Kontrolle und Zufall. Konzerte
In einer einmaligen historischen Situation trafen um die 1950er Jahre Kontrolle und Zufall in der Neuen Musik in extremem Gegensatz aufeinander. Die führenden Komponisten im Umkreis der Darmstädter Ferienkurse, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen, hatten mit den seriellen Verfahren gerade einen radikalen Neubeginn des kompositorischen Schaffens eingeleitet, als mit John Cage und Iannis Xenakis kurze Zeit darauf völlig andere Denkansätze ins Spiel kamen. Sie setzten den geschlossenen, perfekt durchkonstruierten Systemen Zufalls- und Wahrscheinlichkeitsstrategien entgegen, die an modernes wissenschaftliches Denken anknüpfen.
Der Konzertkomplex „Kontrolle und Zufall“ am 7. und 8. Oktober nimmt in diesem Spannungsfeld seinen Ausgang.
Das Programm folgt dem künstlerischen Wechselspiel von Kontrolle und
Zufall bis in die Gegenwart. Beispiele aus verschiedenen Generationen
stehen neben zeittypischen Erscheinungen, wie etwa die "offene Form" bei
Earle Brown oder Christopher Trebue Moore, der sich auf die
Chaostheorie bezieht. In den meisten Konzepten verbinden sich
konstruktives Denken und Zufallsprozesse in charakteristischer Weise. So
setzen Brian Ferneyhough und Friedrich Goldmann ganz gezielt
strukturell-formale Brüche in ihren Werken ein. Erhard Grosskopf
kombiniert Proportionssysteme mit Zufallsauswahl der Klänge. In
"Correspondences" führt Vinko Globokar das Verfahrensspektrum gleich in
voller Spannweite vor, vom fixierten Notenbild bis zur freien
Improvisation. Wie Heinz Holliger in "Cardiophonie" oder Hans-Joachim
Hespos setzt er gegen die perfekten Organisationsmodelle auf die Unwäg-
und Unberechenbarkeiten des realen Lebens.
Der Körper, das Geräusch, Umwelterfahrungen, Klangmassen und -mengen,
oft im Zusammenhang mit den neuen technischen Medien, bestimmen, je
jünger die Komponisten sind, desto stärker die kompositorische Praxis.
Ein ergiebiges Experimentierfeld eröffnet die Live-Elektronik. Thomas
Kessler, Ludger Brümmer, Ana Maria Rodriguez sind hier mit spannenden
Arbeiten vertreten. Dass Anregungen wie die "mobile Form" von Pierre
Boulez nach wie vor zur Auseinandersetzung reizen, zeigt
"berstend-starr" von Johannes Schöllhorn. Die beiden jüngsten
Positionen, Ulrich Kreppein und Johannes Kreidler, differieren in ihrem
höchst unterschiedlichen Kontinuitäts - und Technikbewusstsein.
In das Musikprogramm eingebettet sind Informationen zum
naturwissenschaftlichen und philosophischen Hintergrund des Themas. Jan
C. Schmidt, Wissenschafts- und Technikphilosoph, sowie die Historiker
Arnd Hoffmann und Peter Vogt erzählen vom kreativen Potential des
Zufalls.
Abschlussereignis jeden Tages ist die Aufführung von Xenakis’ opulentem
Schlagzeugstück „Persephassa“, das zudem noch am 09. Oktober nachmittags gespielt wird.
>> Programm 7. Oktober (zum Programm am 8. Oktober)
durchgehend, Foyer
Etudes interactives
Interaktive Installation. Ludger Brümmer, Komposition, Götz Dipper, Idee und Konzept
18:00 Konzert, Studio
Johannes Kreidler windowed 1 Version 1 [2006] für Schlagzeug und Zuspielung, Stil 1c [2010/11] für Piccoloflöte, Baritonsaxophon, Vibraphon und Zuspielung
Ulrich Alexander Kreppein Nachtschattenwirbel (Phantasiestücke Nr.2) [2008-10] für Ensemble
Hans-Joachim Hespos t a n E K - elektroAkustische spur und improvisierender kontrabaß [2011] UA
18:45 Vortrag, Studio
Jan C. Schmidt Über das Glück des Zufalls: Der kreative Zufall in den Wissenschaften
20:00 Konzert, Studio
Iannis Xenakis Anaktoria [1969] für acht Instrumente
John Cage Etudes Boreales [1978] für Klavier und Violoncello
Karlheinz Stockhausen Kontra-Punkte [1952-53] für 10 Instrumente
21:00 Konzert, Ausstellungshalle 2
Erhard Grosskopf Streichtrio [2003] für Violine, Viola und Violoncello
Vinko Globokar Correspondences [1969] für vier Solisten
22:00 Konzert, Ausstellungshalle 2
Iannis Xenakis Persephassa [1969] für 6 Schlagzeuger
>> Mitwirkende
Kammerensemble Neue Musik Berlin
Manuel Nawri, Dirigent
Matthias Bauer, Kontrabass
Les Femmes Savantes
Sabine Ercklentz, Trompete, Pfeifen
Ute Wassermann, Stimme, Pfeifen
Ana Maria Rodriguez, Live-Elektronik
Persephassa
Maria Schneider, Daniel Buess, Matthias Engler, Jürgen Grözinger, Fran Lorkovic, Max Riefer, Schlagzeug,
Leitung Michael Wertmüller
Technische Realisierung: Studio für Elektroakustische Musik der Akademie der Künste
Programmheft der Konzertreihe "Kontrolle und Zufall"
Den Vortrag "Über das Glück des Zufalls" hielt:
Jan C. Schmidt, geboren 1969, Studium der Physik, Philosophie, Soziologie und Pädagogik in Heidelberg, Glasgow, Mainz, Darmstadt. Diplom und Promotion in theoretischer Physik; Magister und Habilitation in Philosophie, zudem 1. Staatsexamen. Professor for Philosophy of Science and Technology am Georgia Tech in Atlanta, 2006-08; seit 2008 Professor für Wissenschafts- und Technikphilosophie an der Hochschule Darmstadt und seit 2011 außerdem Vertretungsprofessur Naturphilosophie an der Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschafts-, Technik- und Kulturphilosophie, Interdisziplinaritätsphilosophie, Technikfolgenabschätzung, Angewandte Ethik, Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Chaos-, Selbstorganisations- und Komplexitätstheorie. Publikationen u. a. Instabilität in Natur und Wissenschaft. Eine Wissenschaftsphilosophie der nachmodernen Physik, De Gruyter, Berlin, 2008. Über die Schönheit in Natur und Physik. Der Glanz der Natur im Lichte der Physik; In: Scheide-wege 40, 2010, 63-77
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