Herbert Molderings
lens-based sculpture
Die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie

In der Ausstellung „lens-based sculpture“ wird das Verhältnis von Fotografie und Skulptur, das in der Vergangenheit bereits zu verschiedenen Ausstellungen Anlass gegeben hat, zum ersten Mal aus der Perspektive der Skulpturgeschichte dargestellt. In ihrem Mittelpunkt stehen die Fragen: Gibt es so etwas wie eine „lens-based sculpture“, also skulpturale Formen, die ohne die fotografische und filmische Optik undenkbar sind? Seit wann und in welcher Weise haben Bildhauer und Bildhauerinnen die Fotografie nicht nur zur Reproduktion und Inszenierung ihrer Werke benutzt, sondern fotografische Prinzipien in die skulpturalen Produktionsprozesse selbst integriert?

„lens-based sculpture“ versammelt rund 200 Arbeiten von mehr als 70 internationalen Künstlerinnen und Künstlern. Die Ausstellung beginnt mit den Skulpturen Umberto Boccionis und Raymond Duchamp-Villons sowie den Readymade-Skulpturen Marcel Duchamps von 1913–14, die ein Raum- und Körperwissen voraussetzen, das von der naturwissenschaftlichen Bewegungsfotografie („Chronofotografie“) seit den 1880er Jahren konstituiert worden ist. Die Idee des unteilbaren Körpers, die der künstlerischen Praxis der Statue seit Jahrtausenden zugrunde gelegen hatte, erschien den Bildhauern angesichts des neuen, biomechanischen Körperbegriffs in der experimentellen Physiologie als völlig überholt. Mit den Werken Boccionis, Duchamp-Villons und Marcel Duchamps veränderte sich die Idee von Skulptur grundlegend, insofern nicht länger die statuarische Figur im Mittelpunkt stand, sondern experimentelle plastische Figurationen, bei denen es um die Integration der realen Bewegung in die Skulptur und die Erweiterung der Skulptur zur Rauminstallation ging. Allerdings war das statuarische Paradigma zu tief in den Memorialpraktiken der Gesellschaft verankert, als dass sich dieses neue Verständnis von Skulptur unmittelbar an die Stelle des alten hätte setzen können. Es sollte noch ungefähr ein halbes Jahrhundert dauern, bis sich die Experimentalisierung in den 1960er Jahren vollständig in der modernen Skulptur durchsetzte. Erst da begann das große Zeitalter der „lens-based sculpture“, der fotografisch in-formierten Skulpturen in einer großen formalen Vielfalt. Daher bilden die Werke von 1960 bis heute den Schwerpunkt der Ausstellung: Von der hyperrealistischen bis zur immateriellen Plastik, von der skulpturalen Rauminstallation bis zur fiktiven Skulptur, von der performativen Skulptur bis zur Spurensicherung – alle diese neuen skulpturalen Ausdrucksformen, die durch herausragende Werke von Robert Smithson, Dennis Oppenheim, Charles Simonds, Bruce Nauman, Giuseppe Penone, Gordon Matta-Clark, Nikolaus Lang und Roman Signer präsent sind, fußen auf der Ergänzung durch die visuellen Medien Fotografie und Film.

Charakteristisch für die Skulptur der 1970er bis 1990er Jahre ist die Entdeckung der plastischen Dimension, die in den technischen Dispositiven dieser Medien steckt. Bildhauer wie Giovanni Anselmo, Edmund Kuppel, Michel Sauer, Hermann Pitz, Raimund Kummer, Bogomir Ecker und Reiner Ruthenbeck transformieren diese in spielerische apparative und installative Skulpturen, die die unmerklichen Wahrnehmungsvoraussetzungen der technisch generierten Bilder begreifbar machen. Der sich in Bruce Naumans Fotoarbeit Self Portrait as a Fountain manifestierende Wunsch, „selbst Skulptur zu sein“, führte in den Selbstinszenierungen von Franz Erhardt Walther und den performativen Skulpturen von Gilbert & George, Valie Export und Erwin Wurm zu einer extremen Form der Revitalisierung der Skulptur, die sich als Objekt von ihrem Schöpfer und ihrer Schöpferin nicht mehr trennen lässt, sondern sich im lebendigen Akt der Performance erfüllt und Dauer erhält nur über die Medien Fotografie, Film und Video. Das indexikalische Dispositiv der Fotografie als licht-physikalischer Abdruck findet seine bildhauerische Entsprechung in den Verfahren der Moulage und des Abgusses, die mit paradigmatischen Werken von Duane Hanson, George Segal, Joseph Beuys und Kiki Smith veranschaulicht werden. Im Anblick der Abgüsse von Negativräumen durch Bruce Nauman und Rachel Whiteread, die den Betrachter dazu auffordern, die dazugehörigen fehlenden Objekte in der Vorstellung zu ergänzen, werden die analogen dispositiven Eigenschaften plastischer und fotografischer Ab-Bild-Techniken evident. Wie fließend der Übergang von der plastischen Figurendarstellung nach fotografischen zu realen Körperabformungen ist, zeigen des Weiteren die Skulpturen von John Ahearn, Pia Stadtbäumer, Tom Honert und Ron Mueck. Die mit Körperscanner und 3D-Drucker hergestellten Skulpturen Karin Sanders am Ende des Ausstellungs-Parcours veranschaulichen die erneuerte Aktualität eines Projekts, das der französische Bildhauer François Willème bereits 1860 unter dem Namen „Photo-Sculpture“ (Foto-Skulptur) zu realisieren versucht hatte: die Herstellung von Porträtbüsten aus Gips und Bronze durch eine fotografisch-mechanische Apparatur ohne Zuhilfenahme der gestaltenden Hand.

Die Ausstellung wurde von zwei Bildhauern, Bogomir Ecker und Raimund Kummer, und zwei Kunsthistorikern, Friedemann Malsch und Herbert Molderings, konzipiert. Künstler und Kunstwissenschaftler erschaffen gemeinsam einzigartige Gegenüberstellungen künstlerischer Positionen und ungewöhnliche Präsentationsformen. So wird die Rekonstruktion von Marcel Duchamps Porte Gradiva (1937) erstmals in ihrer ursprünglichen Form, als durchschreitbarer Türdurchgang, aufgebaut. Außerdem integrieren die beiden Bildhauer in ihre Ausstellungsarchitektur zwei Denkräume: Einem Archiv ähnlich, dicht und multimedial bestückt, eröffnen sie zusätzliche Einblicke in die komplexe künstlerische Recherche zu den Phänomenen von „lens-based sculpture“.
Die Kuratoren verstehen diese Ausstellung sowohl ihrem Inhalt als auch ihrer Inszenierung nach als eine kunsthistorische und künstlerische Versuchsanordnung, mit der die Hypothese überprüft werden soll, dass das Phänomen fotografisch in-formierter Skulpturen eng mit der Skulpturgeschichte als einer Experimentalgeschichte zusammenhängt und es in erster Linie nicht die reproduktiven, sondern die produktiven, neue Welt-Bilder und neues Wissen generierenden Potentiale der Fotografie waren, die entscheidend zur Transformation der skulpturalen Praktiken im 20. Jahrhundert beigetragen haben.

(Beitrag für das MuseumsJournal 1/2014)

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Statement von Herbert Molderings auf der Pressekonferenz zur Ausstellung am 22. Januar 2014