9.5.2007

Klaus Staeck - Rede zur Eröffnung der „Langen Nacht“ in der Akademie der Künste am 5. Mai 2007

Meine sehr verehrten Mit-Wanderer durch diese Lange Nacht!
Vor einem halben Jahr konnte ich mit meinem Grußwort neben allen anderen noch das Prekariat besonders ansprechen. Inzwischen sind die Armen aber wieder nur noch die Armen und auch noch ärmer dazu. Unserer 300jährigen – von Licht und Schatten begleiteten - Tradition gemäß sind die Treppenreden auch eine Art Rückblick und Ausblick.
Der gemeine Steuerzahler unter den Werktätigen will von uns wissen, was die Akademie mit seinem Geld so alles angestellt hat. Der Kunstfreund in intellektueller Seitenlage dagegen möchte erfahren, zu welchen Galaxien die illustre, mehr oder weniger betagte Herde der Mitglieder demnächst aufzubrechen gedenkt. Jedenfalls wird nach einem reichlich schwierigen Jahr der Akademie der Künste die öffentlich finanzierte Daseinsberechtigung allgemein nicht mehr bestritten. Wir sind derzeit jedenfalls weder ein Objekt der Begierde für feindliche noch freundliche Übernahmen welcher Art auch immer.
Deshalb möchte ich von hier aus allen Mitgliedern, Mitarbeitern, meiner Vizepräsidentin, dem Programmbeauftragten, dem Archivdirektor, dem Verwaltungsdirektor und allen Anregern und Ermutigern überschwänglich danken, die zu diesem erfreulichen Zustand beigetragen haben.
Doch hinter jeder so genannten Erfolgsgeschichte des "Wir sind wieder wer" lauert ein "verschnarchtes" (Zitat Ulrich Matthes) 'Weiter so', vor dem auch die Akteure und Passeure dieser ehrwürdigen Akademie nicht gefeit sind. Das heißt: Wir sind, was die allgemeinen Erwartungen anbelangt, auf dem Wege, aber noch nicht am Ziel.
Bei den verschiedensten Veranstaltungen haben wir dem öffentlichen, dem demokratischen Raum besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Wir haben ihn neu vermessen und beschäftigen uns nun mit der Sicherheit. Jetzt gilt es, ihn gegen jene Interpreten George Orwells zu verteidigen, die seine düstere Beschreibung der Allmacht des Großen Bruders nicht als Warnung, sondern frech als erstrebenswerte Zukunft missdeuten wollen.
Bei meiner letzten Treppenrede habe ich über die Möglichkeiten einer Revolution aus deutschen Landen frisch auf dem Tisch gesprochen. Ausgelöst wurde diese Volte durch die Provokation eines ZEIT-Redakteurs und das großzügige Angebot unseres Archivs, im Fall eines Falles neben der Pistole Tucholskys noch 15 weitere Waffen für den Sieg im Volkskrieg zur Verfügung zu stellen, zählt man die drei registrierten Bumerangs dazu.
Die Resonanz auf den revolutionären Lockruf war theoretisch beachtlich, praktisch mehr als bescheiden. Immerhin erklärten sich vier mündlich und drei schriftlich zum revolutionären Kampf bereit. Nun können zwar sieben Personen in Deutschland juristisch abgesichert einen Verein gründen, aber eine Revolution starten? Aber bedarf es überhaupt einer Revolution?
Leuchtet doch dem von Gleis 1 aus der Tiefe des Hauptbahnhofes emporsteigenden Reisenden die frohe Werbebotschaft entgegen: "400 Meter von hier regiert das Volk“. Noch überzeugender wäre es jedoch, wenn dem potentiellen Reichstagsbesucher gesagt würde, in welche Richtung er "von hier" gehen muss, um das regierende Volk zu treffen.
Allen Unkenrufen zum Trotz: Das Verhältnis der Akademie der Künste zur offiziellen und weniger offiziellen Politik ist konjunkturbereinigt vor Steuern bestens, was allerdings weder für die Politik noch für die Akademie sprechen muss. Das immerhin ist keine Selbstverständlichkeit in Anbetracht der jeweiligen politischen Vita der handelnden Personen. Und für die Haushälterohren unter der verehrten Zuhörerschaft noch eine überaus frohe Botschaft:
In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben wir bereits 43% des Jahreseinnahmesolls für Veranstaltungen eingefahren, was bei unseren überzeugten Gegnern allen Quotendenkens dennoch ein warmes Bimbes-Gefühl hinterlässt.
