5.9.2017, 11 Uhr
„Es gibt nichts, was Thomas Lehr nicht kann“: Friedrich Christian Delius zur Buchpremiere von Schlafende Sonne
Am 31. August 2017 stellte Thomas Lehr im Gespräch mit Sigrid Löffler seinen neuen Roman Schlafende Sonne vor. Hier können Sie Friedrich Christan Delius' Begrüßungsrede nachlesen:
Meine Damen und Herren,
vor jede Veranstaltung haben die Götter das Ritual der Begrüßung gesetzt, und ich erfülle diese Pflicht heute ganz besonders gern. Mein Name ist Friedrich Christan Delius, und ich begrüße Sie im Namen der Akademie der Künste, speziell der Sektion Literatur, zu dieser Buchpremiere. Ich begrüße Thomas Lehr, Mitglied unserer Sektion, der heute Abend einige Einblicke in seinen Roman Schlafende Sonne geben wird. Ich begrüße die erfahrene Kritikerin Sigrid Löffler, die im Gespräch mit dem Autor herausfinden wird, wie wir uns diesem Feuerball, diesem vielfältigen, überreichen Roman am besten nähern könnten. Ich begrüße die Mitarbeiter des Carl Hanser Verlags und danke im Namen der Akademie für die gute Zusammenarbeit.
Sie merken, meine Damen und Herren, dass ich die Formalia schnell hinter mich bringen will. Das ist richtig. Denn mit einer Begrüßung ist es heute nicht getan. An diesem 31. August 2017 muss es nämlich eine Gratulation sein, eigentlich wäre ein Feuerwerk von Glückwünschen über dem Pariser Platz fällig. Zuerst eine Gratulation an den Autor, der nach sieben Jahren wieder einen Roman in die Welt schickt, an dem niemand vorbeigehen kann, der nur einen Funken Literaturliebe und Literaturverstand hat. Zum Zweiten eine Gratulation an Frau Löffler, dass sie als eine der allerersten das Privileg der ersten Deutungshoheit über dieses außerordentliche Werk hat. Drittens eine Gratulation an den Carl Hanser Verlag für den Mut zu diesem Autor, der die Regeln des Marktes eher sehr zögerlich bedient. Vor allem aber möchte ich Sie, das Publikum, beglückwünschen, dass Sie heute Abend hier sind. Sie hatten gedacht, zu einer schlichten Buchpremiere zu kommen, aber was Ihnen nun geboten wird, ist ein literarisches Ereignis. Und Sie werden sagen können, Sie sind dabeigewesen.
Ein Tag im Jahr 2011, eine Sonne, eine Ausstellung – das ist schon der Rahmen für ein Kaleidoskop, wie es die deutsche Literatur noch nicht gesehen hat. Jedenfalls dieser erste von drei Teilen, der Vormittag, auf der letzten Seite ist es gerade halb elf. Als Vergleich ist mir nur Uwe Johnson mit seinen „Jahrestagen“ eingefallen, der auf dem Hintergrund eines vieldimensionalen Geschichtspanoramas die Leben einer Handvoll Figuren ausbreitet. Die Fähigkeit, hundert Jahren deutscher Geschichte literarisch aufs Eleganteste Form zu geben, verbindet beide Autoren. Auch die Präzisionsbesessenheit, die jedes historische Detail, jede Art Empfinden, jeden komplexen Gedankengang, jedes Handlungsfädchen in sprachlicher Frische und wunderbarer Schwebe leuchten lässt.
Thomas Lehr schreibt trotzdem völlig anders als Uwe Johnson, er kann auch den Vergleich mit Thomas Pynchon und Claude Simon aushalten, und das ziemlich auf Augenhöhe. Bei ihm sitzt der Erzähler nicht auf einem Feldherrnhügel. Alles, auch die historischen Dinge, werden mindestens von zwei Seiten betrachtet, wiederholt, ergänzt, vorangetrieben. Der Autor hat dafür, seine Motti verraten es, das Bild der Spirale zu bieten, ein spiralenförmiges, sich ausbreitendes, verstehendes, kreisendes Erzählen. Man könnte auch auf den Vergleich mit Rubiks Zauberwürfel kommen, jedes Kapitel erlaubt eine neue Drehung und verändert das Gesamtbild, bis am Ende alles trefflich zusammenpasst. Also nichts für Ungeduldige!
Ich möchte Frau Löffler nicht vorgreifen, aber ein Kompliment ist noch fällig. Als schreibender Kollege will und darf ich meinen höchsten Respekt nicht verschweigen, wir sind hier schließlich in einer Akademie – und dort hat man voneinander zu lernen. Ich bitte jetzt die Damen und Herren unserer Zunft, die Schriftsteller, einmal wegzuhören, und auch ich muss weghören, um nicht neidisch zu werden, wenn ich sage:
Es gibt nichts, was Thomas Lehr nicht kann. Ich habe diese 638 Seiten ruhig und gebannt von der Kunstfertigkeit der Prosa gelesen, und man kann hier nur ruhig zum Lesegenuss kommen, und behaupte: da ist keine Figur, unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft, Beruf usw., da ist kein Gegenstand und kein Gefühl, keine Aktion, keine Stille, keine Reflexion, die Lehr nicht beschreibend ergründend auszuleuchten und darzustellen wüsste, und das weitgehend aus der Perspektive einer Frau. So klischeefrei wie er hat wohl noch niemand das deutsche Hin-und-Her-Vereinigen vor und nach 1989 anvisiert. Ob er die schicke Kunstszene schildert, im Dresden der 80er Jahre, in der Auguststraße der 90er oder 2004 in Florenz, ob er die Berliner oder die israelische Mauer in den Blick nimmt, ob er die Sonnenphysik oder die Philosophie der Einfühlung erklärt, die Schusslisten des österreichischen Thronfolgers, Fitnesstudios, Disco-Hämmern oder das Warten an Gepäckbändern, die jüdische Philosophin, die als Nonne Edith Stein bekannt wird, die Fehler von Bergsteigern, das Würstchen, das Kaiser Wilhelm wird, die Arschbacken der Quadriga-Pferde hier neben uns, den Geruch von Funktionärswangen, Göttinger Seminarluft, das Krepieren im Schützengraben oder die Techniken der Malerei beschreibt, alles ist von durchdachter, liebevoller Präzision. Sogar wenn er, oft und gern, über die Liebe und – auch dies Wort muss in den heiligen Hallen der Akademie einmal fallen – über Schamlippen schreibt. Für alles findet er den leichten, passenden Ton, scharfe Bilder und leisen, untergründigen Humor. Seine Protagonistin, die Malerin und Installationskünstlerin Milena Sonntag, nimmt sich vor, „das deutsche Eisen zu biegen“, und das gelingt allein dank Lehrs unerschöpflicher, intelligenter Sprachkunst, seiner Reflexionshöhe und Beschreibungstiefe.
Bevor diese Begrüßung nun zu einer Laudatio ausartet, gebe ich endlich das Wort an Sigrid Löffler und Thomas Lehr. Ihnen, meine Damen und Herren, kann ich nur raten, sich den Roman signieren zu lassen, mit dem Datum von heute, diesem historischen Uraufführungs-Augusttag 2017.
Friedrich Christian Delius