Die Nachlassbibliothek von Leo Löwenthal

Mit ihrer Aufstellung im Walter Benjamin Archiv hat die Bibliothek des Literatursoziologen und Mitbegründers der Kritischen Theorie Leo Löwenthal (1900-1993) einen neuen dauerhaften Standort gefunden. Es war Löwenthals Wunsch, seine Bibliothek als Ganzes für die Forschung zu erhalten. Ermöglicht wurde dies durch eine Übereinkunft zwischen ihm und Jan Philipp Reemtsma, der die Übernahme der Bibliothek durch die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur angeboten hatte.

Im Rahmen der Kooperationsvereinbarung zwischen der Hamburger Stiftung und der Akademie der Künste wurde die Bibliothek in den Online-Bibliothekskatalog der Akademie aufgenommen. Die Recherche über den Katalog bildet einerseits den Gesamtbestand ab, andererseits bietet sie Hinweise auf Widmungen, Namenszüge, Bearbeitungsspuren und Beilagen.

Für eine nähere Betrachtung der Bibliothek stehen nicht nur die Rechercheergebnisse aus dem Bibliothekskatalog zur Verfügung, sondern auch Fotos und Zeugnisse u. a. von Löwenthal selbst. So liegt dem Walter Benjamin Archiv eine nicht redigierte, knapp zwölf Seiten umfassende Bibliotheksbeschreibung von Leo Löwenthal vor. Sie ist Teil eines Gesprächs, das er 1991 mit Jan Philipp Reemtsma zur Bibliotheksübernahme in seiner Bibliothek in Berkeley geführt hatte.

Im Gespräch skizzierte Leo Löwenthal die Aufstellung seiner Bücher und hob einige Exemplare und Ausgaben besonders hervor. Zu zwei Widmungen von Max Horkheimer berichtete er: „In der Sammlung von Horkheimer, von dem sehr wenig veröffentlicht wurde in der Zeit, in der er in Amerika gelebt hat, befindet sich in ‚Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie’ eine Inschrift von Max Horkheimer an mich ‚Für L. L. Vivant sequentes! Ihr M. H.’ Das bezieht sich darauf , daß Horkheimer und ich ein oder zwei Nächte, 24 Stunden ununterbrochen, an der endgültigen Fassung dieses Buches gearbeitet haben, das aus Vorlesungen hervorgegangen ist und das rasch produziert werden mußte, weil zur Ernennung Horkheimers als Philosophieprofessor eine Veröffentlichung fehlte und die wurde also damit hergestellt. In diesem Zusammenhang möchte ich auch die ‚Eclipse of reason’ erwähnen, an der ich sehr viel editorisch mitgearbeitet habe, die übrigens auch aus Vorlesungen hervorgegangen ist und in der ein langes, handgeschriebenes Gedicht von Lombroso steht. Hier schreibt Horkheimer, was auch wieder sehr bezeichnend für die Beziehung ist, die ich in den wichtigen Jahren unserer Zusammenarbeit zu ihm hatte, ‚Ich glaube, daß wir bis zu dieser Stunde noch nicht im Kreise getrottet sind, wir wollen alles versuchen, um uns auch in der Zukunft nicht fesseln zu lassen, Ihr Max.’ Ich kann das nur mit Rührung jetzt nachträglich betrachten."

Insgesamt befinden sich mehr als 500 Widmungsexemplare im Bestand. So gibt es neben weiteren Widmungen von Max Horkheimer, Widmungen von Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock, Jürgen Habermas, Paul Tillich und von Kollegen und Schülern aus Löwenthals Zeit in den USA. Von Adornos Widmungen griff er im Gespräch folgende heraus: „In ‚Minima Moralia’ die Worte: ‚Meinem lieben Leo in treuer Freundschaft von seinem alten Teddy’ - wir sind ja sehr alte Freude gewesen, das geht bis auf die frühen 20er Jahre zurück, als Kracauer uns zusammenbrachte.“ Nachdem sich Mitte der fünfziger Jahre Löwenthals Beziehungen zu Adorno und Horkheimer auseinander entwickelten, gab es keine weiteren Widmungen mehr. Im Unterschied dazu erhielt er von Marcuse und Kracauer auch in späteren Jahren Widmungsexemplare. So schrieb Kracauer in einer neuen Ausgabe von ‚Ginster’ von 1963 „Für Leo dieses alte (gekürzte) Buch mit den alten ungekürzten Gefühlen, Friedel Feb., 1964.“ Der im Vergleich zu Löwenthal nur zwei Jahre ältere Herbert Marcuse bedachte ihn 1971 mit folgender Widmung: „Für Leo den Weisen von Herbert dem Greisen, 3. Februar 1971.“