Von unserer Künstlersozietät wird allerdings mehr erwartet als ausgeglichene Konten. Der Anspruch der Öffentlichkeit nach Wegweisungen der Akademie im Gestrüpp allgemeiner Ratlosigkeit ist größer. Denn eine grassierende Orientierungslosigkeit lässt 1000 seltsame Blumen blühen, neben diversen Kunstblumen auch mehr und mehr Sumpfblumen.
So empfiehlt auflagenstark ein ehemaliger Internatschef für unsere marodierende Jugend Opas Erziehungsmethoden, was selbst für einen bekennenden Anhänger von Disziplin wie mir, des Argen nun wirklich zu viel ist.
Eine weiter wie eh und je aktive Fernsehmoderatorin wiederum erklärt den erstaunten Frauen, warum es am häuslichen Herd der Nation doch am wärmsten ist. Im medial anschwellenden chorus mysticus wird mit immer neuen Verheißungen vom ewigen Mutterglück im Schoß der Familie geschwärmt. Ein leibhaftiger Bischof aus dem Augsburgischen vergreift sich gar an der christlichen Familienministerin, weil sie die Frauen angeblich zu Gebärmaschinen degradieren wolle und erfährt – verkehrte Welt – Unterstützung von der Frau eines linken Oppositionsführers.
Und so geht das weiter. Ziellos Irrende auf Sinn- und Brotsuche wohin man blickt.
Deshalb erwägt die Akademie der Künste am Pariser Platz den öffentlichen Durchgang zum Holocaust-Mahnmal und zurück zum Pilgerpfad für Eilige umzuwidmen. Auch eine Erste-Hilfe-Station für Sinnsucher wird erwogen. Denn schließlich sind wir quasi qua Gesetz und Satzung zur universalen Orientierungshilfe aufgefordert.
Die Akademiegespräche mit ihrem wachsenden Zulauf werden auf Dauer die Erwartungen an unsere Angebotspalette nicht erfüllen können. Da heißt es nachschieben, nachschieben.
Denn im zu beobachtenden Trend zur melancholischen Rückbesinnung und der Sehnsucht nach gestern und vorgestern verheddert sich inzwischen so mancher unterwegs  zu Flucht und Vertreibung im Gestrüpp der Vergangenheitsdeutung.
Jongleure des Täter-Opfer-Spiels, wie der oberste Baden-Württemberger, wollte aus einem nur allzu bekannten Marinerichter postum einen bekennenden Marinehelfer machen, um sich anschließend als Großmeister des Widerwiderrufs zu profilieren.
Ein neuer alter Konservatismus auf der Suche nach Werten im Irrgarten der Ängste und Gefühle.
Einige Katholiken suchen ihr Seelenheil neuerdings in der Rückkehr zum tridentischen Ritual der lateinisch gelesenen Messe. Auch Evangelen sind zunehmend besorgt wegen der zu großen Freizügigkeit in den schwach besuchten Gottesdiensten. Alle wollen wieder ad fontes, zurück zu den Quellen. In die Höhlen der Urchristen aber sicher nur, wenn diese an eine Fernheizung angeschlossen sind.
Auf jeden Fall wollen sich nun viele religiös wappnen gegen die Zumutungen eines militanten Islamismus.
Auch wir haben uns mit einem Akademiegespräch in diese Auseinandersetzung eingemischt. Und darüber festgestellt, dass die Akademie über so gut wie keine Mitglieder mit Migrationshintergrund verfügt. Was wir allerdings haben:
wir verfügen als deutsch-deutsch vereinigte Institution über viele Mitglieder mit Westhintergrund und mit Osthintergrund.
Das wurde deutlich, als einige bisher unauffällige Autoren über diverse Medien eines unserer Mitglieder aus der Sektion Literatur auf das Übelste verleumdeten. Guter Rat für oder gegen eine Verteidigungsstrategie war da teuer. Die mit Osthintergrund rieten mir ohne wenn und aber zur Gegenattacke. Die Westmenschen waren für Aussitzen, um nicht in die Falle der ewigen Rächer der Enterbten zu tappen.
