25.9.2012, 16 Uhr

Die Sprechkünstlerin

Zum Tod von Maria Becker

Foto Christina Maeder

Die Schauspielerin Maria Becker, die am 5. September 2012 im Alter von 92 Jahren in Uster bei Zürich starb, war das letzte noch lebende Mitglied vom legendären Ensemble des als „Emigrantenbude“ von den Nazis geschmähten Zürcher Schauspielhauses, das von 1933 bis 1945 vielen jüdischen und politisch missliebigen deutschsprachigen Theaterleuten rettende Zufluchtstätte war. Gespielt wurden hier vor allem die Stücke von Autoren, deren Werke in Deutschland verboten und verbrannt worden waren.

 

Nachdem sie in Wien von 1936-38 am Reinhardt-Seminar ein Schauspielstudium absolviert und an Wiener Bühnen auch kleinere Rollen in prominent besetzten Aufführungen übernommen hatte – beispielsweise spielte sie in den Kammerspielen des Theaters in der Josefstadt das Hökerweib Kwaschnja im „Nachtasyl“ von Gorki, neben Albert Bassermann als Pilger Luka, Anton Edthofer als Baron, Karl Paryla als Pepel, Hans Thimig als Schauspieler, Tilla Durieux als Wassilissa und Hilde Krahl als Natascha -, glückte es ihr, mit Beginn der Spielzeit 1938/39 ein Engagement an das nunmehr von Oskar Wälterlin geleitete Zürcher Schauspielhaus zu erhalten.

 

Am Reinhardt-Seminar hieß sie noch wie ihre Mutter Maria Fein, für ihre ersten Bühnenauftritte wählte sie das Pseudonym Maria Gutmann, und, nach einem Treffen mit ihrem weiterhin in Deutschland lebendem Vater, dem Schauspieler Theodor Becker, nannte sie sich schließlich Maria Becker. Nach kurzem Aufenthalt in England reiste sie von dort nach Zürich.

 

Familiensinn in unmenschlichen Zeiten

 

Ihr erfolgreiches Debüt am Schauspielhaus war eine kleine Rolle in Wälterlins Inszenierung von Shakespeares „Troilus und Cressida“. Auch Maria Fein erhoffte sich ein Züricher Engagement, erhielt aber nur einen Gastvertrag und musste dann ausreisen. Sie emigrierte nach Frankreich, wurde dort interniert, erst 1942 erreichte Maria Becker mit Hilfe einflussreicher Bewunderer ihrer Schauspielkunst, dass ihre Mutter und deren Bruder, der Übersetzer Franz Fein, wieder in die Schweiz einreisen konnten und Aufenthaltspapiere erhielten. „Familiensinn“, das in entscheidenden Momenten Füreinanderdasein, prägte Maria Beckers Leben und ihr Künstlertum. Sie spielte im Deutschen Volkstheater 1938, als die deutsche Wehrmacht in Wien einmarschierte, in dem Stück „Das Haus Romanoff“ die Rolle der Großfürstin Olga, Tochter der Zarin, die von ihrer Mutter dargestellt wurde. In dem Drama von Tolstoi, „Die Macht der Finsternis“, das Leopold Lindtberg im Februar 1939 in Zürich eindrucksvoll als Menetekel menschlicher Dummheit und Fühllosigkeit in ausbeuterischen Verhältnissen inszenierte, standen sie wieder gemeinsam auf der Bühne: Maria Fein als Anisja, Maria Becker als Akulina, zusammen mit Ernst Ginsberg (Pjotr), Karl Paryla (Nikita), Erwin Kalser (Akim) Therese Giehse (Matrjona) und Wolfgang Heinz (Mitritsch) beschworen sie das furchtbare Gegenbild einer „Familienbande“. Zur Zürcher Theaterfamilie gehörten außerdem Wolfgang Langhoff, Angelica Arndts, Leonard Steckel, Kurt Horwitz, Hortense Raky, Heinrich Gretler, Robert Freitag. Letzteren heiratete Maria Becker 1945. Zwei ihrer drei Söhne wurden auch Schauspieler: Tobias und Benedict Freitag. Man mutete sich künstlerisch alles zu, weil man einander vertrauen konnte und immer wusste, weshalb man hier spielte, engagiert gegen Unrecht und Unmenschlichkeit Zeugnis ablegend.

 

Wechselbäder aus Energie und Innigkeit

 

Maria Becker war, weil sie Sprechkunst liebte, keine auf Punkt spielende Sprech-Schauspielerin, sondern schuf mit großem Formsinn ihre Figuren, entwickelte sie im Zusammenspiel mit den Kollegen. Obwohl sie auch in Komödien und Boulevardstücken mit den passenden Launen und Kapricen auftrumpfen konnte und zum Beispiel eine verführerisch kratzbürstige widerspenstige Katharina war, bewährte sie sich schon als Zwanzigjährige vor allem als die große Tragödin des Ensembles, die ihren Figuren mit einem Wechselbad aus heroinenartiger Leidenschaft, geballter Energie, zarter Innigkeit und großen Sprachgebärden Form und Gestalt zu geben verstand.

