9.10.2020, 09 Uhr
Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel eröffnet Konferenz zur Gründung einer Allianz europäischer Akademien
Am Donnerstag, 8.10.2020, eröffnete in der Akademie der Künste am Pariser Platz die Konferenz zur Gründung einer Allianz europäischer Akademien, die sich für die Freiheit der Kunst einsetzt. Lesen Sie hier das Grußwort von Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel.
Sehr geehrter Herr Botschafter Pedro Villagra Delgado,
lieber Robert Menasse, liebe A.L. Kennedy (digital), lieber Basil Kerski,
sehr geehrte Allianz-Teilnehmer*innen,
liebe Akademie-Mitglieder,
meine Damen und Herren,
vielen Dank an die AoA Impro-Gruppe: Almut Kühne (Stimme) aus Deutschland, Elena Kakaliagou (Waldhorn) aus Österreich und Griechenland, Antonio Borghini (Akustikbass) aus Italien, Dag Magnus Narvesen (Schlagzeug) aus Norwegen, Floros Floridis (Sopransaxofon, Bassclarinette) aus Griechenland. Die Mitglieder kennen sich musikalisch seit Jahren aus unterschiedlichen Musikformaten. Dieses Ensemble mit dem Namen AoA Impro wurde speziell für diesen Anlass gegründet.
Die abstrakte Musiksprache hat den Vorteil, dass Menschen aus verschiedenen Ländern und verschiedenen Altersstufen miteinander kommunizieren und sich verstehen können. Es bleibt zu hoffen, dass die Nationen in Europa mit all ihren Unterschieden eine gemeinsame Sprache finden können.
Danke auch an das ganze Team der Akademie der Künste, das ich nicht im Einzelnen nennen kann, das über Monate diese Zusammenkunft entworfen und organisiert hat. Es war keine leichte Aufgabe. Danke an Sigi Paul und seine Leute für den technischen Support.
„Ist Europa noch zu retten?“, lautet eine handschriftliche Notiz von Heiner Müller für seinen Text „Bautzen oder Babylon“, dem Aufruf zur Gründung einer Europäischen Sozietät, den der Schriftsteller und Theaterregisseur, von 1990 bis 1993 Präsident der Akademie der Künste, Berlin (Ost) 1991 schrieb. Ich zitiere daraus:
„Nach dem Ende der Ideologien muß der notwendige Dialog auf dem Boden der Tatsachen geführt werden. Die Kunstwerke sind das Gedächtnis der Menschheit, Gedächtnis setzt das Überleben der Gattung voraus. Sie steht zur Disposition, die Abwicklung des Planeten ist im Gange. Berlin wird als Drehscheibe zwischen Ost und West ein Ort sein, an dem Entscheidungen fallen, die nicht nur für Europa relevant sind. Deshalb die Idee einer Europäischen Sozietät in Berlin, die nicht eurozentristisch gedacht ist – Europa, das die USA und die Sowjetunion nicht ausschließen kann, hat eine Schuld abzutragen, historisch und aktuell - , einer Werkstatt der Künste, die aus dem Dialog der Akademien mit den Toten heraustreten müssen in die Zugluft der Gegenwart und des öffentlichen Denkens, gegen modische und/oder ökonomisch definierte Szenarien des Untergangs, für eine mögliche Zukunft ohne Selektion. Wir brauchen Ihre Hilfe.“
Mein persönlicher Blick auf Europa war zunächst einer von außen. Als ich noch ein Kind war, in Argentinien, war Europa ein Geruch: der Geruch der Kleidung meiner Mutter, der Dinge, die sie sorgfältig in Schachteln über den Winter aufbewahrte (möglicherweise war es der Geruch von Mottenkugeln). In einem Vorort von Buenos Aires, wo ich aufwuchs, hörte ich geheimnisvolle deutsche Worte wie „Spätzle“ (vom Vater) oder weiche gesungene französische Töne wie „Au clair de la lune, mon ami Pierrot --- Prête-moi ta plume, pour écrire un mot …“ (die Mutter).
Ohne es zu wissen, war ich bereits Europäerin. Später, als Jugendliche, waren es die Gedichte, die Jorge Luis Borges über europäische Städte oder Sprachen schrieb. Es war eine sehr vage Vorstellung von einem Ort, zu dem wir gehörten und doch nicht gehörten… Später, als ich die Journalistenschule besuchte und schon eine überzeugte Lateinamerikanerin war, war ich gegen Europa. Europa hatte uns kolonisiert, hatte Lateinamerika mit Bibel und Schwert seine Kultur aufgedrängt.
Und danach, in der schwersten Zeit der Verfolgung der Andersdenkenden durch die argentinische Militärdiktatur in den 1970er Jahren, machte Europa und speziell die Bundesrepublik Deutschland die Augen zu, verkaufte Waffen an die Generäle und kümmerte sich nicht einmal um die verschleppten Bürger deutscher Nationalität.
Und wir (das „wir“ war ein klares Gefühl damals) – wir Argentinier brauchten dringend die Unterstützung anderer Länder, anderer Menschen. So fühlte ich damals mit der Generation von jungen Menschen, die gegen das Unrecht kämpften.