Diese Gefahr war nicht unbegründet, weil vor allem einige Politiker bis heute nicht verwunden haben, dass wir uns schließlich gegen ihr ultimatives NEIN der Mühsal der Vereinigung erfolgreich unterzogen haben.
Das anfangs weit verbreitete Misstrauen gegenüber dem neuen Gebäude am Pariser Platz ist inzwischen Geschichte. Zwar sind die denkmalgeschützten Ausstellungs- samt Archivräume immer noch Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen.
Spätestens mit der großartigen Hans-Haacke-Ausstellung haben wir den Spuk eines weiland an diesem Ort werkelnden Albert Speer mit seinen Germania- Großraumfantasien für ein 1000jähriges Reich endgültig aus unseren Mauern vertrieben.
Auch die schwierige schiefe Ebene im Eingangsbereich wurde dank Schlingensief und seiner bunten Truppe samt Karussellbühne für kurze Zeit Dreh- und Angelpunkt produktiven Anstoßes.
Unangefochten international aufgestellt sind wir in der Toilettenfrage auf Ebene –1.
Ganze Busladungen, vor allem italienischer und französischer Schüler sowie betagter Holländer machen von unserem Gratis-Service-Angebot für elementare Bedürfnisse ausgiebig Gebrauch.
Auch für Treppenkundler aus aller Welt ist der Pariser Platz inzwischen ein absolutes Muss.
Zu den guten Traditionen der Neuzeit in der Akademie gehört die Verleihung des Berliner Kunstpreises jeweils am 18. März in Erinnerung an die Revolution von 1848, eine Revolution, die bisher nicht im Zentrum deutscher Erinnerungskultur steht.
In diesem Jahr wurden die Preise nach 37jähriger Pause zum ersten Mal wieder durch den Regierenden Bürgermeister in der Akademie am Pariser Platz übergeben.
Zu der Unterbrechung war es gekommen, als 1969 die Preisverleihung im vorrevolutionären Tumult der Vietcong-Fahnen schwingenden Teilzeitrebellen unterging. Der damals mauerbedingt nicht anwesende Preisträger Wolf Biermann hatte sein Preisgeld einem gewissen Horst Mahler, für die APO zukommen lassen.
Aber warum sollte nicht auch für diesen die hübsche Losung gelten: Nur wer sich ändert bleibt sich treu.
Belegt hat alle diese Vorgänge unser gewaltiges Archiv.
Wenige Tage nach der Kunstpreisübergabe wurde Klaus Wowereit allerdings vom nunmehr jüngsten Ehrenbürger Berlins als Häuptling einer Regierung entlarvt, die ihre bloße Existenz einem historischen Verbrechen verdanke. Aber vielleicht war das alles nicht so ernst gemeint, nur ein Begriffspingpong als Medienhype.
Erst unlängst haben wir in einem Akademiegespräch, anlässlich der Irrungen und Wirrungen um Peter Handkes zweifelhaftes politisches Engagement in Sachen Jugoslawien, nach der Rolle des öffentlichen Künstlers gefragt.
Dabei ging es um die Frage: Interessiert uns nur das Werk eines Künstlers oder auch seine staatsbürgerlichen Einlassungen?
Ich fürchte, auch diesmal hat man den Künstler mehr als Wunderkerze gewähren lassen, als nicht so ganz Ernst zu nehmen, ausgestattet mit dem strafmildernden Recht der Narrenfreiheit. Anderenfalls müsste man sich um den Zustand der Republik nun wirklich ernsthafte Sorgen machen. Denn wer möchte schon von Verbrechern regiert werden.
Noch ein Nachwort zum Kunstpreis. Mich beschäftigt immer noch die Tatsache, dass von den sieben Förderungspreisträgern kein einziger von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, sich selbst zu Wort zu melden. Oder sollten sie alle nur Schläfer sein, die auf einen möglichst phantasievollen Einsatz warten?