Besonderes Augenmerk legte Löwenthal im Gespräch auf die zahlreichen Erstausgaben im Bestand. Viele der Erstausgaben hatte Löwenthal während seiner Studienzeit erworben, so zum Beispiel Helvetius’ ‚Oeuvres complèttes’ von 1777, Mirabauds ‚Systême de la nature’ von 1781, Lamettries ‚Oeuvres philosophiques’ von 1775, Freuds ‚Gesammelte Schriften’ von 1925, Baaders ‚Sämmtliche Werke’ von 1850, Spencers ‚The principles of psychology’ von 1876, desweiteren Erstausgaben von Husserl, Lucács und Weber und noch viele andere mehr. Zu Lamprechts Ausgabe ‚Deutsche Geschichte’ sagte Löwenthal im Gespräch: „Lamprecht war damals für mich eine wichtige Figur. Ich glaube, daß Lamprecht der einzige war, der vor mir entdeckte, daß Literatur auch ein Gebiet ist, das soziologische Bedeutung hat.“ Löwenthal hat bis in die dreissiger Jahre hinein viele Ausgaben mit Namenzügen oftmals in Verbindung mit der Jahreszahl des Erwerbs versehen. Einer der ältesten Namenzüge stammt aus dem Jahr 1915, als Löwenthal noch Schüler war. Er befindet sich auf der Titelseite des Bandes ‚Der moderne Mensch’ von Bartholomäus Carneri. Dieser Band ist zugleich ein Beleg für die im Bestand befindlichen Werke mit Bearbeitungsspuren. So kennzeichnete Löwenthal den Buchtitel mit einem Strich und einem Fragezeichen und hielt ebenfalls auf der Titelseite folgendes Fazit zum Buch fest: „Das ganze Buch zeugt von einer durchaus narzisstischen Lebensanschauung des Verfassers B. Carneri“. Das Buch von Carneri ist auch ein Beispiel für die Literatur, die Löwenthal in seinen jungen Jahren gelesen hat. Hierzu zählen außerdem Werke von Goethe, Schopenhauer, Darwin, Haeckel, Dostojewski und viele andere mehr.

Auf eine besondere Rarität machte Löwenthal beim weiteren Gang durch die Bibliothek aufmerksam: „Außerdem befindet sich hier an der Ost-Süd-Seite eine französische, komplette Ausgabe von Balzac, die ein gewisses Kuriosum darstellt. Ich habe sie billig in New York erworben und dann von einem Buchhändler, der für das Institut oft arbeitete, für einen ganzen Dollar pro Band binden lassen, dann ging aber das Geld für das Etikett am Buch aus und dann haben wir grüne Labels draufgeklebt und Herbert Marcuse, der eine sehr schöne Handschrift hat, hat die Bände beschriftet. Also die handschriftlichen Labels auf dem Balzac sind Herbert Marcuses Werk.“

Geht man zurück zur Aufstellung des Bestandes, so kann man große Übereinstimmungen bei der Aufstellung der Bibliothek in Berkeley und der jetzigen feststellen. Bei der Bearbeitung der Bibliothek wurden zur Signaturvergabe die Regeln der Regensburger Verbundklassifikation (RVK) herangezogen. So besteht die Möglichkeit, den Gesamtbestand der Nachlassbibliothek systematisch nach Fachgebieten abzubilden. Es handelt sich um vorwiegend geisteswissenschaftliche Fachliteratur aus den Gebieten der Philosophie, Psychologie, Religionswissenschaft, der Allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie. Hier gibt es Schwerpunkte in den Bereichen der Literaturkritik, Ästhetik, Massenkultur und Medienforschung. Darüber hinaus gibt es zahlreiche originalsprachige und übersetzte literarische Werke. Auch Leo Löwenthal hatte seine Bücher vorwiegend nach Fachgebieten aufgestellt. Eine Ausnahme bildeten die Schriften von und zur Frankfurter Schule, die an der Südwand hinter seinem Schreibtisch aufgestellt waren. Dort befanden sich auch seine eigenen Schriften. Im Gespräch sagte er dazu: „Von meinen eigenen Veröffentlichungen will ich nicht reden, da ist nur ein Kuriosum, die Übersetzung von der Rede, die ich 1983 in der Berliner Akademie der Künste zur sogenannten 50-jährigen Feier der Bücherverbrennung unter dem Titel "Calibans Erbe" gehalten habe, ist jetzt in einem kleinen italienischen Verlag, sehr hübsch, ohne daß ich davon wußte, erschienen, sehr schöne Bilderchen drin und eine Einladung von jemandem, der zufällig Löwenthal heißt, die Einladung ist aber ziemlich blöd.“

