10.6.2024, 10 Uhr

Das „Ungeheuerliche des Lebens“

Franz Kafka - das zweite Jahrhundert

Zum Auftakt der Veranstaltung „Franz Kafka – das zweite Jahrhundert“ am 3. und 4. Juni blickt Kerstin Hensel, Direktorin der Sektion Literatur, zurück auf eigene frühe Kafka-Lektüren:

 

„Sehr geehrte Damen und Herren,

fast jeder, der sich in diesem Jahr über Franz Kafka äußert, beginnt damit, daß er feststellt, daß jeder, der sich in diesem Jahr über Franz Kafka äußert, feststellt: Der Literaturkosmos ist voll von Wissenden, die sich über Franz Kafka äußern und feststellen: Es gibt noch vieles aus den geheimnisvollen Tiefen der Literatur und dem Leben dieses außergewöhnlichen Verfassers ans Licht zu holen. Vieles, von dem wir nur glauben, es zu kennen, was wir in unserer analytischen Neugier erahnen oder, im wechselnden Licht der Zeiten betrachtet, es bisher ganz anders gesehen haben, wenn überhaupt.

Erwarten Sie bitte nicht, daß ich mich mit zu jenen Wissenden geselle, die sich bereits, wie gesagt, allseits über Kafka geäußert haben, oder zu haben scheinen, weil es bleibt ja immer etwas übrig, das nicht festzusetzen ist.

Ich möchte daher nur zur Einstimmung ganz kurz auf meine eigenen ersten Kafkaerlebnisse zurückblicken, die in den 70/80ern in der DDR stattfanden. Es wird gern behauptet, Kafka sei im Osten verboten gewesen. Das stimmt nicht. In meinem Bücherschrank finden sich sämtliche seiner Werke. Sie sind zwischen 1965 und 1988 in ostdeutschen Verlagen erschienen. Schulstoff war Kafka freilich nicht. Genauso wenig wie Liebling einer breiten Leserschar.

Wir, d.h. eine Gruppe denkwilliger Gleichgesinnter, die sich – wenn sie schon die Welt nicht bereisen konnten, dieselbe über die Weltliteratur in ihre Zimmer holten –, haben Kafka gelesen. So wie man mit hochschlagendem Herzen Geheimschriften entschlüsselt. Kafkas Literatur traf uns im Inneren: diese surreale, expressive, ironische Melange aus Fantasie, Utopie, Psychologie, Religion, Pädagogik und eigener Biografie, die uns die Entfremdung des Menschen von seiner Gesellschaft, die Vergeblichkeit des Tuns, aber auch die Phasen des Glücks an der eigenen Schreibarbeit vor Augen führte. Ich weiß nicht, ob es einen ernstzunehmenden DDR-Autor gab, der Kafka nicht gelesen hat.

Wie jedoch bekannt ist, nahm Franz Kafkas Literatur in der DDR und anderen sozialistischen Ländern im offiziell propagierten Literaturverständnis keinen hohen Rang ein. Im Gegenteil: Von obersten Kulturbehörden wurde Kafka bewußt mißverstanden, ideologisch verzerrt, schlimmster antisozialistischer Einflußnahme verdächtigt, als formalistisch und bürgerlich dekadent abgekanzelt. Mit einem Wort: Er war verpönt und lange Zeit aus dem regulären Erbe-Kanon ausgeschlossen.

Grund für dieses Um-sich-Beißen der Kulturwächter waren Kafkas Erzählungen und Romane, die alptraumhafte hierarchisch-bürokratische Machtsysteme beschrieben, die, wenn man sie politisch las, als „Entlarver der Unmenschlichkeit und Undurchschaubarkeit des realen Sozialismus“ interpretiert werden konnten.

In Meyers Universallexikon von 1979 steht: „In Kafkas Literatur spiegelt sich die allgemeine Krise des Kapitalismus als Entfremdung und Existenzangst. Sie war nur in der bürgerlichen Literatur einflußreich. Die Ausweglosigkeit seiner an unveränderlichen Verhältnissen gefesselten Menschen feuert die imperialistische Ideologie an.“ – Über diesen Schmäh hinaus verurteilte man Kafkas irrationale Weltmodelle und war der Meinung, es würde dem Autor immer nur um die eigenen Probleme gehen. „… ihm fehlen alle Voraussetzungen… um zu einer demokratischen Konzeption der Literatur zu gelangen. Kafkas Literatur dient allein fortschrittsfeindlichen Zwecken.“

1962 erschien in Sinn und Form eine Rede Jean-Paul Sartres über Kafka, woraufhin der Chefredakteur Peter Huchel entlassen wurde. 1963 fand im tschechischen Liblice eine internationale Tagung über Kafka statt, die als DIE Kafka-Konferenz bekannt wurde. In dieser Konferenz war man bemüht, die dogmatische Ablehnung Kafkas aufzubrechen, wenn auch in widersprüchlichen Haltungen. So gesehen kann man dieses Ereignis als Markstein eines Demokratieprozesses sehen, der leider nie wirklich eingetreten ist.

In Vorbereitung auf diesen Abend habe ich all meine Kafka-Bücher nochmal wiedergelesen mit jener Neugier, Atemlosigkeit, mit jenem Schrecken und Vergnügen wie in meinen jungen Jahren. Aber vielleicht habe ich sie auch anders gelesen: intensiver, wissender, weil die Erfahrung Kafkas, daß das „Ungeheuerliche des Lebens nicht darin besteht, daß es ungeheuerlich ist, sondern daß man es annehmen kann“, auch meine Erfahrung geworden ist.

Ein Miniaturstück Kafkas möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:

Die Bäume. Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.

Unsere zwei tollen Tage, die ich ankündigen darf, zu denen ich sie einladen möchte, werden mehr beinhalten als das Aufwärmen von Bekanntem, mehr als die Repetition von ästhetischen und biografischen Erkenntnissen, aus denen beispielsweise das Adjektiv „kafkaesk“ erwachsen ist, oder der Mythos Kafka.

Das Kafka-Kaleidoskop übergebe ich jetzt meinem Kollegen Thomas Lehr, der mit Fleiß, Wissen und großem Engagement das alles auf diese Bühne bringt.“

 

Mehr Eindrücke aus dem Programm der Veranstaltung "Franz Kafka - das zweite Jahrhundert" finden Sie in Kürze hier auf der Webseite der Sektion Literatur im Bereich ‚Schwerpunkte‘.