24.5.2016, 18 Uhr
"Place de la République": Vortrag von Cécile Wajsbrot anlässlich der Mitgliederversammlung der Akademie der Künste
Die französische Romanautorin, Übersetzerin und Essayistin Cécile Wajsbrot war zu Gast auf der Frühjahrs-Mitgliederversammlung 2016 der Akademie der Künste Ende April in Berlin. Auf Einladung von Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel hat sie einen bisher unveröffentlichten Text zu Paris und Frankreich nach den Attentaten vorgetragen.
"Place de la République"
Aus allen Straßen kamen sie zusammen, ein riesiger Fluss, der sich aus immer mehr Zuströmen speiste. An den Rändern der Place de la République, in den benachbarten Straßen war die Menge so dicht gedrängt, dass man nicht mehr vorwärts kam. Die Zahlen am Abend bestätigten es: Millionen Demonstranten in ganz Frankreich und davon allein zwei Millionen in Paris. Eine einzigartige Mobilisierung, das idyllische Bild eines Lands, das sich zum Gedenken versammelt, gegen den Terrorismus vereint hat – gegen die Anschläge, die sich in den vergangenen Tagen ereignet hatten.
Zum Gedenken? In regelmäßigen Abständen erklang die Marseillaise mit ihren kriegerischen Worten, gab es Beifallbekundungen – für was, gegen wen? Vereint? Einige Leute schwenkten Fahnen – nicht immer dieselben. Und auf den meisten der hoch gehaltenen Schilder stand jener seltsam narzisstische Spruch: »Je suis Charlie« – »Ich bin Charlie« – ein Spruch, der vergaß, dass es zwischen dem 7. Januar bei Charlie Hebdo und dem 11. der Demonstration einen 9. Januar gegeben hatte, den Anschlag auf den Supermarkt Hypercacher, dessen weniger berühmte Opfer nicht weniger tot waren, und jene Polizistin, die am 8. Januar getötet worden war. Die Leute blieben außerdem unter sich, die Grüppchen sprachen nur wenig miteinander. Dem Slogan entsprechend, der das Ich in den Vordergrund schob, demonstrierte jeder für sich – quasi zur Beruhigung – und nicht etwa für eine gemeinsame Sache.
Aber in der langen französischen Tradition jener Alchemie, die es versteht, Niederlagen in Siege zu verwandeln und die Nationalgeschichte zu verherrlichen, erfand François Hollande den Geist des 11. Januar, den er mehrfach beschwor, einen Geist der Gemeinschaft und der nationalen Einheit, der außerhalb seiner Reden jedoch nicht existierte.
An einem anderen Sonntag desselben Jahres, diesmal im November, ist der vom Regen glänzende Platz völlig leer. Bis auf ein paar Leute, reglose Gestalten neben dem Denkmal, das die Marianne darstellt – eine fünfzehn Meter hohe breite Säule aus weißem Stein, die der Bronzestatue als Sockel dient, eine mit den Allegorien der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit verzierte Säule. Lauter Dinge, die lange Zeit fast unsichtbar waren, versunken in den Fluten des Verkehrs, und erst seit kurzem wieder dem Blick zugänglich sind, seitdem der Platz im Sommer 2013 für Fußgänger umgebaut wurde. Ein paar reglose, schweigende, gedenkende Gestalten. Dahinter ein schwarzes Spruchband, auf dem in weißen Buchstaben die Devise der Stadt Paris steht, Fluctuat nec mergitur, in den wogenden Wellen geht sie doch nicht unter. Es ist der 15. November. Der 13. November hat sich ereignet. 130 Tote, 351 Verletzte, ein Konzert im Bataclan, in dem 1.500 Besucher als Geisel genommen wurden, Café-Terrassen in 10. und 11. Arrondissement, auf die mit Maschinengewehren gefeuert wurde, das Stade de France in Saint-Denis, Zielscheibe eines gescheiterten Anschlags. Am Samstag, den 14., waren die Straßen von Paris leergefegt. Leer von Spaziergängern, Touristen, Bewohnern, und die Straßen, Alleen, Boulevards leer von Autos. Die Stadt schweigt still, die Stadt ist versehrt, das Schweigen breitet sich an diesem Samstagnachmittag bis in die belebtesten Viertel aus, die Kaufhäuser sind geschlossen, am Abend sind auch alle Cafés, Restaurants geschlossen, am Abend gibt es weder Filme, noch Theaterstücke, noch Konzerte – nur die Leere, das Schweigen, in Paris, Stadt der Massen, Stadt des Lärms.
Ich erinnere mich an ein Kolloquium in 2007, wir waren etwa dreißig Schriftsteller, die sich im LCB zusammengefunden hatten, um über die Mauer zu sprechen, über ihre Bedeutung, und auch über ihren Fall. Und nachdem ich deutsche, polnische, estnische, schwedische, serbische, ungarische und weitere Schriftsteller gehört hatte, konnte ich nur sagen, ich habe den Eindruck, aus einem Land ohne Geschichte zu stammen, einem Land, in dem die Geschichte zum Stillstand gekommen ist, das von den großen Weltereignissen gemieden oder umschifft wird. Natürlich lag der Grund dafür nicht in der Geschichte, sondern in dem Land selbst, in seiner Betrachtungsweise der Dinge.
