Nina Hoss liest "Crisanta" eine Erzählung von Anna Seghers (1951)
Dienstag, 05. März 2013, AdK, Pariser Platz 4
Im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung "Letzte Zuflucht Mexiko" in der Akademie der Künste
Begrüssung
Sabine Wolf, Leiterin der Archivabteilung Literatur
Sehr geehrter Herr Prof. Pforte, meine Damen und Herren, liebe Freunde,
„Das Leben hier gefällt mir sehr. Das Klima, die Farben, die Landschaft, all das gibt mir die Gewissheit, dass ich hier leben und arbeiten kann.“ Als Anna Seghers dies am 17. Juli 1941 aus Mexiko an ihren Schriftstellerkollegen F. C. Weiskopf nach New York schrieb, befand sie sich seit acht Jahren mit ihrer Familie auf der Flucht vor den deutschen Nazis. Ihre Eltern hatte sie 1933 in Deutschland zurücklassen müssen, entkam nach Paris, später nach Marseille, doch war sie als Jüdin und Kommunistin im Europa des Jahres 1941 extrem gefährdet. Die deutsche Wehrmacht hatte 1940 den Norden Frankreichs besetzt, das Pétain-Regime im Süden verfolgte einen antisemitischen und antikommunistischen Kurs, internierte politisch unerwünschte „Elemente“ und lieferte sie zum Teil an die Deutschen aus. In einer für Tausende Flüchtlinge verzweifelten Lage gab es aber auch Helfer, Retter, wie den mexikanischen Generalkonsul Gilberto Bosques. Er setzte in Marseille unter schwierigsten Bedingungen und mit ganz persönlichem Engagement die Asylpolitik des mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas um. Mexiko steuerte einen konsequent antinazistischen Kurs und öffnete seine Tore zunächst für die rund 15.000 republikanischen Spanienkämpfer nach deren Niederlage gegen Franco, dann in großzügiger Weise für zahlreiche deutschsprachige Emigranten, die in Marseille festsaßen. Auf einer ersten Liste von 20 namentlich genannten prominenten deutschen politischen Flüchtlingen, denen mit ihren Familien ein mexikanisches Einreisevisum erteilt wurde, stand im September 1940 auch der Name von Anna Seghers. Bis sie, ihr Mann Laszlo Radvanyi und ihre beiden Kinder tatsächlich ausreisen konnten, mußten jedoch noch viele Hürden genommen werden, es bedurfte der französischen Ausreisevisa, man benötigte Durchreisevisa für Spanien und Portugal und nicht zuletzt eine Schiffspassage. Bis die letzte Bescheinigung eintraf, war oft die erste bereits wieder abgelaufen, ein nervenzehrendes Warten, Bangen und Hoffen. In ihrem Roman „Transit“ beschrieb Anna Seghers die beklemmende und bedrohliche Atmosphäre. Die Reise selbst dauerte fast vier Monate, erst im Juni 1941 traf Anna Seghers mit ihrer Familie in Mexiko ein. „Um Rettung genannt zu werden, dazu war die Zuflucht in diesem Land zu fragwürdig und zu ungewiß.“ So empfindet es die Ich-Erzählerin Netty in Anna Seghers meisterhafter autobiographisch grundierter Geschichte „Der Ausflug der toten Mädchen“. Zuviel war bis dahin geschehen, Verfolgung, Flucht, Krankenlager; die Sorge um die Daheimgebliebenen war stets präsent. „Mexiko ist ein sehr schönes und interessantes Land, und ich fühle mich hier wohler als in New York. Aber trotzdem [...] ist [es] sehr schwer, getrennt zu sein von dem, was man auf der Welt am liebsten hat.“, schrieb sie in einem Brief an Kurt und Jeanne Stern im Dezember 1941. Trotz aller Bedrängnis gehörte Anna Seghers in Mexiko zu den wenigen Emigranten, die von ihrer künstlerischen Arbeit leben konnten, vor allem durch den Welterfolg ihres Romans „Das siebte Kreuz“. Ihre Erlebnisse in Mexiko verarbeitete sie erst nach ihrer Rückkehr nach Deutschland. Einer ihrer schönsten Texte ist die Erzählung „Crisanta“, die 1950 entstand und heute im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung „Letzte Zuflucht Mexiko. Gilberto Bosques und das deutschsprachige Exil nach 1939“ gelesen wird. Die Ausstellung ist in Kooperation mit dem Verein Aktives Museum Faschismus und Widerstand, dem Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz und dem Instituto de Investigaciones Interculturales Germano-Mexicanas unter Projektleitung von Christine Fischer-Defoy entstanden und in der Akademie seit Dezember letzten Jahres zu sehen. Ich begrüße sehr herzlich viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter der Arbeitsgruppe, namentlich Christine Fischer-Defoy sowie Angehörige der Emigrantinnen und Emigranten, von deren Schicksal die Ausstellung erzählt. Das Projekt reiht sich ein in das Berliner Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“. Mit Anna Seghers würdigen wir hier eine Autorin von Weltrang, deren Leben und Schaffen von den Zäsuren und Katastrophen des letzten Jahrhunderts geprägt waren. Sie starb vor 30 Jahren in Berlin, ihr literarischer Nachlaß befindet sich seitdem im Archiv der Akademie der Künste, ihre letzte Wohnung in Berlin-Adlershof ist als von der Akademie getragenes Literaturmuseum zu besichtigen.
