6.5.2015, 14 Uhr

MUSIK FÜR ALLE – Fragen an Enno Poppe

Konzertabende am 8. und 9. Mai 2015

Foto © Christian Klier, Jonas Vogler

Der revolutionäre Aufbruch in den 1960er und -70er Jahren, wie ihn die Ausstellung KUNST FÜR ALLE thematisiert, erfasste auch die Musik jener Zeit. Es entstanden Gruppen und Konzepte, die Musik und Politik neu verknüpften.

Mit zwei Konzertabenden am 8. Mai und am 9. Mai 2015 setzt das Programm MUSIK FÜR ALLE einige der damaligen Entwicklungen wieder in Betrieb. Junge Musikerinnen und Musiker – Laien wie Profis – interpretieren sie aus heutiger Sicht.


Enno Poppe hat MUSIK FÜR ALLE kuratiert, er ist Komponist und Stellvertretender Direktor der Sektion Musik der Akademie der Künste.
 
Am zweiten Maiwochenende ist die Akademie am Hanseatenweg wieder ein Konzerthaus. MUSIK FÜR ALLE steht im Kontext zur Ausstellung KUNST FÜR ALLE. Welche Schwerpunkte setzen Sie aus musikalischer Perspektive?

Enno Poppe: „Musik ist stark von Metier bestimmt, Musiker und Komponisten im klassischen Sinn sind meist extrem spezialisiert und beginnen schon als Kinder ihre musikalische Ausbildung. Im Rahmen des Umbruchs 1968 wurde dies erstmals in Frage gestellt. Es entstand eine große Vielfalt von Werken und Initiativen, die die Veränderung des Bewusstseins der Mitwirkenden und nicht ihre angelernten Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen.
Der Schwerpunkt des Programms MUSIK FÜR ALLE ist eine performative Rückschau auf den musikalischen Aufbruch um 1970. Man kann die Konzepte von damals heute nicht einfach aufführen, man muss sich ihnen annähern und dazu neue Ideen entwickeln.“

Zum Auftakt von MUSIK FÜR ALLE spielt das Landesjugendensemble Neue Musik Berlin Teile von Hanns Eislers Komposition für den Film „Kuhle Wampe“, dem ersten proletarischen Tonfilm, der kurz nach seinem Erscheinen 1932 verboten wurde. Politische Musik bestimmt auch das weitere Programm des ersten Konzertabends. Welche Bedeutung hat Hanns Eisler für die politische Musik?

Enno Poppe: „Hanns Eisler musste in Westdeutschland erst entdeckt werden, nachdem seine Musik jahrzehntelang vergessen war. Die Idee einer politischen Musik war der Avantgarde der fünfziger Jahre insgesamt fremd. Die Werke von Eisler, die direkt für den Klassenkampf konzipiert sind, haben die Ende der sechziger Jahre entstehende Idee einer MUSIK FÜR ALLE in Westdeutschland überhaupt erst hervorgebracht. In Ostdeutschland stand man Eisler, dem Komponisten der DDR-Hymne, freilich kritischer gegenüber. Aber 1968 bedeutet für den Osten ohnehin etwas ganz anderes.“

MUSIK FÜR ALLE macht auf neue Orchesterstrukturen aufmerksam - ein historisches Beispiel ist das Sogenannte linksradikale Blasorchester, das 1976 gegründet wurde und aus dessen Repertoire am 8. Mai Stücke zu hören sind, ein aktuelles Beispiel ist das Berliner Splitter Orchester, das den zweiten Abend in der Akademie bestreitet. Was machten bzw. machen diese Orchester anders?

Enno Poppe: „Als Cornelius Cardew mit anderen 1969 das Scratch Orchestra gründete, war dies die erste Formation, die frei von Hierarchien, Partituren und Traditionen Musik aufführte. Der Begriff „Orchester“ wurde nicht gewählt, um sich in eine Traditionslinie zu stellen, sondern um diese abzulehnen. Das Sogenannte linksradikale Blasorchester wurde gegründet, um mit der Musik im Freien, auf Demonstrationen statt in Konzerthäusern aufzutreten. Hier trafen Profis auf Laien. Das Splitter Orchester ist hingegen ein Zusammenschluss der besten Musiker der Berliner und internationalen Improvisationsszene. Das Improvisieren mit mehr als 20 Personen verlangt eine vollkommen neue Art, miteinander umzugehen, zu proben und zu spielen. Heute ist dies ohne einen Cornelius Cardew möglich, ohne einen Anführer also.“

Das Splitter Orchester lädt am 9. Mai zu einem Echtzeitmusik-Abend in die Akademie ein. Was ist Echtzeitmusik?

Enno Poppe: „Früher nannte man alles, was nicht nach Noten gespielt wird, Improvisation. Die Szene der freien Musik hat sich aber immer weiter verfeinert, auch spezialisiert. Echtzeitmusik entsteht im Augenblick, sie ist das Gegenteil einer durch Partituren, Blues-Schemata oder Jazz-Standards festgelegten Musik. Die Musiker selbst mit ihren Fähigkeiten und ihrer Neugier nach neuen Klängen sind das, was die Konzertereignisse unverwechselbar macht. Kein Konzert ist wie das andere.“

Am ersten Abend werden in einer der Ausstellungshallen am Hanseatenweg ungewöhnliche Geräusche zu hören sein, morsende, fiepende, zwitschernde Klänge: Kurzwellen-Sound. Das Berliner Lautsprecherorchester spielt Karlheinz Stockhausens „KURZWELLEN“ von 1968. Wie wird die Komposition realisiert?

Enno Poppe: „Karlheinz Stockhausen war einem neuen Typ von Interpreten interessiert. KURZWELLEN ist grundsätzlich für jeden spielbar, der ein Radio bedienen kann. Erforderlich ist, dass die Spieler zunächst eine Partitur selbst erarbeiten, bevor sie anfangen zu proben. Das Problem heute ist, dass gar keine Kurzwellensignale mehr empfangbar sind: die Kurzwellenempfänger bleiben stumm. Die Kurzwellen müssen zuerst künstlich erzeugt werden, um sie dann anschliessend zu verfremden. Die Aufführung heute, die mit Computern zustande kommt, die es 1968 noch gar nicht gab, ist also ein medienarchäologisches Experiment.“

 

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