Unerzählte Geschichten aus Deutschland Gespräche zur Filmdramaturgie

Podiumsgespräch

Die Sektion Film- und Medienkunst setzt ihre Gespräche zur Filmdramaturgie fort. Dieses Mal geht es um die Frage, wie die Wirklichkeit in den Film kommt. Was sagen die deutschen Filme über unser Land aus und wie ist das Verhältnis zwischen dem Erzählten und dem Unerzählten?

Christiane Voss, Professorin für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar wird mit einem Impulsvortrag den Abend eröffnen.

Das Podium versammelt Filmemacher und Kritiker: Eingeladen ist der Filmemacher Hans-Christian Schmid, Mitglied der Akademie der Künste, Filme u. a. „Requiem“ / 2006, „Sturm“ / 2009, dessen jüngster Film „Was bleibt“ im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale zu sehen war und im Herbst in die Kinos kommt. Carmen Losmanns Dokumentarfilm „Work Hard - Play Hard“ ist aktuell in den Kinos zu sehen. Der Kulturjournalist und Autor Bert Rebhandl (Cargo) wird sich als Kenner der sehr unterschiedlichen Filmländer Deutschland und Österreich dem Thema nähern. Das Gespräch wird von dem Filmkritiker Rüdiger Suchsland moderiert.

Mittwoch, 2.5.2012

19 Uhr

Pariser Platz

Plenarsaal

Mit Hans-Christian Schmid, Carmen Losmann, Christiane Voss, Bert Rebhandl und Rüdiger Suchsland (Moderation)
Eintritt frei
Dokumentation
Einführungsvortrag von Jutta Brückner, Filmemacherin und Direktorin der Sektion Film- und Medienkunst der Akademie der Künste
(© die Autorin)

Dominik Graf hat in einem langen Artikel in der ZEIT seinem Horror am deutschen Film Luft gemacht. Er wünscht sich „Spektakel, brüllendes Gelächter, Jahrmarkts-Schock“ im deutschen Kino, stattdessen bekommt er einen Haufen „Besinnungsaufsätze“, die in Themenfilmen enden. Allgemeiner bekannt sind solche Filme als Qualitäts- oder auch Arthouse-Kino. Das klingt wie die Wiederholung einer Debatte, die man schon vor ca. 20 oder mehr Jahren hatte. Damals nannte man es Zutatenkino und stellte es dem Autorenfilm gegenüber, heute ist es angesichts der Blockbuster zum Autorenkino geworden und die Arthouse-Kinos seine einzige Abspielstätte. Auf die Bezeichnung Subventionskino, Förderfilmkino, Festivalkino, Museumskino, die man dafür heute auch hört, wäre damals niemand gekommen, denn es war ausgemacht, dass in Deutschland das Kino ohne Subventionen nicht überleben kann, und dass Filme auf Festivals liefen, galt nicht als etwas Schändliches, sondern als eine Auszeichnung. Und auf die Idee, dass die Entwicklung so laufen würde, dass dieses Kino nur noch Teil eines Museumskomplexes sein könnte, sind damals nur wenige gekommen. Trotzdem sind die Fronten, die Graf hier nicht zum ersten Mal aufgerissen hat, die von gestern.

In seinem Artikel ist ein Ton angeschlagen, der so überreizt ist, wie die Debatte, die dann von einigen Filmkritikern aufgenommen wurde. Es sind ein paar Zuschreibungen gefallen, die den deutschen Film kennzeichnen sollen: relevanzbeflissen, konsenswütig, themenfixiert, wohltemperiert. Allein die Zusammenstellung der sich widersprechenden Adjektive zeigt, dass hier ziemlich blindwütig auf etwas eingehauen wird. Aber dass Grafs Philippika so breit diskutiert worden ist, zeigt auch, dass Unmut im Lande herrscht. In dieser aufgeheizten Debatte geht vieles durcheinander: Grafs sehr persönliche Sehnsucht nach den kleinen schmutzigen B-Movies, den trivialen Genrefilmen mit ihrer Attraktivität juveliner, viriler, maskuliner Helden im Milieu des Kleinverbrechens; das Autorenfilmbashing derer, die den massenkompatiblen Film ersehnen; die Sehnsucht nach deutschen Stars, in deren Glanz wir uns alle sonnen könnten, wenn das denn unser heißer Wunsch wäre; der Ärger über die falsche Konstruktion der deutschen Filmakademie und der in diese Konstruktion eingebaute Neid der einen auf die anderen. Und wahrscheinlich noch einiges mehr. Man schlägt den Esel, wenn man den Boten meint, denn diese widersprüchlichen Attacken gegen den deutschen Film richten sich weitgehend nicht gegen die Filme, die wir im Kino, sondern gegen die, die wir im deutschen Fernsehen sehen, besonders bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten.