Ich freue mich ganz besonders, daß Nina Hoss, Mitglied der Sektion Darstellende Kunst der Akademie, heute der Autorin ihre Stimme leihen wird, und begrüße sie an dieser Stelle recht herzlich.
Jetzt übergebe ich das Wort an meine Kollegin Helga Neumann, die das Kapitel über Anna Seghers in Ausstellung und Katalog „Letzte Zuflucht Mexiko“ erarbeitet hat und in die Erzählung „Crisanta“ einführen wird. Dann freuen wir uns auf die Lesung von Nina Hoss. Im Anschluß gibt es im Clubraum die Gelegenheit, den Abend ausklingen zu lassen.
Helga Neumann, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Literaturarchivs
Sehr geehrte Damen und Herren,
ein kleiner Aufschub steigert die Spannung, und so möchte ich Ihnen vorab einige Informationen zu Autorin und Text geben. Falls Sie mehr wissen und lesen möchten, finden Sie auf dem Büchertisch vor dem Saal reichlich Material.
Anna Seghers ging mit ihrer Familie im Sommer 1941 in Veracruz an Land, im neunten Jahr ihres Exils. Was Exilanten abverlangt wurde, können Sie aus den Biographien der Ausstellung erahnen, so reduziert sie auch sind.
Dennoch konnten sich diejenigen, die rechtzeitig aus Deutschland zu fliehen vermochten, glücklich schätzen, am glücklichsten die, die Zuflucht in einem sicheren Exilland gefunden hatten. Mexiko war für viele politisch linksstehende Exilanten die letzte Zuflucht. Für die USA etwa erhielten Kommunisten – man befürchtete innenpolitische Konflikte – 1941 keine Einreisevisen mehr.
Anfang 1933, zu Beginn der NS-Herrschaft, war Anna Seghers 32 Jahre alt: eine junge Schriftstellerin, die fünf Jahre zuvor den angesehenen Kleist-Preis erhalten hatte. Sie war mit dem Mann verheiratet, den sie liebte, und hatte zwei kleine Kinder. Sie engagierte sich für die Kommunistische Partei, der sie 1928 beigetreten war. Sie arbeitete für die Marxistische Arbeiterschule, die ihr Mann leitete, und sie war aktiv im Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller. Ein ausgefülltes Leben, und, im Unterschied zu denen, für die sie sich politisch einsetzte, durch Unterstützung seitens ihrer sehr wohlhabenden Eltern finanziell gut abgesichert.
Am 5. März 1933, heute vor achtzig Jahren, fand die Reichstagswahl statt, aus der die NSDAP als stärkste Partei hervorging, wenngleich sie die angestrebte absolute Mehrheit verfehlte.
Anna Seghers war zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon in der Schweiz. Sie war nach dem Reichstagsbrand verhört worden, wurde wieder freigelassen – wohl wegen der ungarischen Staatsangehörigkeit, die sie durch ihre Heirat erworben hatte. Sie reiste schnellstmöglich ab. Ihr Mann war schon vorausgefahren, und um die Kinder kümmerten sich zunächst die Großeltern in Mainz.
Seghers richtete sich mit ihrer Familie in Paris ein. Wie immer und überall kümmerte sie sich zuerst darum, daß ihre Kinder gut versorgt waren, und sie arbeitete rastlos: neben umfangreicher politischer Tätigkeit entstand in Paris v.a. der Roman „Das siebte Kreuz“, der zuerst in englischer Übersetzung 1942 in den USA erschien und dort – später weltweit – großen Erfolg hatte.