Die Nachlassbibliothek von Leo Löwenthal hat rund 7.000 Bände. Sie bildet den Stand aus der Zeit Mitte der neunziger Jahre ab. Nach Löwenthals Schätzung hatte die Bibliothek ehemals einen Umfang von 10.000 Bänden. Einiges ging bei Umzügen verloren, den Großteil der Zeitschriften und einige der Serienwerke verschenkte Löwenthal an die Universität in Berkeley. Bei seiner Emigration konnte Löwenthal seine Bibliothek annähernd vollständig in die USA überführen. Im Gespräch berichtete er: „Bei der Immigration gab es nur folgende Geschichte, daß der liebe Max Horkheimer angeordnet hat, daß ich keine radikale Literatur aus der Zeit der deutschen sogenannten Revolution von 1918 einschließlich Flugblätter mitnehmen durfte. Das mußte verschwinden, das wurde z. T. verbrannt in Genf aus lauter Angst und später hat mir der Direktor vom Huber-Institut gesagt, na Sie haben da ein paar tausend Dollar "vernichtet", es hat sich natürlich kein Mensch eine der Kisten angesehen.“

Nach vielen Umzügen fand die Bibliothek 1978 ihren Platz im Anbau zu Löwenthals Haus. Sie umrahmte fortan das privat organisierte „Löwenthal-Seminar“, das bereits zehn Jahre zuvor gegründet wurde. Es entstand als eine Gegenveranstaltung zu den universitären Seminaren, die von der Studentenbewegung als Protest gegen die Universitätspolitik und die amerikanische Vietnampolitik boykotiert wurden. Das Seminar überdauerte die Studentenbewegung und fand bis Ende 1992 statt. Dem Walter Benjamin Archiv liegt eine Liste mit Schriften vor, die im Seminar behandelt wurden. Viele dieser Schriften befinden sich im Bestand der Bibliothek.

Die Nachweise zur Bibliothek finden sich im Online-Katalog der Akademie der Künste. Über die Recherche mit NB Löwenthal im Suchfeld ‚Signatur’ in der erweiterten Suche erhält man alle Katalogeintragungen zur Bibliothek von Leo Löwenthal. Die Bibliothek selbst kann nach vorheriger Anmeldung im Walter Benjamin Archiv besucht werden.

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(Stand 23.03.2011)


Leo Löwenthals Bibliothek in Berkley Kalifornien, Fotograf unbekannt, Foto: Walter Benjamin Archiv
Leo Löwenthals Bibliothek in Berkeley, Kalifornien
Fotograf unbekannt
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Leo Löwenthal
Fotograf: Martin Lüdke
© Martin Lüdke


Widmung von Max Horkheimer in:
Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie/ Max Horkheimer. – Stuttgart: Kohlhammer, 1930
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Widmung von Theodor W. Adorno in:
Philosophie der neuen Musik / Theodor W. Adorno. – Tübingen: Mohr, 1949
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Widmung von Herbert Marcuse in: Five lectures. Psychoanalysis, politics and utopia / Herbert Marcuse. - Boston, Mass. : Beacon Press, 1970
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Namenszug und Marginalien auf der Titelseite von:
Der moderne Mensch. Versuche über Lebensführung / Bartholomäus Carneri. – Volksausg., 13. – 20. Tsd. – Stuttgart : Strauß, [1901]
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