Ganze Genres sind in das Fernsehen abgewandert. Dazu zählt vor allem der Kriminal- und Polizeifilm, der inzwischen das Fernsehen auf allen nur denkbaren Programmplätzen beherrscht. Die Entwicklung begann vor 20 Jahren und wurde abgesegnet durch einen Satz eines leitenden Redakteurs im ZDF, dass dem Zuschauer realistische Geschichten nur noch im Gewand des Krimis zugemutet werden können. Die breite Palette an Filmformen, die im Fernsehen bis vor Einführung des dualen Systems zu sehen war, ist geschrumpft auf die immer gleiche Verbrecherjagd. Wenn es Themenfixiertheit gibt, dann hier, wo ein Tatort dann als besonders gelungen gilt, wenn man über sein „gesellschaftlich relevantes Problem“ hinterher in einer Talkshow reden kann.

Man mag und man muss das – zum wiederholten Male – beklagen und kritisieren, aber man sollte sich nicht auf einen Kino-Romantizismus zurückziehen, der sich mit dem Geniediskurs verbündet hat. Der „kleine, schmutzige Film“, der weder industrielles Vorgehen, Arbeitsteiligkeit und Planbarkeit hoch hängt, sondern auf Originalität, schöpferische Begabung, kreativen Regelbruch und - ganz wichtig - das instinktsichere Auftreten seines Schöpfers setzt, wird nie ganz verschwinden, aber er ist marginalisiert. Wie kein anderer hat der frühe Fassbinder dafür gestanden. Aber schon er hatte genau gesehen, wann es damit zu Ende war.

Diese Krimischwemme wird vielleicht irgendeinen Kulturwissenschaftler in einer nahen Zukunft zu der Aussage bewegen, dass es sich hier um eine neue hysterische Biedermeierlichkeit handelt, die sich am ewigen Verbrechen berauscht, das real nicht zu fürchten ist, in dem aber die Ängste einen Platz finden, die aus ganz anderen Konstellationen kommen, als denen des kleinkriminellen Untergrunds. Denn wir leben ja in einer Zeit sich überschlagender technologischer Entwicklungen bei gleichzeitigem politischem Stillstand. Ein Kritiker hat in seiner Betrachtung des deutschen Filmpreises genau das beobachtet, dass nämlich in der vom ihm so genannten „Bräsigkeit der Preisentscheidungen auch ein Stück Abwehrzauber gegen die digitale Krise steckt.“ Aber darüber wird in Deutschland nur dann geredet, wenn es um die technologische Umrüstung der Kinos geht, um Branchensorgen und Standortfragen. Was dieser Prozess aber für die Filme in ihrer erzählerischen Fragilität bedeutet, wird viel zu selten diskutiert. Oder besser: Es wird nur so oberflächlich darüber gesprochen, wie man in Deutschland generell oberflächlich über Film redet. Es ist schon erstaunlich, wie sehr man sich hierzulande gegen einen analytischen Diskurs übers Kino sperrt zugunsten der Art von Geschmacksurteilen, wie sie auf facebook stehen: like oder like not.

In diesem Vorgang bricht sich ein altes Problem neue Bahn: Intellektualität ist in der deutschen Kinoszene unsexy. Kein französischer oder auch amerikanischer Regisseur von Rang, und das gilt keinesfalls nur für die Regisseure des Independent Kino, leistet es sich, das analytische und historische Nachdenken über Filme so zu missachten wie es für viele deutsche Regisseure normal ist. Über Filme reden bedeutet in Deutschland zu oft nur: Drehberichterstattung oder Personality-show, Geschmackurteile und Star-Gossip. Diskussionen über die Filmsprache und das Nachdenken über die Gesellschaft, für die die Filme ja gemacht werden finden nur unter Einzelnen statt, weil man fälschlich annimmt, wenn man sich Gedanken über die Gesellschaft macht, dann sei man im Relevanz-Diskurs oder, um mit Graf zu reden, man sei beim akademischen Film, was auch immer das sein soll.

Kino und Filme waren immer Lebensgefühl - und es war immer mehr als das. Das Schimpfwort „Themenkino“, das reichlich gefallen ist in dieser Diskussion, zeigt diesen Mangel. Es wird auf Inhalte abgehoben, nicht auf die Form, in der erzählt wird. Es kann nicht darum gehen, zu beklagen, dass Filme ein Thema haben, sondern es muss darum gehen, in welcher Weise sie es behandeln. Selbstverständlich hat auch Barbara von Christian Petzold, ein Film, der von fast allen sehr geschätzt wird, ein Thema, ist auch dieser Film „relevant“ und selbstverständlich kann man ihn ebenso dümmlich zusammenfassen wie man andere vermeintliche „Themenfilme“ zusammenfasst: Ärztin, die Ausreiseantrag gestellt hat, tritt ihre Fluchtmöglichkeit an straffällig gewordene Jugendliche ab, weil sie sich in Arzt verliebt hat. Alle, die diesen Film lieben, wissen, dass ihn das nicht charakterisiert. Dass es vielmehr die Art seiner Bildersprache ist, die ihn zu etwas Besonderem macht. Aber die Abwesenheit von irgendeinem Differenzierungsvermögen und die Undurchdachtheit des deutschen Diskurses geben sich mit Schimpfen und unklaren Begriffen zufrieden wie dem des „Relevanzkinos“. Benachbarte Kunstdisziplinen geben offen zu, dass sie Klärungsbedarf haben, was das Verhältnis von Politik und Kunst und ihrer gesellschaftlichen Relevanz betrifft.

