Zur Ausstellung
Das Verlangen der Form
Stefan Zweigs Utopie von Brasilien als dem Land der Zukunft wurde in den späten 1950er Jahren mit einer radikalen Erneuerung in den Künsten zur Realität der Gegenwart. War es in der Musik der Bossa Nova, so war es in der bildenden Kunst der Neoconcretismo, der die größte kreative Sprengkraft entwickelte. In der Auseinandersetzung mit dem „westlichen“ Modernismus der Nachkriegszeit und in der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung in Brasilien entwarf diese Stilrichtung zentrale Positionen einer neuen künstlerischen Grundhaltung. Neben der geometrischen Strenge der Konkreten Kunst, die in ihrer unpersönlichen Nüchternheit den Widerspruch zum lyrischen Element des künstlerischen Schaffensprozesses bildete, entstand nun Raum für Subjektivität und Expressivität. Die Beziehung zwischen Künstler und Betrachter wurde als ein Miteinander neu definiert. Die Grenzen zwischen Werk und Raum wurden aufgehoben. Mit formal-plastischer Sparsamkeit und einem lyrisch-sinnlichen Umgang mit der Form näherten sich die Vertreter dieser neuen Bewegung einander an. Der Aufbruch des „Verlangens nach Form“ in dieser Zeit führte zu bleibenden Leistungen auf den Gebieten der Bildenden Kunst, der Architektur und Städteplanung und des Design.
Die Ausstellung stellt die Bedeutung des Neoconcretismo für die Entstehung einer spezifisch brasilianischen Kunst der Moderne heraus. Auf 2.000 qm Ausstellungsfläche werden im Akademie-Gebäude am Hanseatenweg rund 180 Exponate, darunter Skulpturen, Gemälde, Druckgraphik, Zeichnungen, Photographien, Archivalien sowie Künstler- und Dokumentarfilme gezeigt.
Werke von Hélio Oiticica, Lygia Clark, Lygia Pape, Ivan Serpa, Aluísio Carvão, Amilcar de Castro und Willys de Castro u.a. sowie dem Dichter Ferreira Gullar geben einen Überblick über die enorme künstlerische Schaffenskraft dieser Zeit. Im Mittelpunkt steht der sinnliche Umgang mit der geometrischen Form. Dieser experimentelle und interaktive Ansatz erfordert die kreative Empfänglichkeit und Mitwirkung des Betrachters. Über den Neoconcretismo und die Architektur der Hauptstadt Brasilia gelang der Sprung von einer brasilianischen Adaption moderner Kunst zu einer brasilianischen modernen Kunst. Die Ausstellung gibt einen Einblick in die Entstehung dieser Souveränität und beweist damit, dass das Projekt der Moderne verschiedene Gesichter trägt, die sich nicht auf den europäisch-nordamerikanischen Raum begrenzen lassen. Mit Roberto Burle Marx, Oscar Niemeyer und Lucio Costa, die maßgeblich für den Bau der neuen Hauptstadt Brasiliens verantwortlich zeichnen, werden weitere Vertreter dieses Aufbruchs vorgestellt. Marcel Gautherots Schwarzweißfotografien und Dokumentarfilme von Vladimir Carvalho, Fabiano Maciel und Joaquim Pedro de Andrade bringen die Idee einer Stadt als Gesamtkunstwerk und als Symbol einer Gegenwart gewordenen Zukunft zum Ausdruck. Diesem historischen Ausstellungsschwerpunkt werden zeitgenössische brasilianische Künstler wie Waltercio Caldas, Carlos Bevilacqua, Iole de Freitas, Carla Guagliardi, Cao Guimarães und Pablo Lobato gegenübergestellt, die Positionen des Neoconcretismo teils aufgenommen und weitergeführt, teils auf neue Ziele und Interessen hin geöffnet haben.
Die Ausstellung verspricht nichts Geringeres als die Entdeckung einer ungemein lebendigen Kunstszene, deren spezifisches Merkmal die Unabhängigkeit von Vorbildern, historischen wie zeitgenössischen, ist: die Entstehung von Originalität aus dem Synkretismus der brasilianischen Kultur. Diese Entwicklung mit weltweiter Resonanz wird mit der Akademie-Ausstellung erstmals in Europa in diesem Umfang vorgestellt. Referenten aus Brasilien und Europa, Dokumentar- und Künstlerfilme sowie Filme des Cinema Novo und Cinema Marginal helfen, diese Zusammenhänge zu erkennen und zu würdigen. Ein umfangreicher Katalog mit zum Teil bislang unveröffentlichten Dokumenten begleitet die Ausstellung.
"Die neokonkrete Kunst gründet einen neuen Ausdrucksraum […] Entstanden aus dem Bedürfnis, die komplexe Realität des modernen Menschen innerhalb der strukturbewussten Sprache der neuen Ästhetik auszudrücken, lehnt die neokonkretistische Bewegung die Gültigkeit der wissenschaftlichen und positivistischen Einstellungen in der Kunst ab […] Der Rationalismus nimmt der Kunst ihre Eigenständigkeit und ersetzt die unübertragbaren Qualitäten des Kunstwerks durch Vorstellungen von wissenschaftlicher Objektivität: So werden Begriffe wie Form, Raum, Zeit und Struktur – die in der Kunstsprache mit einer existenziellen, gefühlsbetonten und affektiven Bedeutung verbunden sind – mit ihrer theoretischen Anwendung in der Wissenschaft verwechselt. Wenn wir ein Ebenbild für das Kunstwerk suchen müssten, würden wir es also weder in der Maschine noch im – sachlich betrachteten – Objekt finden, sondern in den Lebewesen." (Auszug Manifesto Neoconcreto, 23. März 1959, Jornal do Brasil, Supplemento, Gestaltung: Amilcar de Castro)