10.4.2017, 11 Uhr
Trutz von Christoph Hein: Kerstin Hensels Begrüßung zur Buchpremiere
Am 4. April stellte Christoph Hein zusammen mit Corinna Harfouch und Hans-Eckardt Wenzel im ausverkauften Studio der Akademie am Hanseatenweg seinen neuen Roman Trutz vor. Hier können Sie Kerstin Hensels Begrüßungsrede nachlesen:
Guten Abend, meine Damen und Herren,
„Ich habe keine Rezepte, wie Menschen leben sollen. Ich bin nicht der Auffassung, ich könnte oder sollte Leute auffordern, in einer bestimmten Weise zu leben oder zu denken. (…) Ich glaube, daß alle Literatur im Grunde für einen selbst geschrieben ist: ein Autor verständigt sich mit sich selbst und nur da, wo das einigermaßen gelingt, vermögen die entstandenen Texte für andere von Interesse sein.“
Das hat Christoph Hein vor 40 Jahren in einem Interview geäußert, und für mich, die Heins Prosa, Theaterstücke und Essays seit diesem Zeitraum ständige, geliebte und streitbare Begleiter waren, ist diese Aussage sehr wichtig. Hein vertritt jene sympathisch-gelassene Auffassung von Literatur, die sich allem Vordergründigen, Bekennerhaften und jeglicher Liebedienerei dem Zeitgeist gegenüber entzieht: „Das Ungeheuerlichste ohne Hysterie aufzeigen.“
Christoph Hein ist der stille, genaue, der der Welt nicht ausweicht, sondern sie mit weisem, unbestechlichem Blick durchdringt – ein autarker Figuren- und Geschichtenschöpfer. Mit einem Faible für Kunst und Wissenschaft, Liebesbeziehungen und LiebesENTziehungen, großer Historie und Familiengeschichte. Der Kühle, Distanzierte, der das Feuer, mit dem er schreibt, durch die Kunst der Erzählung in Schach hält. In jedem seiner Werke hat Christoph Hein den Zugriff auf das Jahrhundert. Unter dem tut er’s nicht, daran ist er zu messen, und alles war und ist gut gegen den um sich greifenden kulturellen und geschichtlichen Gedächtnisschwund.
Auch im Roman Trutz, der heute Abend vorgestellt wird, geht es um das Gedächtnis der Menschen. Die Recherche über das Leben zweier Familien während des vergangenen 20. Jahrhunderts gewinnt Gestalt in der Figur eines deutschen Schriftstellers namens Rainer Trutz, dessen Frau Gudrun, sowie Waldemar Gejm, einem Professor für Mathematik und Linguistik an der Lomonossow-Universität Moskau. Gejm hat seit Jahren ein Forschungsgebiet weiterentwickelt: die Mnemotechnik. Die Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung; die Techniken, die der Verbesserung des Speicherns und Behaltens von Erinnerungen dienen.
„Gedächtniskunst“ heißt es in der Antike, und genau diese Verbindung zwischen Denken und Kunst bzw. Denken als Kunst spielt bei Christoph Hein eine Rolle. Die Gedächtniskunst als symbolischer Überbau der Romanfiguren: Die parteioffizielle Gedächtnissteuerung bzw. -ausschaltung wird Trutz wie Gejm zum Verhängnis: der Deutsche, der vor den Nazis geflohen war, wird in einem sowjetischen Arbeitslager von Insassen erschlagen. Die Umschwünge der stalin’schen Politik führen im Falle Gejm zur Deportation, die Kinder der beiden Haupthelden, Maykl und Rem, erleben, ausgestattet mit einem vom Gejm trainiertem Gedächtnis, eine erschütternde Odyssee durch die mörderischen Absurditäten ihrer Zeit, die bis in die Gegenwart reicht.
Hier höre ich auf, weil die Inhaltsangabe eines Romans das Werk sofort verkleinert, eindampft auf eine angeblich entwickelbare Verstehformel. Sie sollen den Roman ja lesen, und sich von Christoph Hein heute Abend ein Stück in seine, also unsere Welt mitnehmen lassen. Das Rettende an den vielerlei vergeblichen Hoffnungen, die uns im Roman gezeigt werden, ist die Klarsicht des Autors. Die Gewißheit, daß unser Gedächtnis – so sehr wir von seiner Unfehlbarkeit überzeugt sein mögen – noch mancherlei Unbekanntes aufzunehmen, zu speichern und kommenden Generationen wiederzugeben hat.
Sie werden jetzt keine klassische Buchvorstellung erleben, sondern – Christoph Hein und Corinna Harfouch werden lesen, Hans-Eckardt Wenzel wird singen.
Kerstin Hensel, 4. April 2017