9.3.2021, 09 Uhr
Die Freiheit des Geistes – eine Lebensfrage für die Akademie. Günter Grass und der „Fall Rushdie“
© Akademie der Künste
Die Wogen schlugen hoch, als Günter Grass, von 1983 bis 1986 Präsident der Akademie der Künste in West-Berlin, am 9. März 1989 seinen Austritt aus der Institution erklärte. Bemühungen, ihn umzustimmen, fruchteten nicht. Von vielen Seiten erreichten den Schriftsteller auch verständnisvolle und zustimmende Worte für seinen Entschluss, dem sich darüber hinaus die Akademie-Mitglieder Günther Anders und Marcel Ophuls anschlossen.
Was war geschehen? Drei Wochen zuvor hatte der iranische Staatsführer Khomeini den britisch-indischen Autor Salman Rushdie wegen seines Romans Die satanischen Verse zum Tode verurteilt. Die muslimische Gemeinschaft war aufgerufen, das Urteil zu vollstrecken und auch gegen alle vorzugehen, die das Buch übersetzten und verbreiteten. Die weltweite Meinung war gespalten. Während – nicht nur aus islamischen Kreisen – Stimmen laut wurden, die eine Verletzung religiöser Gefühle der Muslime durch Rushdie kritisierten, herrschte unter säkularen Intellektuellen blankes Entsetzen. Dem „Anschlag auf die Meinungsfreiheit“ (Grass) zu begegnen, formierte sich Widerstand.
In einem Telegramm an Bundeskanzler Helmut Kohl verlangten 24 unterzeichnende Schriftstellerinnen und Schriftsteller, mit wirtschaftlichen Maßnahmen gegen den Iran die „Rücknahme dieses Aufrufs zum Mord“ zu erzwingen. Günter Grass organisierte mit Kolleginnen und Kollegen in West-Berlin eine Solidaritätsveranstaltung für Rushdie. Giselher Klebe, Komponist und zu dem Zeitpunkt Präsident der Akademie der Künste, lehnte es jedoch ab, die Manifestation in Räumen der Akademie stattfinden zu lassen. Er fürchtete, die Sicherheit von Mitarbeitenden und Publikum nicht garantieren zu können. Polizeischutz aber sei „unvereinbar mit den Prinzipien der Akademie der Künste“. Unterstützt vom akademischen Senat, veröffentlichte die Akademie am 3. März 1989 – nur – eine Protestnote über die dpa. Die Veranstaltung fand schließlich am 9. März in den Sälen der Schultheiss-Brauerei in der Berliner Hasenheide statt.
In der Akademie entbrannte eine heftige Debatte darüber, ob die Risikoabwägung des Akademiepräsidenten richtig oder eine Kapitulation vor terroristischem Druck und Verrat an der „Sache der Akademie der Künste, die Freiheit des Geistes zu verteidigen“ (Julius Posener), gewesen sei. Parallelen wurden gezogen zum opportunistischen Verhalten der Institution unter der NS-Herrschaft: Luise Rinser fühlte sich „peinlichst an 1933 erinnert und […] überlegte, wie sich die Akademie verhalten würde oder wird, wenn die Neonazis noch stärker werden“. In der Folge kandidierte Klebe, der eine politikferne Haltung der Akademie verfocht, im Frühjahr 1989 nicht mehr für das Präsidentenamt und wurde durch den Altphilologen Walter Jens abgelöst. Erst im Herbst 1990 veranstaltete die Akademie – Deutschland war inzwischen wiedervereinigt – zugunsten von Amnesty International einen Abend „Zur Situation verfolgter Künstler in aller Welt“, bei dem unter anderem auch ein Text von Salman Rushdie gelesen wurde. Der weiter mit dem Tode bedrohte Schriftsteller besuchte die Akademie im Mai 1998 und nahm an einem Podiumsgespräch „Über die Verfolgung von Schreibenden“ teil. Grass und Ophuls wurden wieder als Mitglieder zugewählt. Das auf Rushdie ausgesetzte Kopfgeld beträgt heute etwa 4 Millionen Dollar.
Sabine Wolf