1.2.2018, 09 Uhr
Sängerkriege und Gründerzeitmöbel aus der Neuköllner Flughafenstraße
Gustav Seibt eröffnet die Performance Peter Rühmkorf und Walther von der Vogelweide mit Stephan Opitz und Joachim Kersten
Am 23. Januar 2018 stellten in der Akademie am Pariser Platz Stephan Opitz und Joachim Kersten den Band Des Reiches genialste Schandschnauze vor, in dem Peter Rühmkorfs Übertragungen von Walther von der Vogelweides Gedichten in ein zeitgemäßes Deutsch, sein bedeutender Essay „Reichssänger und Hausierer“ und sein Briefwechsel mit dem Mediävisten Peter Wapnewski versammelt sind. In seiner Begrüßung sprach Gustav Seibt über Sängerkriege, mittelhochdeutsch-neuhochdeutsche Mischidiome und einem „Fest und Wunder aus Anverwandlung und Philologie“. Hier können Sie die Begrüßungsrede nachlesen:
Im Namen der Sektion Literatur der Akademie der Künste begrüße ich Sie sehr herzlich zu diesem Abend mit einem Walther und zwei Petern, also Vogelweide, Rühmkorf und Wapnewski, sowie mit Joachim Kersten und Stephan Opitz.
Wie die Begegnung der beiden großen deutschsprachigen Sänger und Dichter über einen Zeitbogen von fast 800 Jahren, unter tätiger Mithilfe eines Philologen, zustande kam, das werden uns ihre beiden gelehrten und passionierten Stellvertreter gleich erklären und vor allem vorführen.
Denn Sie haben sich heute, geehrte Zuhörer, ja nicht einfach für eine Wortveranstaltung entschieden – was aus Sicht der Sektion Literatur an sich schon begrüßenswert ist –, sondern für einen mündlichen Live-Act. Sie wollen Dichtung nicht nur lesen, Sie wollen sie hören.
Nun bin ich sicher, dass die meisten von Ihnen sehr gut lesen und sogar schreiben können. Bitte wundern Sie sich nicht über diese Bemerkung, die nicht abschätzig gemeint ist. Noch im 19. Jahrhundert konnte einem hochadeligen Deputierten im preußischen Abgeordnetenhaus, wenn er sich als Protokollführer zur Verfügung stellte, von bürgerlicher Seite die Frage entgegenschallen: „Kann er schreiben?“
Die Frage war berechtigt, denn sie bewahrte die Erinnerung an Zeiten auf, als adelige Ritter und Feudalherren sich für die Künste von Feder und Pergament auf die Dienste von spezialisierten IT-Fachleuten verließen, jene überwiegend geistlichen Nerds, die nicht einmal Sex haben durften. Lesen und Schreiben war etwas für eine winzige Minderheit von klerikalen Fachmäusen. Dichtung und Erzählung dagegen waren Unterhaltungskünste, die der Realpräsenz von Barde und Stimme bedurften und von Mund zu Ohr gingen. Sinnvollerweise betrieb man sie vor größeren Auditorien, für die Menge gern auf Markt- und Dorfplätzen, für die hochkultivierten Vorläufer jener Menschen, die eine Akademie der Künste aufsuchen, in den mit Kaminen beheizten Rittersälen luxuriöser Burgen. Schon die erste deutsche Klassik fand in Thüringen statt, auf der unweit von Weimar gelegenen Wartburg, wo Ihre Vorfahren, sehr geehrtes Publikum, diversen Open Mikes und Poetry Slams von aus dem ganzen Reich angereisten Barden lauschten. Man nannte es Sängerkrieg.
Lyrik und gereimter Roman waren keine Angelegenheit stiller Versenkung und einsamer Lektüre, sondern gesellige Ereignisse, bei denen das Geschnatter des Publikums in den Pausen die Funktion heutiger Rezensionen, literarischer Quartette und Userkommentare vorwegnahm.