Mit dem Beginn des Krieges wurden Kontakte nach Deutschland schwieriger, die Angst um Familie und Freunde größer, noch größer. Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht nach Frankreich bedrohte die eigene Sicherheit. Seghers‘ Mann wurde, wie andere auch, als „feindlicher Ausländer“ interniert. Ihr selbst und den Kindern gelang – nicht beim ersten Versuch – die Flucht aus dem besetzten Paris, wo die Gestapo sie suchte. Es folgten Aufenthalte in Pamiers nahe dem Lager Le Vernet, in dem ihr Mann interniert war, und in Marseille, wo sich diejenigen sammelten, die auf ihre Abreise warteten. Im Mai 1941 konnte die Familie endlich aufbrechen: mit Aufenthalten auf Martinique, San Domingo und New York erreichte man Ende Juni Veracruz.
In Mexiko, wo Seghers von Anfang an meinte, „gut arbeiten zu können“, fanden die Exilanten freundliche Aufnahme, die auch Arbeitserlaubnis einschloß. Einfach war der Anfang dennoch nicht. Die finanziellen Ressourcen waren erschöpft, und Erwerbsquellen mußten erst gefunden werden.
Seghers organisierte möglichst schnell eine feste Wohnung, sorgte dafür, daß ihre Kinder möglichst bald wieder zur Schule gehen konnten. Und sie arbeitete – am Exilroman „Transit“, den sie schon in Marseille begonnen hatte, an Erzählungen und an dem umfangreichen Roman „Die Toten bleiben jung“, einem Panorama deutscher Geschichte und Schicksale seit 1918. Sie schrieb Artikel für die Exilantenzeitschrift „Das freie Deutschland“. Als Präsidentin stand sie dem Heinrich-Heine-Klub vor, der kulturelle Veranstaltungen und Vorträge in deutscher Sprache anbot und bis 1946 als Zentrum deutscher antinazistischer Kultur fungierte. Die finanziellen Sorgen endeten 1943, als Seghers einen gut honorierten Vertrag für die Hollywood-Verfilmung von „Das siebte Kreuz“ abschließen konnte.
Ein Schädelbruch infolge eines Unfalls hatte ebenfalls 1943 langes Krankenlager und zeitweilige Amnesie zur Folge. Nach ihrer Genesung stellte Seghers die Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ fertig. Darin folgt auf eine in Mexiko situierte Einleitung eine lange Rückblende der Ich-Erzählerin in ihre Schulzeit in Mainz und eine Vision der Schicksale ihrer Klassenkameradinnen. Die kurze Einleitung zu dieser Erzählung ist der einzige literarische Reflex auf Mexiko vor Seghers‘ Rückkehr nach Europa:
So lange sie in Mexiko lebte, immerhin fast sechs Jahre, blieb Seghers in ihrer Arbeit nach Europa gewandt, auch in Sorge um ihre Mutter, deren Ausreise zu bewerkstelligen ihr trotz aller Bemühungen nicht mehr gelang: Seghers' Vater war 1941 gestorben, ihre Mutter wurde deportiert und ermordet. Dazu kam die Sorge um weitere Verwandte und Freunde, von denen sie keine Nachricht hatte.
Das heißt nicht, daß sie für Land und Leute blind gewesen wäre. So schrieb sie im September 1941 an Franz Carl Weiskopf nach New York: „Ich bemühe mich … Land und Menschen so frisch wie möglich aufzunehmen“. Doch für ihre literarische Arbeit blieb Europa, nach dem sie Heimweh hatte, vorrangig: „Das Land, die Leute, die indianische Frage, diese ganzen Lebensbedingungen, die nichts gleichen, was wir je kannten, das alles muß großartig für einen Schriftsteller sein.“ So schrieb sie 1942 an Johannes R. Becher nach Moskau. Und fährt fort: „Nur habe ich, haben wir alle mehr oder weniger das Gefühl, vom Brennpunkt, vom Wichtigsten zu weit entfernt zu sein …“ Diese Aussage entspricht sicherlich Seghers Überzeugung, ist aber wohl auch taktisch formuliert. Hier kommt schon, wie später nach der Rückkehr nach Deutschland, der Konflikt zwischen den sogenannten „Westemigranten“ und denjenigen zum Ausdruck, die sich in der Sowjetunion aufhielten.
Im April 1947 traf Anna Seghers in Berlin ein, nach einer langen Reise über Stockholm und Paris.
