28.3.2018, 09 Uhr
„Vielleicht bin ich auch neugierig genug, um zuhören zu wollen" – zur Erinnerung an Peter Härtling
Anlass des Erinnerns an den im Sommer 2017 verstorbenen ehemaligen Direktor der Sektion Literatur, Peter Härtling, war das Erscheinen von Härtlings letztem, noch kurz vor seinem Tod abgeschlossenen Roman Der Gedankenspieler. Jörg Feßmann, Sekretär der Sektion Literatur, berichtet vom Wirken des langjährigen Direktors der Sektion. Hier können Sie die Begrüßungsrede nachlesen:
Guten Abend, meine Damen und Herren, liebe Mechthild Härtling, liebe Familie Härtling,
ich darf Sie heute im Namen der Akademie der Künste und als Sekretär der Sektion Literatur zu einer besonderen, ja ungewöhnlichen Buchpremiere begrüßen, einer Buchpremiere, die auf der einen Seite Buchvorstellung, auf der anderen aber Erinnern, Gedenken ist. Erinnern an Peter Härtling, der am 10. Juli des letzten Jahres verstorben ist. Wir freuen uns sehr, dass fast die gesamte Familie Härtling nach Berlin gekommen ist, Mechthild, die Kinder Fabian, Friederike, Clemens und Sophie, sowie die Enkelinnen Hannah und Marie. Seid herzlichst Willkommen!
Es ist Brauch in der Akademie, dass den verstorbenen Mitgliedern im Plenum der Herbstmitgliederversammlung gedacht wird. Das sind immer ganz besondere Momente. Auch im letzten November war dies wieder zu erleben, als der Nachruf auf Peter Härtling gelesen wurde. Sein enger Schriftstellerfreund Peter Bichsel hatte ihn auf seine unnachahmliche Art verfasst, gelesen hat ihn Michael Krüger, da Bichsel selbst nicht nach Berlin kommen konnte. Doch zu diesem Zeitpunkt war schon klar, dass es bei Peter Härtling nicht bei einem internen Gedenken bleiben kann, darf. Auch wenn es notwendige Regeln in einer Vereinigung von über 400 Künstlerinnen und Künstlern geben muss – eine davon ist, dass es weder Geburtstags- noch Gedenkveranstaltungen geben darf –, so gibt es Situationen, wo man nach Möglichkeiten suchen muss.
Peter Härtling war ja nicht nur einer der bedeutendsten Romanautoren, Lyriker, Kinderbuchautoren der letzten Jahrzehnte. Er war ein Autor, der unentwegt im Zentrum der literarischen Öffentlichkeit stand, ja sie geradezu suchte. Wenn man nur daran denkt, mit welcher Freude und Energie er von Lesung zu Lesung zog, mit welcher Emphase er Literatur vermittelte, ob als Juror, Herausgeber oder mit seinem Literaturquiz, dem Literatur-Kreuzverhör im Hessischen Rundfunk, das er 40 Jahre moderierte. Peter Härtling hat auch mit größtem Engagement und mit Freude Verantwortung getragen.
Und damit bin ich bei der Akademie: Von heute aus ist es kaum mehr vorstellbar: Insgesamt 24 Jahre war er Direktor der Sektion Literatur, von 1968 – 1970 und von 1984 – 2006. Die Akademie hat ihm viel bedeutet, er hat der Akademie viel geschenkt. So kam mir – als wir, Mechthild, Meike und ich an einem Augustabend lange auf einer Bank vor Peters Grab saßen, über ihn, mit ihm sprachen, und Mechthild von seinem letzten Roman erzählte, den er gerade noch beenden konnte – so kam mir schnell die Idee einer Buchpremiere, mit der Mitglieder der Sektion sich an Peter erinnern.
Ich danke dem Verlag Kiepenheuer & Witsch, besonders seinem Verleger Helge Malchow, der im Anschluss über den Schriftsteller Härtling sprechen und in das Buch einführen wird, ganz herzlich, dass sie diese Idee einer gemeinsamen Veranstaltung gerne aufnahmen. Und ich danke den Mitgliedern unserer Sektion Kerstin Hensel, Katja Lange-Müller und Jürgen Becker sehr, dass sie sofort mit dabei waren.
Alle drei verbindet noch etwas, das ist mir erst jetzt bewusst geworden ist, jeder von ihnen kann beurteilen, was das Amt eines Direktors so alles mit sich bringt. Jürgen Becker war an der Seite von Härtling von 1994 – 1997 Vizedirektor der Sektion, Katja Lange-Müller von 2010 – 2012 und Kerstin Hensel ist die aktuelle Vizedirektorin. Dazu gesellt sich noch Härtlings Lektor, Olaf Petersenn, hinzu, alle vier werden aus dem Buch lesen und sich aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln erinnern.