Apropos Fantasie: Nach langem Hin und Her hat sich unsere Institution nach 311 Jahren unter erheblichen Schmerzen und verbliebenem inneren Groll der mehrfach modulierten Rechtschreibreform in ihrer konservativ  möglichen Variante angeschlossen und schreibt Fantasie nun auch mit "F", ohne das Individualrecht ihrer Mitglieder zu beschneiden, sich weiterhin voller Inbrunst der Phantasie mit "Ph" hinzugeben.
Themenwechsel.
Der absolute Held des vergangenen akademischen Jahres kommt nicht aus dem Menschenzoo. Knut war und bleibt die ultimative Antwort auf Artensterben und Klimakatastrophe. Auch wenn sich inzwischen schon einige seiner Artgenossen auf den schmelzenden Polareisschollen gegenseitig auffressen - oder eben verhungern, wenn sie von Kannibalismus nichts halten.
Wir haben jedenfalls KNUT, dem die fähigsten Bonsai-Forscher der Welt doch bitte das Weiterwachsen austreiben mögen. Denn nur so knutig knuddelig verkörpert er alle unsere Sehnsüchte, hilft uns beim Verdrängen des Abwendbaren.
In den USA ist es immerhin jedenfalls schon gelungen, ein behindertes Kind am wachsen zu hindern, um es später besser pflegen zu können.
Jedenfalls wird das im Wirtschaftsleben so lauthals bejubelte Wachstum nicht nur in Sachen Knut zum Bumerang.
Doch, zurück zur Revolution. Einer der drei Hauptgründe für die Notwendigkeit einer Revolution, die ich in meiner letzten Treppenrede ansprach, war die unterlassene Hilfeleistung für unsere Erde, die manche unverdrossen immer noch liebevoll " Mutter Erde " nennen. In Anbetracht des Zustandes derselben kann es mit der Mutterliebe nicht mehr weit her sein. Vor einem halben Jahr noch für viele ein Thema unter vielen, ist der Kampf gegen den Klimawandel inzwischen ins Zentrum gerückt. Und wir können uns nicht einmal darauf hinausreden, dass die Nachricht von den dreizehn Jahren Restlaufzeit, die uns zum Umsteuern noch bleiben, schon deshalb eine Lüge sei, weil sie auf der Titelseite der BILD-Zeitung erschien. Nimmt man die dreizehn Jahre ernst, bedarf es vieler Revolutionen, um die verbliebenen Chancen noch nutzen zu können.
Denn es wird von uns nicht weniger verlangt, als dass wir unseren gesamten Lebensstil in Frage stellen und den Chinesen, Indern und allen anderen klar machen müssen, sich unsere Lebensphilosophie samt Billigfliegerei als Lebensziel endlich aus dem Kopf zu schlagen.
Jetzt rächt sich, dass die Politik wesentliche Steuerungs-Möglichkeiten bereits an die Armeen der Lobbyisten abgetreten hat. Die drohende Entwicklung kann nur jene wirklich überraschen, die sich inzwischen jedes Gefahrenbewusstsein abtrainiert haben.
Als überzeugter Bahnfahrer hatte ich bei meiner Wahl nur eine einzige Bedingung gestellt: eine Bahncard 100. Seit einem Monat habe ich nun diesen Freifahrtschein für alle Busse und Bahnen, von denen tatsächlich ? der Bevölkerung behaupten, diese noch nie in Anspruch genommen zu haben. Da nun mit der Erfüllung dieser Bedingung ein möglicher Rücktrittsgrund entfallen ist, habe ich jetzt mehr oder weniger freudig die neue Rolle angenommen. Ins Schleudern kam ich jedoch, als mir kürzlich jemand augenzwinkernd riet, doch unbedingt die Zeit zu lesen. Dort gebe es einen langen Artikel über einen Präsidenten mit der Überschrift: „Bürger, schafft dieses Amt ab“. Meine Enttäuschung hielt sich nach der Lektüre in Grenzen, als sich herausstellte, dass sich der Autor am französischen Präsidenten abgearbeitet hatte. Denn diese beiden Ämter kann man ja nun wirklich nicht vergleichen, trotz Liberté, Egalité und Fraternité!
Und so beende ich, ganz Protestant, meine streckenweise zur Bußpredigt geratene Rede mit dem 400jährigen Paul Gerhardt: " Geh aus mein Herz und suche Freud".

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