dem Häftling, dessen Texte sind Zeugnisse eines gewaltbereiten Anarchismus, der sich ohne Korrektur als Selbstverteidigung gegen die technologisch und ökonomisch bestimmte Welt versteht.
Hier schließt sich der Bogen zurück zu Müllers Herakles, der Hydra und dem Wald. Wer ist Kaczynski in diesem Modell? Der verirrte Herakles, der dem System nicht entkommen kann, sosehr er es bekämpft? Oder doch die Hydra? Wer oder was aber wäre dann Herakles? Dammbeck lässt die Fragen ebenso eindringlich offen, wie er sie stellt. Das ist das Schmerzhafte, manchmal geradezu Grauenerzeugende an seinen Arbeiten. Gibt es eine Möglichkeit, die globalisierte Welt durchschaubarer zu machen – ohne Gewalt? Wie kann der einzelne seine Autonomie behaupten, ohne durch die Teilhabe an moderner Technologie zugleich deren Gefangener zu werden? Sind künstlerisch-ästhetische Systeme als Modelle befreiten Lebens überhaupt noch denk- und lesbar – oder stehen sie längst im Dienst ganz anderer Interessen? Können wir ohne Utopien fortexistieren – und sind solche in Kunst und Gesellschaft vorstellbar, ohne in neue totalitäre Formen zu münden?
Lutz Dammbecks Gesamtwerk ist eine hochkomplexe Variation dieser und noch mancher anderer Fragen. Wie und woher sollte er Antworten haben?
Ich freue mich, Lutz Dammbeck jetzt den Käthe-Kollwitz-Preis in Form dieser Mappe mit Urkunde und Scheck überreichen zu dürfen.
Tonmitschnitte der Preisverleihung
Laudatio (Matthias Flügge)