Diese so oft gehörten Wörter, die verknüpft waren mit mehr oder weniger entfernten Orten mit fremdartigem Klang – Anschlag, Explosion, Terrorismus, Geiselnahme – standen auf einmal für vertraute Namen, für Orte, die wir visualisieren konnten, an denen wir uns schon einmal befunden, an die wir persönliche Erinnerungen hatten, an Treffen, an Konzerte, Erinnerungen eines verschonten Lebens. Verschont, weil nach der Schockwelle, nach dem Januaranschlag das Leben wieder seinen Lauf nahm, und man vergaß oder besser gesagt – denn vor dem Sitz von Charlie Hebdo, in der Sackgasse, in der weitergeschossen worden war, vor dem Supermarkt Hypercacher waren Blumen und Briefe niedergelegt worden aber, wie soll man sagen, es waren spezifische Orte getroffen worden, besondere Kategorien angegriffen worden – besser gesagt, man hatte Gründe gefunden. Die Journalisten hatten den Islam attackiert, die Kunden des Supermarkts waren aus jüdischer Stammung, also dem allgemeinen Denken zufolge mitverantwortlich für die Politik Israels, das alles war nicht normal, aber es ließ sich damit ein wenig erklären. Entgegen dem, was man aufgrund der beeindruckenden Zahl an Demonstranten auf der Place de la République und anderswo vermuten konnte, war das Herz der Nation nicht getroffen. Im November änderte sich das. Café-Terrassen, ein Konzertsaal, jeder hätte sich dort befinden können. Und auch wenn es sich in Paris ereignet hatte, waren doch viele Menschen aus dem Rest des Landes angereist, um dem Konzert beizuwohnen oder das Wochenende in Paris zu verbringen, ganz Frankreich war also getroffen. Diese Wahrnehmung der Dinge war umso verblüffender, als aus der Galerie der Porträts, die die Tageszeitungen Le Monde und Libération den Toten der Terrassen und des Bataclan täglich widmeten, hervorging, dass die Opfer – welch seelenloses Wort – allesamt einer recht homogenen Altersgruppe und Schicht entstammten, 25 bis 40 Jahre alt, im Bereich PR, Musik oder Medien tätig. Aber Bataclan, Rue Bichat, La Belle Équipe, Le Carillon, Rue de la Fontaine-au-Roi, all diese Namen klangen sehr französisch, ebenso die Namen derer, die an dem Abend den Tod fanden, auch wenn es einige Ausnahmen gab, Menschen, die woandersher kamen. Letztlich dringt der Klang der Namen am unmittelbarsten ins Bewusstsein und erlaubt die Identifikation, während der von den Namen der Mörder im Januar und November Verwirrung stiftet und Ausgrenzungsmechanismen in Gang setzt.
Auf die Litanei dieser Namen folgten brutale Wörter, Krieg, Ausnahmezustand, Sicherheit. Bald patrouillierten Polizisten und Soldaten in den Straßen von Paris, das Gewehr in der Hand. Der zunächst für zwölf Tage verhängte Ausnahmezustand wurde um drei Monate verlängert, dann um weitere drei – im Moment bis Ende Mai. Im Namen der Verantwortung – dieser kampflose Krieg - im Namen der Gefahr – als könnte die Gefahr eines Tages gebannt sein. Und den Vorschlag, die Verfassung zu ändern, um die Modalitäten des Ausnahmezustands festzuschreiben, die Aberkennung der Staatsbürgerschaft für Doppelstaatler, die sich terroristischer Akte schuldig gemacht haben. Die Palette an öffentlichen Reaktionen, mit der die seit Jahrzehnten andauernde Abkapselung des Landes nachträglich gerechtfertigt wurde, setzte lediglich auf der Sicherheitsebene an ... Ja, der einzige Reflex war der Wunsch nach absoluter Sicherheit, ein aussichtsloses Unterfangen, denn absolute Sicherheit gibt es nicht, das einzige Ziel, die einzige Obsession bestand darin, den Front National mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen, um im Mai 2017 die Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Die Frage hingegen, warum es Franzosen gibt, – zwar mit Migrationshintergrund, wie man so schön sagt, aber doch Franzosen – die glauben, im Dschihad den Sinn ihres Leben zu finden, diese Frage wird in den offiziellen Reden nie angeschnitten.