Dichtung und Dichter mussten in solchen Direktkonfrontationen mit Konkurrenten und Zuhörern Schmiss, Schärfe und Emotion zeigen, aber genauso ihre Virtuosität, ihr brillantes Können, zur Schau tragen. Das verlangte eine Verbindung von Zugänglichkeit und Subtilität, die wir in heutiger Dichtung hin und wieder vermissen.
Dieser für unser kulturell diversifiziertes Zeitalter fremdartige Sitz im Leben stellt auch die Übersetzung solcher Dichtung vor besondere Aufgaben. Sie muss, wenn sie Wirkungsähnlichkeit anstrebt, versuchen, ebenso ins Blut zu gehen wie ihre mittelalterlichen Vorbilder. Dafür darf sie sich ihre modernen Parallelen nicht in romantischer Subjektivität suchen, sondern eher im Bänkelsang, im Chanson, gar im Schlager. Was sich ganz verbietet, sind jene butzenscheibenhaften mittelhochdeutsch-neuhochdeutschen Mischidiome, mit denen das 19. Jahrhundert sich ein Neomittelalter zurechtschnitzte, das wir heute ungefähr so hübsch finden wie die Gründerzeitmöbel aus der Neuköllner Flughafenstraße. Die Schnörkel lauten „weiland“, „baß“, „fürwahr“ oder „wonniglich“. Das fand man schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts so schrecklich, dass die Germanistik in eine korrekte, aber doch sehr tonarme Prosa auswich.
Hier kommt der dritte Abwesende ins Spiel, der zweite Peter, nämlich Wapnewski, besonders hier in Berlin unvergessen, von dem sich Peter Rühmkorf bei seinem Walther-Unternehmen beraten ließ. Rühmkorfs Walther-Unternehmen der 70er Jahre bestand nicht nur aus Übersetzung und literatur- und sozialgeschichtlich kommentierender Darstellung, es realisierte sich auch in durchaus lebhafter Debatte mit einem gelehrten Kenner, dem der Dichterübersetzer zu unserem Glück durchaus nicht immer folgte. Dieses Fest und Wunder aus Anverwandlung und Philologie werden wir nun also leibhaftig erleben.
Da die drei Protagonisten, Walther und die zwei Peter, verstorben sind, treten hier zwei Testamentsvollstrecker auf. Denn das sind, ganz buchstäblich, Stephan Opitz und Joachim Kersten: die von Rühmkorf selbst bestellten Testamentsvollstrecker und Nachlassverwalter. Die beiden Herren, die ich hier dankbar begrüße, vertreten also den gar nicht so seltenen, aber selten gewürdigten Typus des kulturellen Praktikers. Beide sind geschulte und gewitzte Kenner der Literatur, aber beide arbeiten auch in ernsthaften bürgerlichen Berufen.
Joachim Kersten ist Jurist, als hanseatischer Rechtsanwalt so etwas wie der Lord-Siegelbewahrer des Kulturreichs von Jan Philipp Reemtsma, von dem auch die Akademie der Künste überreich profitiert. Zugleich publiziert Kersten seit Jahrzehnten über Literatur, nicht zuletzt über Arno Schmidt, und er ist ein erprobter Rezitator, dessen Hörbücher zu den besten ihres Genres gehören.
Stephan Opitz hat neben seiner Tätigkeit als Germanist jahrelang in der Leitung von Kulturinstitutionen und in ministeriellen Kulturabteilungen gewirkt, vor allem in Schleswig-Holstein. Er kennt die Sphäre des Geistes also auch von ihrer politisch-organisatorischen Seite her, was ihn zu einigen vieldebattierten öffentlichen Einsprüchen veranlasste. Derzeit arbeitet er an einer textkritischen Gesamtausgabe der Werke von Peter Rühmkorf.
Wir haben, sehr geehrte Damen und Herren, heute Abend also die Besten der Besten im Haus. Ich bitte nun Joachim Kersten und Stephan Opitz auf die Bühne.
Gustav Seibt