19.8.2019, 12 Uhr
Shakespeare im Florens Christian Rang Archiv
Walter Benjamins Freund Florens Christian Rang (1864–1924) hat sich über Jahre mit dem Werk von William Shakespeare befasst. Vor allem den Sonetten galt sein Interesse. Rangs vollständige Neuübersetzung dieser Gedichte ist bis heute unveröffentlicht geblieben. Im Florens Christian Rang Archiv sind die Übertragungen zu studieren.
Namentlich durch seine Freundschaft mit Benjamin ist Rang einem akademischen Publikum bekannt. Und er ist es heute auch durch das Buch Ahnen (2015), in dem Anne Weber auf den Spuren ihres Urgroßvaters Rang sich auf Zeitreise begab. Er war Jurist, evangelischer Pfarrer, Schriftsteller und Philosoph. Es gab viele Kehrtwendungen in diesem Leben, das beruflich zunächst in gesicherten Bahnen einer Beamtenkarriere verlief.
Rangs Befassung mit William Shakespeare reicht in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg zurück. Es lagen schon damals etliche deutsche Übertragungen der ebenso schönen wie schwierigen 154 Sonette Shakespeares vor. Rang hat eine vollständige Neuübersetzung gemacht: wortgetreu, aber – auch darum – nicht leicht verständlich. Überliefert ist auch viel Material zur Kommentierung der Sonette: Ausgewählte Gedichte wurden von Rang eingehend interpretiert, in der Absicht, damit den gesamten Zyklus zu erhellen. Übersetzung und ausdeutender Kommentar stehen in enger Nachbarschaft – ein Gedanke, den wir auch bei Benjamin finden.
Shakespeares Sonette gehören zu den rätselhaftesten Werken im Kanon der Weltliteratur. Bis heute ziehen sie Leser, Übersetzer und Interpreten in ihren Bann. Viel wurde investiert, um das Geheimnis der Gedichte zu ergründen. Dabei war das Interesse vor allem auf die Biografie des elisabethanischen Autors gerichtet, von dessen Leben wir ja recht wenig Verlässliches wissen. Wer ist der schöne junge Mann, den die ersten 126 Gedichte adressieren? Wer die „dark lady“, an die die Sonette 127–152 gerichtet sind? War Shakespeare bisexuell?
Rangs Shakespeare-Deutung dagegen ist nicht biografisch orientiert. Sie steht eng im Zusammenhang seines leidenschaftlichen Nachdenkens über Dichtung und Religion, Jugend und Alter, Freundschaft und Liebe, Ehe und Treue, über das Geheimnis der Schönheit – und am Rande auch über die bei Shakespeare ja so einschlägige Genderthematik. (Freilich kommt das Wort „gender“ bei Rang nicht vor; er spricht etwa von „Geschlecht- und Hermaphroditen-Sonetten“.) Rangs Studien zu den Sonetten sind auch eine Anverwandlung, sie gehen übers Philologische weit hinaus. Er war von ihrer Aktualität fest überzeugt.
Das hier reproduzierte Manuskript gehört zu den Vorarbeiten. Es ist 20 cm breit und erstaunliche 191 cm lang und besteht aus zusammengeklebten Einzelblättern. Dieser Streifen ist als ein Findmittel für die Gedichte zu sehen. Rang hat sie sich damit erschlossen. Er hat gearbeitet wie ein Archivar: hat laufende Nummern aufgeführt („Lfde N“ steht links oben), Gruppierungen im Bestand der Sonette vorgenommen und Kurztitel verliehen. Der systematisch verzeichnende Zugriff mag mit Rangs Vergangenheit als Verwaltungsbeamter zusammenhängen. Wie man an der Fülle der bunten Linien und Klammern – runde, eckige, geschweifte – sieht, war es ihm wichtig, innere Relationen der Sonette zu registrieren. Er verstand sie nicht als Einzelgedichte, sondern aus der Gesamtkonstruktion des Zyklus heraus. Als Kette greifen die Sonette ineinander, und die Linien (in der sechsten Spalte) heben verborgene Wortbezüge hervor. Auch für die Kennerin, den Kenner dieser Lyrik ist das oft überraschend.
Ein Grundthema – vielleicht das Grundthema – der Sonette ist der Kampf mit der Zeit. Ihr wollen sie etwas entgegensetzen, das bleibt. Shakespeare beklagt im 19. Sonett die „devouring time“. Rang übersetzt das mit „schlingschlündige Zeit“. In einem seiner letzten Lebensjahre hat er den Wunsch geäußert, sein schriftstellerischer Nachlass möge Walter Benjamin vorgelegt werden zur Prüfung, was davon zu veröffentlichen sei. Und dass dieser Bestand bleibenden Platz im Benjamin Archiv gefunden hat, hätte Rang gewiss gefreut. Im Lesesaal in der Luisenstraße ist die Möglichkeit gegeben, sein geistiges Vermächtnis, das Shakespeare-Werk, die bisher nur teilweise publizierten Übertragungen und Interpretationen der Sonette zu studieren und auf ihre Gegenwärtigkeit zu befragen. So kann das Archiv ein Ort für das Fortleben dieses Werkes sein – ein Arsenal im Kampf mit der Zeit.
Ansprechpartner: Michael Schwarz