Die Geschichte hat zugeschlagen, die Gegenwart ist in Erscheinung getreten – ein seit langem auf den Kissen des vergangenen Ruhms schlummerndes Land, ein nach dem Krieg auf den verlogenen Grundfesten von Sieg und Résistance wieder aufgebautes Land, ein Land, das sich auf ein allzu schmeichlerisches Bild seiner selbst stützt – Menschenrechte, Großmacht und weitere Lobhymnen dieser Art – das Asterix-Dorf, das den widrigen Winden der Geschichte standhält, dieses Land wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts brutal aus seinem Dornröschenschlaf gerissen und durchlebt einen Albtraum. Die Kluft zwischen Wunschbild und Wirklichkeit ist unerträglich. Weswegen das Land sich einigelt. Wir verteidigen uns, weil wir in unseren Grundwerten erschüttert wurden – so der offizielle Diskurs. Die Einbahnstraße aller Maßnahmen. Ob wir diese Werte, die in den Reden hochgehalten werden, auch tatsächlich leben, steht auf einem anderen Blatt. Aufnahmeland? Dreißigtausend theoretisch aufgenommene Migranten in zwei Jahren, während Deutschland in einem Jahr über eine Million aufnimmt. Tatsächlich sind bis zum 8. März dieses Jahres nur 287 Migranten ins Land gekommen. Frankreich durchlebt eine Zeit schwerer Turbulenzen. Im Jahr 2015, das mit einer Anschlagsserie begonnen und geendet hat, hat sich eine Rückkehr zur Wirklichkeit, eine Rückkehr zur Gegenwart vollzogen. Ein Abgrund hat sich aufgetan. Der von Frankreich so gefürchtete Verlust der nationalen Einheit – die konstitutiv ist für ein Land, dessen Identität auf der Zentralisierung und der Macht des Staates beruht – droht, sich tatsächlich zu vollziehen, nicht etwa weil das Staatsgebiet auseinanderbräche, sondern vielmehr wegen der tiefen Verwerfungen in der Gesellschaft. Wie eine geballte Faust, die die Mikadostäbchen zusammenhält. Lässt die Umklammerung nach, fällt alles auseinander. Das ist die Sorge, die am französischen Unbewusstsein nagt. Auf keinen Fall darf man die Diversität, die Unterschiede anerkennen. Die Republik ist einig und unteilbar, so steht es in der Verfassung.
2015. Der Spiegel ist zersprungen. Das Spiegelbild bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Es ist die Geschichte vom Porträt des Dorian Gray. Plötzlich ist die künstliche ewige Jugend gealtert, die Falten werden sichtbar, die Erschlaffung tritt zutage. Die Angst beherrscht alles. Wo waren doch gleich diese zerstörten Zeltlager, wo waren diese ärmlichen Notunterkünfte, die evakuiert wurden – was für ein schamhaftes Wort – diese bewohnten Orte, die übereilt verlassen wurden, als wäre eine Armee gekommen, die alles niedergewalzt hätte, was sich ihr in den Weg gestellt? In welchem Land? In Frankreich. Im Frankreich des 21. Jahrhunderts – wird es weiterhin wagen, sich das Land der Menschenrechte zu erklären? Der Lauf der Geschichte, der Kampf, die Konfrontation setzten sich fort. Man kann nicht mehr sagen, dass die Zeit zum Stillstand gekommen wäre. An den Ufern des unüberwindbaren Flusses stehen auf der einen Seite jene, die ihren Platz nicht gefunden haben und sich mit dem dschihadistischen Kampf identifizieren, weil man sich schließlich mit irgendetwas identifizieren muss, weil man Bezugspunkte braucht. Und Hass und Gewalt sind die sichtbarste, die einfachste Antwort auf das Gefühl der Nichtzugehörigkeit. Und jene anderen, die ebenfalls ihren Platz nicht mehr finden in einem Land, das sich verändert hat, das vielfältiger geworden ist seit der Ankunft der Menschen aus den ehemaligen Kolonien mit ihrem zahlreichen Nachwuchs, der ersten, der zweiten Generation, jene anderen klammern sich verzweifelt an das zeitlich und räumlich klar umgrenzte Gebiet ihrer Kindheit und erkennen kein anderes Leben an als das einstige, flüchten sich in eine Art intellektuell angehauchte Welt der Amélie Poulain. Zwischen beiden Ufern – eine ganze Bevölkerung, die verunsichert, erschöpft ist, und darunter bestenfalls jene, die noch auf der Suche sind und Fragen stellen.
Als Antwort auf dieses Abdriften entstehen Bürgerinitiativen, Hilfsangebote für Migranten, Widerstandsbewegungen gegen den Ausnahmezustand und neulich die „Nuit Debout“- Protestbewegungen an der Place de la République, bei denen alles Mögliche diskutiert wird. Nach einer Phase der Wirrnis erhebt sich eine Welle, die Rettung bringen oder zum Verhängnis werden kann. Die Verlockungen einer autoritären Regierung oder ein Prozess der Bewusstwerdung. Frankreich hat immer am Zusammenfluss zweier Strömungen gelebt, Versailles, die Höflichkeit, die Kunst der Konversation, gewiss; aber auch der Hof und seine Intrigen, Repression, Inbesitznahme durch die Reaktion – und Paris, die Aufstände gegen den Autoritarismus, die Kommune, die Lumières. Seit dem 19. Jahrhundert hat fast immer Versailles gewonnen. Besteht Hoffnung, dass im 21. Jahrhundert endlich einmal Paris gewinnt?
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer