5.10.2021, 09 Uhr
Ein Wettstreit zwischen Ost und West
Der Nachlass Georg Kaisers an der Akademie der Künste
© Akademie der Künste
Ein Wettstreit zwischen Ost und West wurde am 5. Oktober 1956 zugunsten der Akademie der Künste in West-Berlin entschieden. Herbert von Buttlar, Präsidialsekretär der Akademie, und Margarethe Kaiser, Witwe des Dramatikers Georg Kaiser (1878–1945), unterzeichneten den Vertrag zur Gründung eines Georg-Kaiser-Archivs.
Fast zeitgleich hatten sich im Frühjahr 1956 Vertreter der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin im Ostteil der Stadt und Walter Huder, der an der Freien Universität in West-Berlin über Kaiser promoviert worden war, an Margarethe Kaiser gewandt. Sie war mit dem Schriftsteller seit 1908 verheiratet gewesen, hatte Höhen und Tiefen mit ihm durchlebt und durchlitten und war in Deutschland zurückgeblieben, als er vor den nationalsozialistischen Machthabern floh.
Wer war der heute nahezu vergessene Schriftsteller, um dessen künstlerische Hinterlassenschaft man sich auf beiden Seiten der Berliner Demarkationslinie so heftig bemühte? 1926 zum Mitglied der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste gewählt, galt er in der Weimarer Republik als einer der meistgespielten Dramatiker auf deutschsprachigen Bühnen. Seinen künstlerischen Durchbruch erzielte der aus Magdeburg stammende Autor 1917 mit der Uraufführung des expressionistischen Stückes Die Bürger von Calais. Weitere große Erfolge schlossen sich mit der Gas-Trilogie und dem Stationendrama Von morgens bis mitternachts an. In seinen Werken traf Kaiser den Nerv der Zeit. Sprachlich zugespitzt und brillant konstruiert, transportierten sie auf der Bühne sozial- und gesellschaftskritische Wahrheiten. Von Königsberg, das damals noch zu Preußen gehörte, bis Aachen, von Kiel bis Wien standen sie auf dem Spielplan. Zeitlos aktuell fragte der Autor nach der Macht des Geldes, nahm die globalen Folgen entfesselter Technik künstlerisch vorweg und bediente sich neuer ästhetischer Formen. In der Akademie trat er mit unkonventionellen, auch provokanten Ideen hervor. Seine Vorschläge für Zuwahlen von Mitgliedern waren von einer modernen Kunstauffassung getragen. 1933 brach Kaisers Karriere jäh ab. Ohne Aussicht auf Bühnenpräsenz und Einkünfte, versuchte er Kontakte ins Ausland zu knüpfen und emigrierte schließlich 1938 über Holland in die Schweiz. Dort verbrachte er die Exiljahre, zur Wirkungslosigkeit verurteilt, unter materiell und psychisch belastenden Umständen und starb am 4. Juni 1945 in Ascona.
Seine in Bayern lebende Witwe war nicht abgeneigt, den Nachlass nach Ost-Berlin zu geben, da ihr eine sechsbändige Werkausgabe, angesiedelt beim Verlag Volk und Welt, in Aussicht gestellt worden war. Überdies hatte die Ost-Akademie bereits seit ihrer Gründung 1950 mit der Archivierung und Erforschung literarischer Nachlässe begonnen. Walter Huder konnte Margarethe Kaiser von ihrem ursprünglichen Entschluss jedoch wieder abbringen. Er argumentierte, dass eine Ausgabe der Werke Georg Kaisers in der DDR nur zensiert und „bereinigt“ würde erscheinen können, und beschwor die Kulturverantwortlichen des West-Berliner Senats, den Kaiser-Nachlass für diesen Teil der Stadt und damit für die freie Welt zu gewinnen. Weil mit der Ost-Akademie die höchste Kunstinstanz der DDR konkurrierte, kam im Prinzip nur die Gründung eines eigenen Archivs infrage. Ein solches gab es bisher nicht, auch war die West-Akademie noch im Aufbau begriffen. Huder setzte sich aber durch. Mit Hunderten von Briefen und Postkarten Georg Kaisers an seine Familie und den Manuskripten seiner literarischen Werke begann an der Akademie der Künste in West-Berlin – damals noch in Dahlem – das Sammeln künstlerischer Archiv-Bestände.
Sabine Wolf