Ich war den Weg nach Europa gegangen, noch vor Beginn der argentinischen Militärdiktatur. Ich konnte nach Europa, weil ich mich für Deutschland entschieden hatte – das Land, aus dem meine Familie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft vertrieben worden war.
Warum erzähle ich Ihnen das alles?
Weil jeder von uns einen anderen biographischen und/oder politischen Bezug zu Europa hat.
Weil es erklärt, warum ich mir Europa heute nur als Offenen Kontinent träumen kann. Als einen Kontinent, der sich nicht vom Rest der Welt abschottet, der Verantwortung übernimmt für die verheerenden Auswirkungen und Zerstörungen der kolonialen Eroberungskriege, und der die Verantwortung übernimmt, zu einem gleichberechtigten Miteinander weltweit beizutragen.
Der Historiker, Philosoph und Schriftsteller Yuval Harari schrieb am 20. März 2020 in der Financial Times: „In dieser Krisenzeit stehen wir vor zwei besonders wichtigen Entscheidungen. Die erste liegt zwischen totalitärer Überwachung und Stärkung der Bürgerrechte. Die zweite ist die zwischen nationalistischer Isolation und globaler Solidarität.“
Wir sind hier zusammen, weil wir die Solidarität wählen.
Im Vertrag von Lissabon (zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft), unterzeichnet am 13. Dezember 2007, wurde folgender Artikel 1a eingefügt:
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.
Um Europa zu dem Ort zu machen, wie ihn dieser Artikel beschreibt, müssen noch Meilensteine überwunden werden. Die Politik allein wird es nicht bewerkstelligen können.
Sie kennen die gegenwärtigen Entwicklungen in Europa, das Erstarken undemokratischer Tendenzen, nationaler Egoismen und Grenzziehungen, die Akzeptanz menschenverachtender Vorgänge an den Grenzen Europas zur Wahrung der eigenen „Komfort Zone“.
Auch Deutschland bewegt sich mit dem Erstarken der AfD in eine gefährliche Richtung – ich denke an den erschütternden Angriff auf die jüdische Gemeinde in Halle an Jom Kippur am 9. Oktober letzten Jahres. All dies scheint uns um ein Jahrhundert zurückzuversetzen, in Zeiten, zu denen auch die Berliner Akademie der Künste und ihre Mitglieder eine beschämende Rolle gespielt haben. Zwischen 1933 und 1938 wurden 41 Akademie-Mitglieder aus politischen oder antisemitischen Gründen ausgeschlossen (sie können die Namen der ausgeschlossenen und ausgetretenen Mitglieder an unserer Fassade lesen).
Noch heute stellen wir uns die Frage: Was wäre geschehen, wenn eine bedeutende Einrichtung wie die Akademie der Künste in Berlin Widerstand geleistet und sich nicht vorauseilend dem Naziregime unterworfen hätte?
Doch was kann eine Institution wie die Akademie der Künste gegen undemokratische und nationalistische Kräfte in Europa tun?
Diese Frage bewegt mich seit meinem Amtsantritt als Akademie-Präsidentin vor gut 5 Jahren.
Die Akademie der Künste meldet sich regelmäßig zu Wort, um verfolgte Künstler*innen zu verteidigen. Wir sorgen dafür, dass der literarische Nachlass unseres ehemaligen Präsidenten György Konrad der freien Forschung zur Verfügung steht, wehren uns gegen die Instrumentalisierung des Gedenkens an Walter Benjamin durch die französische Rechte. Ausstellungen und Veranstaltungen thematisieren Europa: in der Akademie der Künste am Hanseatenweg die Baukunst-Ausstellung „urbainable – stadthaltig. Positionen zur europäischen Stadt für das 21. Jahrhundert (bis 22.11.) und hier am Pariser Platz „KONTINENT – Auf der Suche nach Europa“ der OSTKREUZ – Agentur der Fotografen (bis 10.1.2021), letztere als Teil des Europäischen Monats der Fotografie (EMOP).
Sicher können Sie – jeder von Ihnen – selbst viele Beispiele beitragen, wie sie in der täglichen Arbeit ihrer Institution zur Wahrung der gemeinsamen demokratischen Werte und zur gegenseitigen Unterstützung bereits beitragen.
Ich denke zum Beispiel an die Anfang September veröffentlichte Solidaritätserklärung der Senate der Österreichischen Kunstuniversitäten mit der Universität für Theater- und Filmkunst Budapest – nachdem die rechtsnationale Regierung Viktor Orbáns Maßnahmen zur Aufhebung der Autonomie ihrer Lehre ergriffen hatte.
Ich denke auch an den offenen Brief portugiesischer Künstler*innen und Intellektuelle gegen Rassismus, der auf die Ermordung des Schwarzen Theaterschauspielers Bruno Candé Ende im Juli dieses Jahres.
Ich denke an den Einsatz und die Aktivitäten so vieler Freunde hier in Berlin: Nele Hertlings Initiative „A Soul for Europe“, oder Esra Kücüks Call for Projects im Rahmen von „The art of bringing Europe together“.
