19.2.2007, 17 Uhr
Das Radio und die Kultur
Zusammenfassung und weiterführende Überlegungen nach dem
9. Akademie-Gespräch vom 19. Februar 2007
1.
Mit seinem „Grundstrom der Mündlichkeit“ (Alexander Kluge), als Vermittler, Produzent und kritischer Begleiter kultureller Darbietungen, als Instrument der Demokratisierung und auch mit seinen Traditionen demokratischer Bewusstseinsbildung gehört das öffentlich-rechtliche Radio zur Kultur unserer Zeit. Es ist nicht allein ein neutrales „Medium“, sondern ein „Kulturgut“ und überdies einem Auftrag unterworfen, wie er für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk generell in § 11 des Rundfunkstaatsvertrags von 1991 festgelegt ist: „Sein Programm hat der Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Er hat Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten“.
2.
In der Praxis haben sich in den letzten Jahren allerdings Wandlungen vollzogen, die die Frage aufwerfen, ob und wie das Radio diesem Programmauftrag gerecht wird. Bei allen Landesrundfunkanstalten hat inzwischen die Aufgliederung in Hörfunk-„Sparten“ bzw. „Formate“ dazu geführt, dass anspruchsvolle Wort- und Musiksendungen in sogenannten Kultur- oder Klassik-Programmen untergebracht werden, die in gewisser Weise auf die Tradition der Dritten Programme zurückgreifen, sie allerdings auch durch ein Verengen beispielsweise des Musikangebots („Klassik“, definiert durch Kompositionen vornehmlich des 17. bis 19. Jahrhunderts) hinter sich lassen. Beklagt werden „Verflachung“ und „Berieselung“. Auch beim Deutschlandradio sind „Information“ (Deutschlandfunk) und „Kultur“ (Deutschlandradio Kultur) wenigstens nominell zwei getrennten Programmen zugeordnet.
3.
Mit seiner Aufgliederung in „Sparten“ und „Formate“ lehnt sich das öffentlich-rechtliche Radio an die kommerziellen, privaten Radioprogramme an. Deren Profilierung durch „Musikfarben“, Moderatorenstimmen und ähnliche auf Marktforschung beruhende Charakteristika ist inzwischen auch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk übernommen worden. An allen Sendern bestimmen Marketingabteilungen wesentlich die Programmgestaltung, womit sie oftmals freies Entscheiden der Redaktionen begrenzen. Mit allen diesen Charakteristika ist das „Kulturradio“ und seine Orientierung auf Hörerakzeptanz zunächst eine Gegebenheit, die zumindest im Blick auf bestehende Programmstrukturen nicht wegzudiskutieren ist. Andererseits darf sie nicht den Blick darauf verstellen, dass das Radio insgesamt Träger von Kultur ist. Dies bedeutet, dass bei Erörterungen seiner kulturellen Potenz auch andere Programme berücksichtigt werden sollten.
4.
Im Zuge seiner „Modernisierung“, die sich als Anpassung an veränderte Hörergewohnheiten darstellt, ist es beim sogenannten Kulturradio inzwischen zum Streit um „Einschalt-“ vs. „Begleit“-Programme gekommen. Werden längere und anspruchsvollere Beiträge (Hörspiele, Features, Essays, Lesungen, Konzerte) eher im Abend- und Nachtprogramm sowie am Wochenende gesendet, wo sie der Hörer gezielt „einschalten“ soll, so ist die übrige Zeit einem „Tagesbegleitprogramm“ vorbehalten, das durch Kürze der Beiträge, einen abwechslungsvollen Magazincharakter, sowie einen speziellen, auf Zerstreuung ausgerichteten Tonfall der Moderatoren und Autoren gekennzeichnet ist. Dabei sind unterschiedliche Ausformungen dieses Modells zu beobachten: verstehen es etwa Bayern 2 Radio, der SWR 2 oder Deutschlandradio Kultur, mit einem „Mischangebot“ Elemente des „Einschalt“- und des „Begleit“-Radios zu kombinieren, so scheint beim RBB-Kulturradio oder bei NDR Kultur der Abbau anspruchsvoller Wortbeiträge und längerer Musiksendungen im Tagesprogramm am weitesten fortgeschritten. Einigen Beobachtern zu Folge ergibt sich so bei den Landesanstalten ein Qualitätsgefälle von Süd nach Nord.
