Schwindel der Wirklichkeit Theater und Wirklichkeit
Dokumentartheater heute: Versuche über die unbekannte Gegenwart
In den 1960er Jahren thematisierten investigative Dramatiker wie Rolf Hochhuth und Heinar Kipphardt die jüngste Vergangenheit im Theater. Heute präsentieren Dokumentartheatermacher die Gegenwart als Readymades oder rekonstruieren jüngste Gerichtsprozesse. Ist das nur eine Beschleunigung oder zeugt es von einer veränderten Funktion des Theaters? Der Publizist Thomas Irmer bringt verschiedene Künstler-Generationen ins Gespräch: Helgard Haug (Rimini Protokoll), Rolf Hochhuth, Hans-Werner Kroesinger und Milo Rau.
Helgard Haug (*1969) hat am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft studiert und bildet seit dem Jahr 2000 gemeinsam mit Daniel Wetzel und Stefan Kaegi das Autoren-Regie-Team Rimini Protokoll. Die Gruppe nähert sich politischen und gesellschaftlichen Realitäten, indem sie die Personen, die in ihnen leben („Experten des Alltags“), direkt befragt und in die Inszenierungen, Hörspiele, Filme oder Installationen einbezieht. So erklärten sie 2009 eine Hauptversammlung der Daimler Benz AG zum Theater, bringen in ihrem „100 Prozent Stadt“-Format seit 2008 weltweit Bürger als lebendige Statistiken auf die Bühne und gehen in ihrer neuesten Arbeit „Situation Rooms“ den Biografien von 20 Menschen nach, deren Leben mit Waffen verbunden sind, wobei die Zuschauer in einer Rauminstallation jeder für sich auf deren Spuren wandeln. Neben zahlreichen Einzelpreisen errang Rimini Protokoll 2011 den Silbernen Löwen der 41. Theaterbiennale in Venedig für ihr Gesamtwerk. „Karl Marx: Das Kapital“ wurde 2007 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet.
Rolf Hochhuth (*1931) ist Schriftsteller und gilt als maßgeblicher Anreger des dokumentarischen Theaters der 1960er Jahre. Er absolvierte eine Buchhändlerlehre und arbeitete in verschiedenen Buchhandlungen in Marburg, Kassel und München. Nebenher war er Gasthörer an den Universitäten in Heidelberg und München. 1955-1963 war er als Lektor im Bertelsmann-Lesering tätig. 1963 wurde sein erstes Schauspiel „Der Stellvertreter“ unter der Regie von Erwin Piscator am Theater am Kurfürstendamm in Berlin uraufgeführt. Das Stück, in dem historische Personen mit fiktionalen Texten auftreten, prangert die Haltung von Papst Pius XII. gegenüber dem Holocaust an. Das heftig diskutierte Stück wurde ein Welterfolg und leitete eine stark politisierte Phase im deutschsprachigen Theater ein. Zahlreiche dramatische Auseinandersetzungen Hochhuths mit sozialen, historisch politischen und gesellschaftlichen Stoffen folgten („Juristen“ 1979, „Ärztinnen“ 1980, „Wessis in Weimar“ 1993). Hochhuth blickt auch auf ein umfangreiches essayistisches Werk zurück und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Der Schwerpunkt seiner Themen liegt auf der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Thomas Irmer ist Theaterwissenschaftler, Dramaturg und Publizist. Bis 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Amerikanistik der Universität Leipzig, danach Chefredakteur von Theater der Zeit bis 2003, anschließend Dramaturg der spielzeit europa bei den Berliner Festspielen bis 2006. Mehrere Veröffentlichungen zum Dokumentarischen im Gegenwartstheater u.a. in dem von Carol Martin edierten Sonderband „Documentary Theatre“ von The Drama Review (2006). Letzte Buchveröffentlichung: Andrzej Wirth – Flucht nach vorn. Gesprochene Autobiografie und Materialien (spector books Leipzig 2013).
Hans-Werner Kroesinger (*1962) ist Regisseur und Autor und seit vielen Jahren ein wesentlicher Vertreter des zeitgenössischen Dokumentartheaters. Während seines Studiums in Angewandter Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen bei Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann, arbeitete Kroesinger als Regieassistent und Dramaturg für Robert Wilson. 1989 war er künstlerischer Mitarbeiter bei Heiner Müllers „Hamlet/Hamletmaschine“ am Deutschen Theater Berlin. Seit 1993 inszeniert er sowohl im Stadt- und Staatstheater als auch in der freien Szene, zuletzt am Bayerischen Staatsschauspiel, dem ZKM Karlsruhe und der Staatsoper Stuttgart, an der Shouwburg Rotterdam und in Berlin an der Volksbühne, dem Berliner Ensemble, dem Theater Hebbel am Ufer und den Sophiensaelen. Kroesinger verbindet häufig historische Dokumente mit literarischen und journalistischen Texten. Er thematisierte u.a. den Eichmann-Prozess, den Deutschen Herbst, den Militäreinsatz im Kosovo und die Geschichte des Kolonialismus in Afrika. 2007 erhielt der Regisseur den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin für seine Kinder- und Jugendtheaterinszenierung „Kindertransporte“ im Berliner Theater an der Parkaue.
Milo Rau (*1977) ist ein Schweizer Regisseur und Autor. Er studierte Germanistik, Romanistik und Soziologie an der Sorbonne in Paris, in Zürich und Berlin. Seine Dissertation schrieb Rau über die Ästhetik des Reenactments. Er arbeitete als Journalist für die Neue Zürcher Zeitung. Seit 2003 ist Rau als Regisseur und Theaterautor im In- und Ausland tätig. Zur Produktion und internationalen Verwertung seiner Reenactments politischer Ereignisse und Prozesse gründete er 2007 das IIPM (International Institut of Political Murder). Zu seinen stets spektakulären, in internationalen Koproduktionen entstehenden Arbeiten zählen „Die letzten Tage der Ceausescus“ (2009/10), „Hate Radio“ (2011/12) „Breiviks Erklärung“ (2012) und „Die Moskauer Prozesse“ (2013). „Hate Radio“ wurde 2012 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Soeben erschien über ihn die Publikation "Die Enthüllung des Realen" im Verlag Theater der Zeit.
Für ein Jahr widmet sich die Akademie der Künste dem Thema „Schwindel der Wirklichkeit“.
1. v.l.n.r. Thomas Irmer, Rolf Hochhuth, Milo Rau, Hans-Werner Kroesinger, Helgard Haug; Foto David Baltzer
2. Hans-Werner Kroesinger, Helgard Haug; Foto David Baltzer
3. Helgard Haug; Foto David Baltzer
4. Rolf Hochhuth, Milo Rau; Foto David Baltzer