Ich denke an die Verdienste der Solidarnosc-Bewegung in Polen, die vor 40 Jahren aus einer Streikbewegung heraus entstand und deren Mitglieder sich solidarisch und mutig für Menschenrechte einsetzten. Es freut mich daher sehr, dass wir heute Abend Basil Kerski zu Gast haben, den Direktor des Europäischen Solidarnosc-Zentrums in Danzig. Ein Zentrum, das auch heute in Polen die Demokratie und den Rechtsstaat verteidigt.
Ich könnte viele weitere Beispiele nennen. Doch das allein reicht nicht aus. (Wenn es so wäre, wären wir heute nicht hier)
Es gibt schon viele Manifeste. So schrieben zum Beispiel Ulrike Guérot und Robert Menasse 2013 in ihrem Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik:
„Niemand weiß heute, wie das Avantgardeprojekt, nämlich die nachnationale europäische Demokratie, am Ende konkret institutionell verfasst sein wird. Das zu diskutieren, mit aller Kreativität, zu der dieser Kontinent fähig ist, ist die Aufgabe, die sich uns heute stellt.“
Ich bin Dir, Robert Menasse, sehr dankbar, dass Du für mich so ein großartiger Partner bei der Vorbereitung der Europäischen Allianz der Akademien geworden bist und Du heute Abend mit dabei bist.
Es gibt schon nationale und internationale Allianzen, im Kultur- als auch im Wissenschaftsbereich: Allianzen, die wie wir die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft fordern, wie sie auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2012) in Artikel 13 verankert wurde.
Und doch: Es ist meine große Hoffnung, dass wir gemeinsam mehr bewegen können. Möglicherweise sind wir uns in Detailfragen uneins, möglicherweise variieren unsere Interessen und Blickwinkel. Aber meine Hoffnung ist, dass wir voneinander lernen, dass wir neugierig und offen aufeinander zugehen und Wege der Zusammenarbeit finden.
Es freut mich sehr, dass so viele Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Kunst- und Kulturinstitutionen unserer Einladung gefolgt sind. Mit unseren unterschiedlichen Visionen, Träumen und Überzeugungen können wir gemeinsame Handlungsmöglichkeiten ausloten und die Basis für ein solidarisches Miteinander ermöglichen.
Aufgrund der Corona-bedingten Reisebeschränkungen mussten viele Teilnehmenden ihre geplante Anreise kurzfristig wieder absagen. Das ist sehr bedauerlich. Umso mehr freut es mich, dass wir uns zumindest durch die digitale Technik begegnen können.
Wir – das sind viele – aber nicht alle. Die Einladung erging zunächst nur an die EU-Mitgliedsstaaten. Doch zu Europa gehören mehr. Natürlich bin ich auch bereit zu einer weiteren Öffnung, sofern wir uns gemeinsam darauf einigen.
Die Konferenz wird gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Wir befinden uns in Deutschland in einer relativ komfortablen Situation, die Autonomie der Kunst wird seitens der Politik offiziell anerkannt. In ihrer Festrede zum 70-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland im Mai letzten Jahres hob Kulturstaatsministerin Monika Grütters – die morgen Vormittag zu uns sprechen wird- den hohen Wert der Kunst- und Pressefreiheit für die Demokratie hervor (ich zitiere):
„Jede autoritäre Herrschaft beginnt damit, dass Intellektuelle, Kreative und Künstler buchstäblich mundtot gemacht werden. Der Parlamentarische Rat hat in Artikel 5 die Freiheit der Kunst und der Presse deshalb vor 70 Jahren aus gutem Grund in den Verfassungsrang erhoben. Künstlerische Vielfalt ist auf Dauer stärker als populistische Einfalt.“
In einem Vortrag im Plenum unserer Mitgliederversammlung im November 2016 – es war wenige Monate nach dem Brexit-Referendum und noch vor der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA – erzählte uns A.L. Kennedy drei Geschichten – Geschichten über die Veränderung, ja Verdüsterung des kulturellen Klimas in Großbritannien, Geschichten vom FALLEN: „Wir können nicht fliegen. Wir fallen“, schrieb sie einleitend. Und doch öffnete sie uns am Ende ihres Vortrags auch die Augen für die schönen Augenblicke, für friedliche Szenen des Miteinanders aus dem Central Park, für deren Verlängerung es zu kämpfen gilt. Sie schloss – ich zitiere – „Und in den dunklen Zeiten dürfen wir nicht vergessen zu singen – und zwar über viel mehr zu singen als nur über die dunklen Zeiten.“
Ich freue mich sehr, dass auch sie heute Abend mit dabei ist, mit ihrer pointierten Gesellschaftskritik, ihrer poetischen Kunst und ihrer zutiefst menschlichen Haltung.
Das ist (alles), was wir brauchen:
Solidarität, Demokratie, voneinander Lernen, Menschlichkeit.
Unser Manifest wird vielleicht nicht sofort mit Pauken und Trompeten wirken; es wird aber unseren Willen zeigen, gemeinsam Europa zu dem zu machen, was versprochen war: ein transnationales Friedensprojekt.