Bei der Neubesetzung von Moderatoren, die einem „Tagesbegleitprogramm“ entsprechen sollten, haben einige Sender auf der Suche nach All-Round-Talenten spürbare Qualitätsmängel in Kauf genommen. Maßstab für die Auswahl und Ausbildung von Moderatoren für kulturorientierte Radioprogramme kann jedoch nur intellektuelle und kulturpolitische Kompetenz sein. Wer ein Kulturprogramm präsentiert, muß dem Anspruch der Hörer wie den Inhalten der Sendung gewachsen sein.
5.
Anlass zu den jüngsten, nach ihrer Einführung jedoch teilweise wieder revidierten Programmreformen beim Kulturradio ist ein durch Ergebnisse der Medienforschung (gesunkene Einschaltquoten) festgestellter Hörerschwund. Seinen Grund sehen die Reformer im Auseinanderklaffen bisheriger Kulturradioprogramme und einem veränderten Hörverhalten, wie es prototypisch in einer Untersuchung zum Kulturradio festgehalten wird: „Nur die wenigsten Nutzer wollen noch konzentriert einer längeren Sendung gezielt zuhören, sich auf ein Musikwerk einlassen, und wahrscheinlich könnten dies auch nur noch die wenigsten Menschen, denn die Fähigkeit zum Zuhören ist immer mehr verloren gegangen“ . Dieser Ansicht folgend gilt bei Musik- aber auch bei Wortbeiträgen zerstreutes Wahrnehmen flüchtiger Hörereignisse als „modern und „jung“ und intensives Zuhören als eher selten, ja „veraltet“. Dem widerspricht allerdings eine gewachsene „Kultur des Hörens“, wie sie in anderen Sparten zu beobachten ist. Zu nennen sind der Boom der Hörbücher, die in großer Zahl Radioproduktionen sind, die zunehmende Attraktivität des Auditiven, wie sie in eigenen (Amateur-) Produktionen, sowie in Herstellung und Austausch von „Audioblogs“ im Internet zum Ausdruck kommt, oder der massenhafte Zuspruch, den Musikfestivals wie „Ultraschall“ mit ihren oft ebenso langen wie schwierigen Programmen neuerdings gerade bei jungen Leuten finden. Zu fragen ist: wie kann dieser Widerspruch in der Gestaltung von Radioprogrammen aufgelöst werden?
6.
In der Folge der jüngsten Programmreformen beim Kulturradio kam es zu massiven Hörerprotesten, gerichtet gegen „Zerstückelung“ und „Häppchenprogramme“ im „Tagesbegleitprogramm“, gegen die Begrenzung seiner Wortbeiträge auf maximal 3 Minuten, sowie gegen das Abspielen nur noch einzelner Sätze aus dem Repertoire der E-Musik. Eine Flut entsprechender Leser- und Hörerbriefe sowie die Bildung von Hörerinitiativen lassen inzwischen erkennen, dass es weiterhin Hörer gibt, die sich eine „anspruchsvolle“ Gestaltung auch des Tagesprogramms der Kulturradios wünschen, aber auch: dass sich dieser eher kleine Hörerkreis durch starke Sender- und Programmbindung, sowie durch Entschiedenheit des Urteils auszeichnet. Die Ansprüche dieser Hörer sind berechtigt, ohne dass damit deren teilweise vorhandener Fundamentalismus legitimiert wäre. Verfehlt wäre es, „Qualität“ einzufordern, ohne sie an veränderten Hörgewohnheiten zu messen. Verfehlt wäre es insbesondere, sie in einer Rückkehr zu den „alten“ Radioprogrammen verwirklicht zu sehen. Vor allem aber ist zur Kenntnis zu nehmen, dass sich neben diesem Hörerkreis längst andere Hörertypen gebildet haben, die mit dem Kulturradio (noch) nicht erreicht werden.
7.