Leider ist kein Mitglied der Sektion Baukunst heute mit vertreten, das ist schade, denn im Gedankenspieler kommt der Baukunst eine gewichtige Rolle zu. Dass er sich in seinem letzten Roman einen Baukünstler zum Alter Ego gewählt hat, mag zumindest jene nicht überraschen, die ihn in der Akademie erlebt haben. Neben den Schriftstellerkollegen suchte er vor allem zu den Baukünstlern Kontakt. Ich erinnere mich noch gut, wie Peter bei jeder Mitgliederversammlung im Laufe des Abends irgendwann am Tisch der Architekten saß. Die Gattung, die Personen scheinen ihn besonders fasziniert zu haben.
Doch die realen Baukünstler, um die es im Roman geht, Düttmann, Gutbrod, Behnisch, Ackermann, Frei Otto sind alle schon seit Jahren tot. Und Günter Nagel, der ehemalige Direktor der Sektion Baukunst, mit dem er sich gut verstand, musste mit großem Bedauern absagen, da er eine Knieoperation nicht verschieben konnte. Schade, denn es geht im Gedankenspieler nicht nur um die Baukunst allgemein, es geht ganz konkret auch um die Akademie, um das Gebäude am Hanseatenweg und um unseren Neubau hier am Pariser Platz. Wir werden nachher eine schöne Passage dazu hören.
Peter Härtling liebte seinen Hanseatenweg 10. Im Oktober 1962, bald nachdem er mit Mechthild nach Berlin gezogen war und als Redakteur beim Monat begann, besuchte er die Akademie zum ersten Mal. Mit Jürgen Becker und Reinhard Lettau zusammen schaute er sich einen Film von Alexander Kluge an. Seitdem ließ ihn der Ort nicht mehr los, dieses, wie er in seinen Erinnerungen Leben lernen schrieb, „von Werner Düttmann menschenfreundlich gebaute Haus", das sein „Berliner Zuhause" werden und bleiben sollte.
1967, im selben Jahr, als er zusammen mit der Familie Berlin wieder verließ, um Cheflektor bei S. Fischer zu werden, wurde er zum Mitglied der Berliner Akademie gewählt und bald darauf 1968 zum Direktor der Sektion. Und wie man in den Akten des Archivs finden kann, brachte er die Akademie gleich mit einem Artikel im Monat zur Niederschlagung des Prager Frühlings in beträchtliche diplomatische Schwierigkeiten. So schreibt der Präsident der Ostberliner Akademie, Konrad Wolf, zwei Tage vor einem vereinbarten Treffen mit Härtling, bei dem es um die Übernahme einer Johannes R. Becher-Ausstellung gehen sollte, an den Präsidenten der Westberliner Akademie, Boris Blacher: „...Inzwischen hat Herr Peter Härtling in einem in der September-Nummer der Zeitschrift Der Monat enthaltenen Artikel „Die Lehre von Prag" den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR (Anm: das war Walter Ulbricht) in einer nicht zu qualifizierenden Art und Weise diffamiert. Sie werden Verständnis dafür haben, dass die Deutsche Akademie der Künste zu Berlin als Institution der Deutschen Demokratischen Republik es ablehnen muß, mit Herrn Peter Härtling in eine Verbindung – welcher Art auch immer – zu treten." (Brief 30. Sept. 1968)
Ja, es waren bewegte Zeiten, 68 und danach, Peter Härtling hat in seinen Erinnerungen schöne Eindrücke davon gegeben, die langen Nächte in der Akademie mit Jürgen Becker und Helmut Heißenbüttel, „die stets einer von uns als Letzter abschloss", oder die Begegnungen mit Elias Canetti oder mit Zbigniew Herbert, „den ich als Dichter bewunderte, als Schelm aber fürchtete".
Von diesen Geschichten gibt es viele, Peter Härtling hat einige erzählt. Doch neben dem wichtigen kollegialen Neben- und Miteinander war es dann vor allem auch die Annäherung von Ost und West, mit den Berliner Literaturbegegnungen in den 80er Jahren und dann ab 1989 die Zeit der Wende, der schwierige, lange Vereinigungsprozess der beiden Akademien. Wer Peter Härtling hier erlebt hat, wie er debattiert, gestritten, ausgeglichen hat – einige sind hier im Raum, die sich gut erinnern werden –, weiß, wie er durch sein Tun und Auftreten die Akademie geprägt hat und was die Akademie auch für ihn bedeutete.
