Walter Benjamin à Paris – eine Ausstellung im Jüdischen Museum

Überall im Marais, dem jüdischen Viertel von Paris, ist die Benjamin-Ausstellung plakatiert: auf einem Transparent in der rue du Temple, an den Eingangstüren der Bijou-Läden, in kleinen Restaurants, Buchläden und am Eingang eines Optikers. Ein ganz Eifriger hat sogar einen Bauwagen mit Plakaten vollgepflastert. Vom Herbst bis fast in den Vorfrühling zeigt das Musée d’art et d’histoire du Judaïsme „Walter Benjamin. Archives", eine erweiterte Fassung der Ausstellung, die 2006 am Pariser Platz zu sehen war. „W. B." liest man auf der Glastür zum Hof des Hôtel de Saint-Aignan, in dem seit 1998 das Jüdische Museum untergebracht ist. Walter Benjamin, der Paris zum Fluchtpunkt seines Denkens erkor, ist – zumindest mit Manuskripten und Briefen – wieder in der Stadt, die seine Heimat wurde, als er aus der Heimat vertrieben worden war. Und Paris will es ihm leicht machen: Zur Eröffnung kamen mehr als 800 Besucher, ein erlesenes Publikum, darunter viele, die mit dem Werk des Deutschen seit Jahrzehnten vertraut sind – ein überwältigender und ermutigender Erfolg.

Die Ausstellung, die erste umfangreiche Präsentation von Benjamin-Handschriften außerhalb Deutschlands, ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen dem Archiv der Akademie, dem Jüdischen Museum und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Joachim Kersten vom Vorstand der Hamburger Stiftung wollte Benjamin nach Paris bringen. Es war nicht schwer, Laurence Sigal, die Direktorin des Jüdischen Museums, und den Direktor des Archivs Wolfgang Trautwein zu gewinnen. Kuratiert wurde die Ausstellung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Benjamin Archivs: Ursula Marx, Gudrun Schwarz, Michael Schwarz und Erdmut Wizisla. Die Gestaltung der Neufassung übernahm Simone Schmaus, die auch die viel gerühmte Ausstellung vor fünf Jahren umgesetzt hatte. In dreizehn Kapiteln zeigt die Ausstellung Konstellationen des Denkens. Es sind Archive im Archiv: Sammlungen von Zetteln, Lesezeichen, Schemata und Zeichnungen, von Fotografien, Notizbüchern, Ansichtskarten aus der Toskana und von den Balearen, Aufnahmen von russischen Spielsachen, Listen mit Wörtern und Sätzen des Sohnes, eine Serie mit Bildern von Sibyllen, ein Bündel von Rätseln. Die Materialien veranschaulichen die Methode des Sammlers und Schriftstellers Benjamin, der sich im Detail auskannte und Bruchstücke deuten konnte.

Den Konstellationen des Denkens sind in der Erweiterung im Jüdischen Museum Konstellationen des Lebens gegenübergestellt. Diese Idee nimmt einen Gedanken aus der „Berliner Chronik" auf. Es war an einem Nachmittag im Café „Les Deux Magots", dass sich Benjamin „blitzartig, mit der Gewalt einer Erleuchtung" die biographischen Beziehungen zu Menschen, seine Freundschaften, Kameradschaften und seine Liebschaften „in ihren lebendigsten, verborgensten Verflechtungen" offenbarten. Benjamin wollte die Beziehungen in einem graphischen Schema festhalten. Anhand von neun Personen aus dem unmittelbaren Umfeld werden in der Ausstellung die prekären Lebensbedingungen in den späten dreißiger Jahren vor Augen geführt. Ausgewählt wurden die Schwester Dora Benjamin, Gretel Adorno, Hannah Arendt, Gisèle Freund, Adrienne Monnier, Gershom Scholem, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Bertolt Brecht. Briefe, Fotos und Zeugnisse, von denen einige zuvor nie gezeigt worden sind, heben exemplarisch Momente der Beziehungen hervor. Sie dokumentieren Benjamins Internierung, Freilassung, die gescheiterte Flucht aus Paris, aber auch Gesten der Freundschaft und Akte praktischer Solidarität.

Ein selbstverfasstes Curriculum Vitae stellt den Besuchern die Hauptperson vor; das Typoskript wirkt, als sei es eigens für diese Ausstellung verfasst worden: Auf Französisch beschreibt Benjamin den Gang seines Lebens und seiner Arbeit, er führt seine wichtigsten Publikationen auf, nennt seine Übersetzungen aus dem Französischen, die Aufsätze zu französischen Themen, die Aufenthaltsorte seit 1933 und die Namen von Personen, die den – am Ende erfolglosen – Versuch unterstützten, die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

Bei der Gestaltung des biographischen Ausstellungsteils greift Simone Schmaus subtil Maße, Formen und Materialien der dreizehn Archive auf. Die neuen Wandvitrinen entsprechen den Archivkästen. Alles ist funktional, präzise, zurückgenommen – und gerade dadurch so wirkungsvoll. Der Gestus der Ausstellung ist leicht, spielerisch und einladend. Man kann in ihr flanieren wie in einer Passage. Das Jüdische Museum hat die Originale aus Berlin ergänzt durch audiovisuelle Angebote: Filmausschnitte und Tondokumente mit Äußerungen von Personen, die Benjamin gekannt haben – Hannah Arendt, Lisa Fittko, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem, Ernst Bloch, Jean Selz, Marcel Brion, Stéphane Hessel –, einen Stadtplan, der zeigt, wo Benjamin, die Freunde und die Bekannten in Paris gelebt haben und wo die wichtigsten Institutionen untergebracht waren, und eine beeindruckende Internetplattform, in der Materialien zum weiteren Studium angeboten werden.

Der Katalog zur Ausstellung erschien im Verlag Klincksieck, der bereits die große Benjamin-Monographie von Jean-Michel Palmier, Adornos „Ästhetische Theorie" und seinen Briefwechsel mit Thomas Mann publiziert hat. Das Jüdische Museum wartet mit einem enormen Beiprogramm auf: Vorträge, Lesungen, Tagungen, eine Filmreihe (vgl. www.mahj.org)

Die Zeitschrift „Cahier de l’Herne" bereitet ein Benjamin-Sonderheft mit dem Schwerpunkt „Berliner Kindheit um neunzehnhundert" vor. Vielleicht erfüllt sich jetzt eine Vorhersage von Benjamins Freund Ernst Schoen, der bereits 1946 sagte, Frankreich sei (außerhalb des deutschen Sprachraums) das Land, in dem Benjamins Gedankengänge heute noch am ehesten Verständnis erwarten können.

Erdmut Wizisla

> Fotos der Eröffnung

(Stand 19.10.2011)