Unabhängig von den Ergebnissen der Medienforschung wäre jedoch ein Kulturbegriff zu entwickeln, der sich nicht an Hörertypen allein (den „Traditionellen“ hie, den „neuen Kulturinteressierten“ da ) orientiert, sondern am „Auftrag“ von Kultur und Bildung. Kultur und Bildung sind kein Selbstzweck, schon gar nicht durch eine „Holschuld“ der Hörer einzulösen. Ihren Auftrag kann das Radio nur realisieren, indem es Neugier weckt. Dazu gehört, der Spartentrennung in „Kultur“ (anspruchsvolle Wortprogramme), „Klassik“ (anspruchsvolle Musikprogramme) „Information“ und „Unterhaltung“ mit einem Programmangebot zu begegnen, das Elemente des „anderen“ nicht ängstlich ausklammert, sondern sie in das jeweilige Programmprofil integriert. „Anspruchsvolles“ kann auch unterhaltsam sein, politische Themen können und sollen auch „kulturell“ aufgearbeitet sein, Kulturthemen können auch die Brisanz von Nachrichtenmagazinen haben (die Feuilletons der großen Tageszeitungen zeigen es). Die Hinwendung hierzu ist bei einigen Radioprogrammen bereits zu beobachten. So scheinen reine Klassikwellen auf dem Rückzug zu sein. Nach dem Einstellen von HR Klassik ist Bayern 4 Klassik das einzige Programm dieses Typus. Und auch hier scheint inzwischen eine Öffnung über die reine Klassik hinaus stattgefunden zu haben. Schon dies zeigt: Ansprüche an das Radio, Lobbyarbeit für dessen Zukunft können sich nicht in abstrakter Entgegensetzung erschöpfen, sondern müssen berücksichtigen, dass Radioprogramme im Fluss sind und sich Impulse für Neues auch aus der Programmbeobachtung ergeben. Zu messen ist das Radio letztlich daran, ob es ihm gelingt, neue Sprachen des Wortes, der Musik und der Klänge zur Geltung zu bringen.
8.
Über das Anprangern hinlänglich bekannter Gefahren hinaus, die dem Radio gegenwärtig drohen (Einsparungen, Musik als Dauerberieselung, Kürzung der Wortanteile, sowie deren populistisch anbiedernde Ausformung, Fehlentwicklungen einer auf Fachterminologien der “Medienforschung am grünen Tisch“ gestützten Programmausrichtung, nicht zuletzt der Schatten, den das Fernsehen über das Radio wirft) gilt es, die Spezifik des Radios und seine offenkundigen Stärken im Auge zu behalten. Sein relativ geringer technischer Aufwand auf Sender- wie Empfängerseite ermöglichen Nähe und Beweglichkeit. Als Medium für das Ohr und als „erzählendes“ Medium ist es dem gesprochen Wort verpflichtet und verkörpert somit Basiseigenschaften der Demokratie. Es verfügt über einen großen Reichtum von Stimmen und Tonlagen und ist so in der Lage, sich allen Lebenslagen und Orten anzupassen. Darüber hinaus stimuliert es gerade durch seine Beschränkung auf das Ohr und seine Mittel des kreativen Umgangs mit Klangmaterial aller Art die Phantasietätigkeit des Hörers. Eingebunden in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verfügt es über eine Vielzahl regionaler Färbungen, die damit auch einem großen Radius von Ansprüchen entgegenkommen und ihrerseits zur Hörernähe beitragen. Als aktuelles Medium und – mit den angehäuften Schätzen seiner Schallarchive – als mediales Gedächtnis unserer Epoche zeichnet es sich durch eine große Bandbreite von Möglichkeiten aus. Nicht zuletzt sind die Radioanstalten mit ihren Klangkörpern, als Veranstalter von Konzerten, Performances und Festivals, als Produzenten von Hörspielen, Features und Lesungen, sowie als Auftraggeber von Autoren ein bedeutender Kulturfaktor. Auch wenn eine fortschreitende Digitalisierung des Radios durch Internetradio, Podcast und Audioblogs möglicherweise zur Abkehr von den linearen Programmen führt, können sich die spezifischen Möglichkeiten des öffentlich-rechtlichen Radios auch unter diesen Bedingungen behaupten.