"Wohin stürmst du, Russland?" Literatura – ein russisch-deutscher Dialog
In der Mitte des 19. Jahrhunderts rechnet der russische Schriftsteller Nikolai Gogol in seinem satirischen Roman „Tote Seelen“ mit der politischen Situation in Russland ab. Und heute? Im Russland des 21. Jahrhunderts gehen Schriftsteller auf die Straße und äußern in Protestkundgebungen ihren Unmut über Wahlfälschungen, Amtsmissbrauch und kulturelle Verelendung. So auch die junge Autorin Natalja Kljutscharowa: „Jetzt wissen wir, dass dies unser Land ist, dass wir es in der Hand haben.“ Neue, jüngere Stimmen melden sich zu Wort, aber auch die etablierten Autoren.
Bei „Literatura“ werden in Debatten, Gesprächen und Lesungen Autoren vorgestellt, die die aktuelle literarische und politische Diskussion in Russland prägen.
Mit Ljudmila Ulitzkaja, Lew Rubinstein, Zakhar Prilepin, Natalja Kljutscharjowa, Julia Kissina, Maria Stepanowa, Andrej Bitow, Wassili Golowanow, Ingo Schulze, Monika Rinck u.a.
Mit freundlicher Unterstützung der Bundeszentrale für Politische Bildung
Programm
18 Uhr
Lesung
Andrej Bitow aus "Der Symmetrielehrer"
mit Rosemarie Tietze
Lesung aus der deutschen Übersetzung: Hanns Zischler
Andrej Bitow, geboren 1937 in Leningrad, veröffentlicht seit 1959 Prosa, Essays und Reiseberichte. Ende der 1970er Jahre beteiligte er sich am Untergrund-Literaturalmanach "Metropol". Daraufhin erhielt er bis zur Perestroika Publikationsverbot. Sein epochemachender Roman "Das Puschkinhaus" (geschrieben 1964–71) gehört heute zu den Klassikern der russischen Literatur und gilt als eines der Hauptwerke der Postmoderne. Bitow erhielt für sein Werk zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Alexander-Puschkin-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung (1989), den Staatspreis der Russischen Föderation (1996) und den Brücke-Berlin-Preis (2008). In seinem jüngsten Roman "Der Symmetrielehrer" (Suhrkamp Verlag 2012) setzt sich Bitow mit Russland "als Versuch Gottes, die Zeit durch den Raum zu ersetzen" auseinander. Seine langjährige Übersetzerin Rosemarie Tietze stellt im Gespräch mit dem Autor diesen hochkomplexen Roman vor.
19.45 Uhr
Lesung
Zakhar Prilepin aus "Sankya"
Einführung und Gespräch mit Tim Neshitov, Erich Klein
Lesung aus der deutschen Übersetzung: Meike Schlüter
Zakhar Prilepin, geboren 1975 in Ilinka (Nähe Rjasan), studierte in Nishni Nowgorod Linguistik und nahm als Soldat im Tschetschenienkrieg teil, worüber er auch einen Roman schrieb. Seine Bücher sind in über 20 Sprachen übersetzt. Als Nationalbolschewik und Anhänger der Koalition "Anderes Russland" beteiligte er sich 2007 am "Marsch der Nicht-Einverstandenen". Er gehörte zu den Unterzeichnern des Oppositionspapiers "Putin muss weg" (2010) und gründete mit dem Blogger Alexej Nawalny die nationaldemokratische, regierungskritische Bewegung "Das Volk". Zakhar Prilepin, Wegbegleiter des Schriftstellers und Lebemanns Eduard Limonow, ist nicht nur in seiner Heimat umstritten, in Kreisen der jüngeren Generation hat er Kultstatus. Sein Revolutionsroman "Sankya" wurde in Russland als eine "Art Manifest der Nationalbolschewiken" begriffen, die deutsche Übersetzung von Erich Klein und Susanne Macht erschien im Herbst 2012 bei Matthes & Seitz. Der Text steht in der Tradition des russischen Realismus, kritisiert die Verhältnisse in Russland und zeigt die Folgen von politischer Radikalisierung und Gewalt.
21.30 Uhr
Lesung
Julia Kissina aus "Frühling auf dem Mond"
und Natalja Kljutscharjowa
Einführung und Gespräch mit Marina Neubert
Lesung aus der deutschen Übersetzung: Meike Schlüter
Julia Kissina, geboren 1966 in Kiew, studierte an der Moskauer Filmhochschule und der Akademie der Bildenden Künste München. Sie gehörte den Moskauer Konzeptualisten an und war eine wichtige Vertreterin der Underground-Literatur. In den 1990er Jahren entwickelte sie in ihren Kunstaktionen das Verfahren der "performativen Fotografie". 2006 gründete sie die "Dead Artists Society", die in spiritistischen Sitzungen Gespräche mit verstorbenen Künstlern wie Malewitsch und Repin führte. In ihrem gerade bei Suhrkamp erschienenen Roman "Frühling auf dem Mond" beschreibt Julia Kissina ihre sowjetische Kindheit vor dem Hintergrund des physischen und ideellen Zerfalls der Stadt Kiew und ihrer Bewohner.
Natalja Kljutscharjowa, geboren 1981 in Perm, arbeitete nach ihrem Studium an der Pädagogischen Hochschule von Jaroslawl zunächst als TV-Nachrichtenredakteurin. Nachdem sie 2002 als Lyrikerin debütiert hatte, erschien 2006 ihr erster Roman, der 2010 auf Deutsch unter dem Titel "Endstation Rußland" erschien. Ihr Erstling ist eine schillernde Enzyklopädie des heutigen Russlands und reflektiert gleichzeitig das Thema Revolution in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Auch in ihrem 2012 auf Deutsch erschienenen Roman "Dummendorf" (Suhrkamp) zeigt Natalja Kljutscharjowa Fragmente der russischen Realität und äußert ihre Skepsis gegenüber radikalen Lösungen.