Sie war allein. Ihr Mann blieb noch bis 1952 in Mexiko, ihre Kinder studierten in Paris. Sie stürzte sich, wie nicht anders zu erwarten, in die Arbeit – Reden, Reisen, Schreiben. Sie versuchte ihren Teil zu leisten beim Aufbau einer neuen Gesellschaft. Ihre Briefe zeugen bald von Enttäuschung, dem Gefühl der „Vereisung“, vom „Volk der kalten Herzen“ – und vom Heimweh nach Mexiko, nach, wie sie einer Freundin dort schreibt „Eurer Wärme, Eurer Leidenschaft, Eurer Liebe und Eurer Menschlichkeit“. Seghers sieht die umfassende Zerstörung, erfährt von der Ermordung ihres engen Freundes Philipp Schaeffer. Sie stößt bald auch auf Probleme mit den Parteigenossen, denen sie – mit mexikanischem Paß, Kindern, die in Frankreich leben, auch aufgrund mancher Texte – politisch nicht zuverlässig genug erscheint. Sie wird, trotz ihres nie zurückgenommenen Bekenntnisses zur Kommunistischen Partei, unter Druck gesetzt, die Staatsbürgerschaft der DDR anzunehmen, sich der Parteilinie zu fügen.
Wie von der Partei gefordert, schreibt Seghers Texte, die sich mit der neuen Gesellschaft der DDR auseinandersetzen und politisch-didaktisch eingesetzt werden können, wenngleich sie auch hier aus dem eigenen Lager Kritik erfährt. Zu sehr hängt sie wohl an ihrer Überzeugung, ein Roman habe „nichts mit einem Leitartikel zu tun“. Sie wendet sich nun aber auch dem geographischen Raum zu, den sie ohne das Exil nie kennengelernt hätte: Mexiko, die Karibik.
Die Erzählung „Crisanta“ entstand etwa 1950 und erschien nicht wie Seghers‘ Werke sonst im Aufbau-Verlag, sondern zuerst separat als Insel-Bändchen, später dann in der Erzählungssammlung „Der Bienenstock“. Der Text fand wenig Echo. Zur politisch-ideologischen Indienstnahme taugt er nicht. Ein Kritiker monierte in der Berliner Zeitung vom 24. Oktober 1953: „Es ist … nicht ohne weiteres zu begreifen, warum das Mädchen Crisanta die Hauptheldin der … Erzählung ist und nicht der lernend kämpfende und kämpfend lernende Arbeiter Miguel.“
Die Einleitung des Textes, die Sie gleich hören werden, macht klar, daß es der Autorin nicht um die Geschichte bedeutender Gestalten geht, nicht um die große Geschichte, sondern um den Einzelfall, und hier auch nicht um den didaktisch nutzbaren Einzelfall. Sie riskiert, eine Heldin zu zeichnen, deren „Heldentum“ darin besteht, ihrem Streben nach Glück und Geborgenheit zu folgen, die zwar eine von vielen ist, aber dennoch ihr ganz eigenes Schicksal hat. Vielleicht geht das nur, wenn die Handlung nicht im Hier und Jetzt der frühen DDR spielt.
Seghers riskiert noch etwas: Das letzte, gewichtige Wort der Erzählung lautet: „ihr Volk“. Volk: Seghers ist sich bewußt, wie belastet dieser Begriff ist, und zeigt hier im literarischen Text, was sie an anderer Stelle 1944 theoretisch formuliert hat: Volk sei weder als „Rasse“ noch als „Produkt von Blut und Boden“ zu verstehen, sondern als „eine gesellschaftlich werdende Einheit, … die auf dem gleichen Territorium geworden ist durch gemeinsame Arbeit, Kultur und Geschichte“. Und es gehöre zu den Aufgaben der Kunst, den nazistischen Volksbegriff durch einen neuen zu ersetzen.
So birgt auch diese schlicht erscheinende und so wenig tagesaktuelle Erzählung eine politische und theoretische Dimension, die sich allerdings nicht aufdrängt, geschweige denn indoktriniert.
Eher entspricht der Erzählung eine Einschätzung des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer: „Anna Seghers hat immer das Tragische erzählen wollen: die menschliche Existenz zwischen der Wärme und der Kälte. Die Kraft der Schwachen. Das Eingedenken der Toten.“
© bei den Autorinnen, Berlin, 5. März 2013
(Stand 12.03.2013)
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