17.9.2021, 09 Uhr
Schwindel der Wirklichkeit
Das metabolische Büro zur Reparatur von Wirklichkeit
© Akademie der Künste
Der Programmschwerpunkt „Schwindel der Wirklichkeit“ im Herbst 2014 machte die Akademie der Künste zu einem Labor ästhetischer Fragen, zum dynamischen Modell, zum Ort des Austauschs zwischen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden, zum Verhandlungsraum von Diskursen zur Gegenwart.
In insgesamt 32 Gesprächsrunden im sogenannten Vorbereitungsbüro, die am Hanseatenweg analog stattfanden und zugleich als Livestream digital vermittelt und global rezipiert wurden, geriet „Schwindel der Wirklichkeit“ zum Piloten einer analog und digital gleichzeitig produzierenden Kulturpraxis, wie sie sechs Jahre später in der Corona-Pandemie zur Notwendigkeit wurde.
In der Kooperation zwischen den Sektionen und den Künstler*innen aus allen medialen Bereichen wurde die Frage gestellt, ob und in welcher Weise die Künste die Wirklichkeit, die Ordnungen von Öffentlichkeit und Gesellschaft, den politischen Raum vordenken, verändern und entwerfen können. In einer groß angelegten diskursiven und praktischen Werkstatt erprobten Künstler*innen ihre wegeweisende Rolle zur Konstruktion und Dekonstruktion von Wirklichkeit, eine Rolle, die erst auf einer zweiten Ebene ihre politische und gesellschaftliche Bedeutung entfaltete. Dabei ging es freilich nicht um die vordergründige Setzung politischer Themen, sondern um die radikale Untersuchung der eigenen Mittel, des eigenen Werkzeugkastens und um die Bedeutung von Grammatiken künstlerischer Sprachentwicklung und Sprach-Dekonstruktion, einer ästhetischen Tiefenbohrung zum Thema der Virtualität.
Das konzeptuelle Bindeglied zwischen der gleichnamigen Ausstellung mit Closed Circuit-Installationen, Computer-Spielen, partizipativen Performances, der Bildproduktion durch Maschinen, einer Schauspielerinstallation „Spielweisen“ und weiteren Veranstaltungen war das „Metabolische Büro zur Reparatur von Wirklichkeit“, wobei die einzelnen Begriffe jeweils ein Thema vorgaben: „Metabolismus“ wurde von uns als Methode zur „Therapie“ von Wirklichkeit verstanden, als Möglichkeit, Durchlässigkeit zu erzeugen und die Potenziale von Gesellschaft zu entwickeln – auch in Reaktion auf die Folgen der Finanzkrise 2008, die die Bedrohung der Realwirtschaft durch den virtuellen Finanzmarkt sichtbar machte. Metabolismus hieß für uns, nicht einfach einmal gefundene Lösungen weiterzuverfolgen, sondern die Versuchsanordnungen immer wieder zu verändern – ganz im Sinne Willy Brandts, der nach Egon Bahr gesagt haben soll, wenn eine Situation sich im Konfliktfall verhärtete, wenn eine Situation verfahren war: „We have to rearrange the Scene.“
Der Begriff „Büro“ als ein Ort des Gestaltens veranlasste uns, über den westlichen Begriff von Arbeit und die damit verknüpften Sozialisierungspraktiken nachzudenken. Wir sahen das Büro als eine Referenz an die Soziale Plastik, an Joseph Beuys und seine Initiative für direkte Demokratie auf der „documenta 5“ mit dem Titel „Befragung der Realität“.
Den Begriff der „Reparatur“ verbanden wir nicht nur mit der Vorstellung, etwas, das nicht mehr funktioniert, wieder funktionstüchtig zu machen, sondern als ein Nachdenken darüber, was er mit Sorge und Sorgfalt, mit der Möglichkeit des Heilens, der Erhaltung von Bestehendem in der Transformation zu tun hat – im Sinne des oben erwähnten Neu Arrangierens. Reparieren können wir nur in der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit. Bist du wirklich? War ein Werbeslogan für ein Projekt, das während der Artweek Berlin am 17. September 2014 mit 7.000 Besuchern eröffnet wurde.
Johannes Odenthal und Manos Tsangaris