Wer nur etwas von Film versteht, versteht nichts von Film. Und so wird Barbara nicht nur zum Aufhänger für ein Unbehagen, das weit mehr meint als nur eine vielleicht misslungene Preisverleihung. Der Film wird –¬geradezu mit Wut ¬– kanonisiert und zur Ikone und seinem Regisseur Christian Petzold wird damit die Last des deutschen Films auf die Schultern gelegt, womit er hoffnungslos überfordert ist. Denn es wäre schon interessant, sich Gedanken darüber zu machen, wie weit seine Fabel auch eine (west-)deutsche Phantasie über (ost-)deutsche Authentizität jenseits von genauen Rekonstruktionen von Wohnungen ist. Und man sollte sich ebenso viele Gedanken darüber machen, ob nicht ein Film wie Halt auf freier Strecke nicht nur kruder Naturalismus ist, sondern auch auf eine Angst antwortet, dass der Mensch in seinem Leben und seiner Arbeit so geformt, gestutzt und digitalisiert wird, wie etwa Carmen Losmann es in den Bildern ihres Dokumentarfilms Work Hard – Play Hard gerade beeindruckend gezeigt hat.

Über all dies müsste gesprochen werden an vielen Stellen und unter vielen Beteiligten, analytisch und ohne Angst, durch Nachdenken den Kern des Filmerlebens zu beschädigen. Denn Film ist nicht nur das ganz große Gefühl, wie jedes Filmplakat es einem entgegen schreit oder das politische Statement, das wichtig wird, wenn an anderer Stelle darüber nichts zu sehen oder zu hören ist. In diesem vielstimmigen Chor, der sich im Umfeld der Filmpreisvergabe hören ließ, sind sehr unterschiedliche Vorstellungen enthalten, was der deutsche Film denn sein könnte oder sollte. Von der (typisch deutschen) Sehnsucht nach Glanz und Glamour und Weltgeltung bis zum Grübeln über neue Formen des Autorenfilms. Das Kino mit den Filmen, die dafür gemacht wurden, war der Ort eines kollektiven Rituals. Dieser Ort hat an Schönheit, Verbindlichkeit und Wahrheit eingebüßt, seit man Filme überall zu jeder Tages- und Nachtzeit und in jeglicher Form sehen kann. Grundlegende Fragen, wie dieses Ritual in einer neuen Mediengesellschaft aussehen kann und wo dieser Ort sein könnte, müssen beantwortet werden.

Für den Moment muss man wohl feststellen, dass die Schere zwischen dem Kunst- und dem Kommerzkino weiter offen ist: Anonymous mit einem Budget von rund 30 Millionen Dollar gegen Halt auf freier Strecke, der nur einen Bruchteil dieses Etats zur Verfügung hatte. Die 500.000 Euro Filmpreis-Geld sind für den von irgendeiner Untergesellschaft von Studio Babelsberg co-produzierten Shakespeare-Film ein besseres Trinkgeld, für Rommels Low Budget-Produktion sind sie ein wesentlicher Bestandteil der Finanzierung des nächsten Films. Der große deutsche Traum, dass Wirtschafts- und Kulturförderung eines sein sollten, ist ausgeträumt. Er stammt noch aus einer Zeit, da das Konzept des Autorenfilms in Hollywood „Autoren“ entdeckte. Aber in dem Maß, da Hollywood zu einer zunehmend leeren Hülle geworden ist, sind die erratischen Außenseiter auch dort zu einer raren Spezies geworden.

Die Preisverleihung hat gezeigt, wenn man es nicht schon vorher gewusst hat, dass das Verhältnis von Kunst und Demokratie nicht auf eine demokratische Abstimmung über den Wert eines Kunstwerks reduziert werden darf. Es hat in Zeiten der Gründung der deutschen Filmakademie Kritiker gegeben, die gehofft hatten, dass durch die Direktwahl der Preisträger endlich nur noch die Richtigen den Deutschen Filmpreis gewinnen würden. Das ernsthaft zu glauben setzte allerdings voraus, die Enttäuschungen aus vielen Jahren der Oscar-Preisverleihung zu ignorieren. Viele der preisgekrönten Filme kennen heute allenfalls noch die Archivare.

Man kann über alle möglichen Verfahren innerhalb der deutschen Filmakademie streiten, aber die grundsätzliche Fehlkalkulation ist die zu glauben, dass der deutschen Film mit seinem sehr begrenzten Einzugsgebiet in irgendeiner Weise mit Hollywood konkurrieren oder es auch nur nachahmen könnte. Bernd Eichingers Sehnsucht, die sich die politischen Mäzene in Deutschland zueigen gemacht haben, fehlt der filmwirtschaftliche und filmkulturelle Unterbau, hier ist lediglich das Geld. Das Beispiel Österreich, das dieses Jahr mit Ulrich Seidls „Paradies: Liebe“ und Hanekes (unter deutscher wie französischer Beteiligung zustande gekommenem) neuem Film „Liebe“ zwei Wettbewerbsfilme in Cannes sich zurechnen darf, sollte zu denken geben.