 

In Inszenierungen von Leopold Lindtberg, Oskar Wälterlin, Leonard Steckel, Kurt Horwitz und Karl Paryla spielte sie die Elisabeth in Schillers „Maria Stuart“, die Beatrice in „Die Braut von Messina“, die Elmire im „Tartuffe“, Hebbels Judith, Shaws Johanna und Schillers Jungfrau von Orleans, die Helena in „Faust II.“, die Margarete von Parma in „Egmont“, die Gertrud in „Wilhelm Tell“, die Julie in „Dantons Tod“, die Barbara Undershaft in „Major Barbara“ von Shaw, Kleists „Penthesilea“, die Braut in Lorcas „Bluthochzeit“, die Elektra in „Die Fliegen“ von Sartre, die Shen Te/Shui Ta in Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ und in mehreren Inszenierungen immer wieder Goethes „Iphigenie in Tauris“. Und sie war eine ideale Darstellerin der zentralen Frauengestalten in den Dramen Paul Claudels, die Kurt Horwitz mit ihr 1944-1946 erarbeitete: die Proёza in „Der seidene Schuh“, die Sygne de Coûfontaine in „Der Bürge“ und die Pensée de Coûfontaine in „Der erniedrigte Vater“. 1960 spielte sie am Zürcher Schauspielhaus auch die Ysé in „Mittagswende“, inszeniert von Robert Freitag.

 

Die ihr wichtigsten und unvergesslichen Bühnenjahre am Schauspielhaus endeten für Maria Becker 1946, als die meisten Mitglieder dieses herausragenden Familienensembles nach Deutschland oder nach Wien heimkehrten oder Schauspieler und Regisseure wie Lindtberg, Horwitz, Steckel und auch Therese Giehse nur noch gastweise nach Zürich kamen. Auch Maria Becker und Robert Freitag lösten ihre festen Verträge. Die Becker spielte nun erfolgreich auch in Berlin, Hamburg, Wien, bei den Salzburger Festspielen. Die Fundamente vieler Rollen waren in Zürich gelegt worden, nun wurden sie ausgebaut, oft vielgestaltiger, noch formbewusster, „offener“, reicher. In Hamburg inszenierte Karl Heinz Stroux mit ihr „Die Bluthochzeit“, ihr Bräutigam war jetzt Karl John, die Mutter spielte Hermine Körner (in Zürich Robert Freitag, Therese Giehse). Die Körner war vor Maria Fein die Lebensgefährtin Theodor Beckers gewesen und liebte nun Maria wie ihre eigene Tochter, in der sie die Saat ihrer künstlerischen Ideale aufgehen und erblühen sah. Stroux inszenierte 1950 das Stück ein weiteres Mal im Berliner Schlosspark-Theater, wiederum mit Maria Becker und Hermine Körner, nun war Erich Schellow der Bräutigam. Mit Schellow dann als ausgebranntem, dennoch abgebrühten und kampflustigen Ehemann bescherte die Becker ein gutes Jahrzehnt später dem Theater Barlogs einen seiner spektakulärsten Erfolge als Martha in Albees gnadenlosem Ehekriegsreißer „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“

 

Mit der eigenen Truppe unterwegs

 

In dieser Aufführung und in der Uraufführungsinszenierung von Konrad Swinarski der für die Becker von Wolfgang Hildesheimer im Stil einer englischen Restaurationskomödie geschriebenen Geschichtsfarce „Mary Stuart“ 1970 im Düsseldorfer Schauspielhaus, einer grotesken „Herrichtung vor der Hinrichtung“ der schottischen Königin, kam die einzigartige unheimliche Bühnenpräsenz und Wandelbarkeit dieser Darstellerin zu exemplarischer Wirkung. Hans Schwab-Felisch schrieb damals über Maria Becker: „Ihre Stimme wechselt von selbstsicherer Festigkeit bis zu hysterischen Schwingungen; sie bricht in exaltiertes Lachen aus und ist dann plötzlich von unantastbarer Würde. Distanz und Überwältigung sind gleichermaßen in der Körperhaltung und im sprachlichen Ausdruck vorhanden.“

 

Im Unterschied zu Marianne Hoppe und Joana Maria Gorvin ließ sie sich nicht von den das konventionelle Stadttheater (das ihre Einzigartigkeit selten genug zu nutzen verstand) bekämpfenden und neu in Schwung bringenden Regisseuren wie Peter Stein, Luc Bondy, Klaus-Michael Grüber, Robert Wilson oder Peter Zadek verführen, sie zog es vor, mit ihrer 1956 gegründeten eigenen „Schauspieltruppe Zürich“, mit Partnern wie Will Quadflieg oder Walter Richter, durch die Lande zu ziehen; Regie führte in der Regel ihr damaliger Mann Robert Freitag. Mehr und mehr verdiente sie ihr Geld dann mit Fernsehrollen oder mit auf sie zugeschneiderten Soloauftritten in kleineren Privattheatern mit Stücken von Esther Vilar oder Rolf Hochhuth. Letzter schrieb für sie „Effis Nacht“ mit der in eine Bombennacht des Zweiten Weltkriegs versetzten Fontane-Figur der Freifrau von Ardenne, ein Monodrama, dem sie in August Everdings Regie auf der Probebühne des Münchner Prinzregentheaters in ganz unaufwendigem Spiel zu großer Wirkung verhalf.

 

Diese Aufführung ermutigte mich, zu ihr in die Garderobe zu gehen und an Gespräche anzuknüpfen, die wir viele Jahre vorher in Zürich geführt hatten, in denen meine Argumente zugunsten noch von ihr zu spielenden Rollen und zu ihrer Schauspielkunst besser passenden Regiepartnern sie nicht zu überzeugen vermochten. Ich konnte sie jetzt immerhin gewinnen, bei der von mir gestalteten Gedenkfeier zum 100. Geburtstag von Therese Giehse im Zürcher Schauspielhaus mitzuwirken. Auf der Pfauenbühne spielte sie ein letztes Mal 2007 in Matthias Hartmanns „Tartuffe“- Inszenierung, in der sie im Rollstuhl ihren Auftritt als Madame Pernelle absolvierte und mit ungebrochener Stimme und Funken sprühenden Blicken gegen die Unfrommen im Hause wetterte.  

 

Maria Becker war seit 1975 Mitglied der Sektion Darstellende Kunst unserer Akademie.

 

Von Klaus Völker