17.6.2021, 09 Uhr
Der 17. Juni 1953, die Akademie und Brecht
© Akademie der Künste
Dass sich die Akademie an diesem schwarzen Tag weggeduckt hätte, kann man nicht sagen. „Was kann die Deutsche Akademie der Künste tun, um in der gegenwärtigen Situation einzugreifen?“, lautete der einzige Tagesordnungspunkt einer improvisierten Präsidiumssitzung am Nachmittag.
Der Schock saß. „Mehrere Stunden lang, bis zum Eingreifen der Besatzungsmacht, stand Berlin am Rand eines dritten Weltkriegs“, urteilte Bertolt Brecht. Allerdings gingen die Ansichten darüber, wie einzugreifen wäre, auseinander. Den Vorschlag, „ein Manifest zu verfassen als Vertrauenserklärung zur Regierung und um zur Klärung der Wiederherstellung der Ordnung beizutragen“, lehnte Brecht ab. Erst müsse man hören, wie die Regierung die Lage beurteile. Möglich sei, dass „Einzelpersönlichkeiten von sich aus originell, ehrlich und exponiert hervortreten, um durch aktive Mitarbeit am Rundfunk, dem im Augenblick wichtigsten Massenorgan, wirksam in Erscheinung zu treten“.
Damit hatte Brecht seine Strategie formuliert. Er war am Nachmittag des 16. Juni, nachdem er von dem Arbeiteraufstand erfahren hatte, aus Buckow nach Berlin gekommen. Am 17. beobachtete er Unter den Linden die Demonstrationen, erörterte die Lage im Berliner Ensemble und in der Akademie und versuchte, mit Briefen an Walter Ulbricht, Otto Grotewohl und den sowjetischen Botschafter Wladimir Semjonowitsch Semjonow seinen Einfluss geltend zu machen. Dabei hatte er es besonders auf den Rundfunk abgesehen. Sein Angebot, dass Mitglieder des Berliner Ensembles im Programm auftreten, wurde ignoriert. Unbeirrt spielte das wichtigste Massenorgan Unterhaltungsmusik.
Drei weitere Akademiesitzungen in diesem Monat konzentrierten sich auf Forderungen nach Reformen der Kulturpolitik, die nicht ohne Erfolg blieben. „Der Staat […] soll sich nicht wie bisher einmischen, abdrosseln und unterdrücken“, meinte Brecht. Es gelang, administrative Einflüsse zurückzudrängen, allerdings nur für eine kurze Zeit.
Die Ursachen für den Aufstand scheinen in der Akademie keine nennenswerte Rolle gespielt zu haben. Angesichts der Opfer möchte man hoffen, dass der Bericht von Direktor Rudolf Engel nicht von allen Mitgliedern geteilt worden ist: „Dieser Versuch, einen faschistischen Putsch durchzuführen, ist durch das entschlossene Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht ohne Blutvergießen im Keim erstickt worden.“
Brecht hatte ebenfalls „organisierte faschistische Elemente“ am Werk gesehen. Er sprach aber auch davon, dass die Arbeiter „in berechtigter Unzufriedenheit demonstriert“ hätten, und forderte „eine große Aussprache“. Die Rettung des Experiments DDR stand über allem.
Der Eindruck bleibt zwiespältig: Eine Akademie befasst sich im Augenblick der Gefahr mit Gängelungen der Kunst. Und Brecht? Er erkennt die exemplarische politische Krise. Öffentlich übt er sich taktisch in kritischer Solidarität, was ihm sehr geschadet hat. Vertrauten gibt er seine Buckower Elegien – mit dem Spottvers, die Regierung möge das Volk auflösen, aber auch mit einem Gedicht wie Böser Morgen, das die Not des Dichters zeigt und fühlbar macht, dass die Ereignisse sein Lebenswerk bedrohten: „Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend / Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und / Sie waren gebrochen.“
In einer Bilanz dieses Sommers notierte Brecht in seinem Journal: „Der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet.“ Dabei empfand er „den schrecklichen 17. Juni als nicht einfach negativ“; die Demonstrationen der Arbeiterschaft hätten „in aller ihrer Richtungslosigkeit und jämmerlicher Hilflosigkeit“ gezeigt, „immer noch, daß hier die aufsteigende Klasse ist.“
Aber war diese aufsteigende Klasse wirklich sein Publikum, der Gegenstand seines Dramas? Mehr als alles andere steht der 17. Juni nicht nur für die Kluft zwischen der Regierung des Arbeiter- und Bauernstaates und den Arbeitern und Bauern, sondern auch für eine große Fremdheit zwischen der Akademie und den Menschen auf der Straße.
Erdmut Wizisla