Es gibt eine schöne Beschreibung von Walter Jens, den damaligen Akademie-Präsidenten (abgedruckt im Biografischen Lesebuch Peter Härtlings von Detlef Berentzen) über Härtlings große Fähigkeit, eine solche Sektion zu führen: „Man hat ihn immer wieder gewählt, weil er erstens verlässlich, zweitens sympathisch und drittens von Grund auf freundlich ist – Brecht'sche Freundlichkeit, die verbinde ich mit ihm. Härtling ist ein vernünftiger, freundlicher Mensch, einer, der, ohne Kompromisse machen zu müssen, oft genug dort Synthesen findet, wo andere nur Gegensätze sehen." Mit dieser Art hat er viel zum Gelingen der Vereinigung der beiden Akademien beigetragen, man vergisst heute gerne, welch intensive Diskussionen innerhalb der Akademie diesen Prozess begleiteten.
24 Jahre lang hat Härtling dieses Ehrenamt als Direktor ausgeübt, das macht man nur – er hat ja auch daneben zahlreiche Bücher geschrieben –, wenn man sich in dieser Institution wohl, aufgehoben fühlt. Und das war der Fall, Peter Härtling hat das oft genug beschrieben und davon gesprochen. Es war seine Akademie, der Hanseatenweg sein „Berliner Ersatz-Zuhause", das Haus mit seinen vielen Geschichten, mit den Apartments, in denen er logierte.
Aber in erster Linie war es die konkrete Zusammenarbeit mit seinem Sekretär, mit Karin Kiwus, und seit Anfang der 90er Jahre auch mit Kerstin Gnielka, der Sachbearbeiterin der Sektion. Fast 20 Jahre dauerte die Zusammenarbeit mit Karin Kiwus, und ich muss zugeben, dass mich ein so langes gemeinsames Wirken fast ein wenig neidisch macht. Ich hatte nur kurz das Vergnügen, ein gutes halbes Jahr durfte ich als Nachfolger von Karin Kiwus noch sein Sekretär sein. Das war viel zu kurz, reichte aber aus, um die Art seines Arbeitens mitzubekommen, wie er mit höchster Konzentration innerhalb kürzester Zeit eine Sache zu verarbeiten wusste und sich eine eindeutige, immer aus einem ungeheuren Wissen resultierende Meinung bildete. (Man musste gut vorbereitet sein.) Aber ich hatte ihn vorher schon über viele Jahre in der Akademie, besonders auch im Akademie-Senat erlebt, mit welcher menschlichen, vermittelnden, zugewandten Art er auftrat, wie er aber auch, wenn es ihm wichtig schien – und meistens war es der genau richtige Moment – mit festem Standpunkt, zuweilen lauter werdendem, auch donnerndem Ton auftreten konnte. Es war immer eine klare Setzung, wenn Peter Härtling sprach – das nahm man ernst. Er war eine Autorität.
Das Wichtigste war ihm, ob in oder außerhalb der Akademie, das Gespräch. Seine Offenheit, seine Dialogbereitschaft, seine Neugier auf das Neue, sein immer offenes Ohr – das war einzigartig. Er suchte das Gespräch, war am anderen ehrlich interessiert. „Zuhören ist für mich ein Grundbestand meines Lebens. Ich brauche das. Vielleicht bin ich auch neugierig genug, um zuhören zu wollen", hat er einmal in einem Gespräch für Sinn und Form gesagt. Der Satz Hölderlins „Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander" war nicht nur eines seiner Lieblingszitate, es war sein Lebensprinzip. Deshalb, durch diese gelebte Offenheit, hatte er auch immer so eine intensive Verbindung zu den nächsten Generationen, mir ging es selbst so, als ich ihn früh kennenlernen durfte.
Peter Bichsel hat diese Eigenschaft in seinem Nachruf treffend beschrieben. Ich darf ihn zum Abschluss zitieren:
„Das Wort Zeit fiel mir in den letzten Wochen immer wieder ein, wenn ich an ihn zurückdachte. Wo und wann – und wie zufällig auch immer – man ihn traf, er hatte Zeit, viel Zeit, wie einer, der nichts anderes zu tun hätte, als eben jetzt hier zu sein, für diesen Menschen hier zu sein. Ich habe ihn nie anders erlebt, als im Zustande der Gemütlichkeit. Härtling liebte die Menschen. Ich weiss, das ist ein simpler Satz. Für Härtling war es mehr, nämlich Prinzip. Dabei konnte er durchaus leidenschaftlich und kämpferisch engagiert sein, aber auch dies nicht ohne sein ‚Raum und Zeit' zu verlassen.
Jörg Feßmann