Regine Lutz an ihre Eltern, Berlin, 23. August 1949
Regine Lutz im Cabaret Cornichon, Zürich 1948 © Akademie der Künste, Regine-Lutz-Archiv
Meine Liebsten!
Um alles vorweg zu nehmen: es geht mir gut, ich bin im Besitz sämtlicher 5 Sinne, aller Knochen, und – Köffer!
Ich will mich leicht kurz fassen, da 100 gr schwere Briefe 80 „Fennische“ kosten.
Die Reise bis Hannover war prachtvoll. Natürlich musste ich noch schwer Tränli schlucken, dass ich wieder so wüst mit Mameli und Vätti gewesen war. Es tat mir ja sofort nachher so leid, dass ich am liebsten den Ruedel mit seinem Wagen Euch nochmals holen geschickt hätte. Gell, ihr seid nicht mehr pöss mit mir?
Also das Schlafcoupé blieb für mich allein her. Es war einzig mit allen Schikanen ausgerüstet. Kleiderschrank mit Bügeln, Lavabo mit warm und kalt Wasser mit zuklappbarem Deckel der mit eingebautem Aschenbecher als Tisch benutzt werden konnte. Darunter ein eingebauter Trohn! Darüber ein Spiegelkästli, enthaltend, Wasserkaraffe, gef. Zahnputzglas Handtuch. Neben Bett waren weisse und blaue Lämpli ein Netz für etwelche Bücher etc. Kurz ein Traum! Ich schaute natürlich wild zum Fenster hinaus und war von dem Land rein hin. Dorf an Dorf mit den entzückendsten Kirchen, Felder, endlose Wiesen etc. Bis Karlsruhe war es Tag, nachher, wie die Ruinen anfingen gespenstisch zu werden, kam die Nacht. In Heidelberg wars schon finster. Unterdessen hatte der „maître d´hôtel“ mein Bett gemacht und wünschte mir „une bonne nuit“. Schlafen konnte ich natürlich nur streckenweise, bei jedem Halt machte ich doch schnell den Laden hinauf. In Frankenfurt waren schon viele Ruinen, darüber flatterte ein Band „Goethe Ausstellungen“. Es war grad ein Hohn. – Natürlich war ich schon um 5°° (bei Euch 4°°) wieder munter und schaute durchs Fenster, wie es langsam über dem topfebenen Tag wurde. Grosse Herden von friburger Kühen weideten an Birken umsäumten Bächlein. Es war traumhaft schön. Um 6°° war ich leicht nervös auf dem Perron von Hannover. Da ich drei Stunden Aufenthalt hatte wies mich der Schaffner (ha ha!) ins Cafée. Dort hatte ich natürlich wieder seltenes Glück. Ich setzte mich zu zwei netten Damen an Tisch, eine so Frl. Schultheiss, die andere Tenny Wyss genre. Natürlich kamen wir ins Gespräch und da stellte sich heraus, dass alle mit dem gleichem Zug nach Berlin-Ost wollten. Natürlich nahmen sie mich soffort [!] in Schlepptau, halfen mir mit den Koffern – einfach rührend. Ich wäre nämlich kaum zu Schlaf gekommen, da der Berliner „Zuch“, von Köln kommend schon knallvoll war und ich nach Vättis Prinzip nicht „drücke“. „Tenny Wyss“ aber druckte fröhlich und eroberte dann auch 3 Sitzplätze worüber ich natürlich sehr froh war. Denn von 9°° – 16°° zu stehen ist ja kein Vergnügen. So fuhren wir denn unter stetem Geschnader los. Zwei kath. Schwestern waren auch noch im Coupé; die Wagen sind gleichgebaut wie unsere gewöhnlichen Drittklass, nur dass auf den 2er bänken 3 Personen sitzen müssen! Die Strecke war elend lang und schliesslich begannen auch die Reservierten zu reden. Mir gegenüber sass nämlich eine Irène! die mich schon lange interessiert hatte. Wir kamen ins Gespräch, das sie das Wort Theater gehört hatte und was kam heraus: dickste Freundin der Angi! und vor ihrer Heirat Schauspielerin. Es war natürlich furchtbar lustig und weckte olle Erinnerungen. Was überhaupt auffallend war an all diesen Frauen (man sieht tatsächlich fast nur Frauen hier!) sie sind so hilfsbereit und aufgeschlossen, wirklich reizend, wünschten mir Glück, luden mich ein etc. etc. So gelangten wir rasch gegen die brit. Kontrolle und nachher in Marienbronn [!] war noch die russische. Dort musste ich in den Gepäckwagen um anzugeben, was mein sei – und siehe meine beiden Sachen standen wohlversehrt da, was ich glücklich darüber war, könnt ihr euch ja vorstellen! Alle waren sehr nett und nach 1½ Std. Kontrolle fuhren wir weiter. Gegen Berlin (Potsdam, Grunewald) sieht es trotz der schönen Seenlandschaft immer schlimmer aus. Aber wie ich die Strecke von Zoo nach Friedrichstrasse fuhr, glaubte ich, brechen zu müssen. Ihr macht Euch keine Vorstellungen. Rechts und links der Bahn liegen haushohe Backsteintrümmerhaufen in denen die „Trümmerfrauen“ (schreckliche Bezeichnung) Steine aufschichten. Ganze Häuserfassaden haben hinten nichts, andere Blöcke sind halbgeborsten, der Rest verbrannt. Riesenbunker stehen schräg in die Luft, wie untergehende Schiffe / Eisenbahnschienen und rostige, dicke Betonstangen ragen einfach in den Himmel. Nein ihr könntet im schlimmsten Film es nicht so sehen wie es in Wirklichkeit ist. In der Spree liegen zwei Hälften einer Eisenbahnbrücke, die Anfänge davon brechen einfach in der Luft ab.
Ich glaubte immer, es könne nicht wahr sein. Dazu die unwahrscheinliche Hitze, die Menschenmenge. Ich war leicht au bout und auch noblesse oblige half nicht mehr viel. Auf dem Perron war natürlich weder Weigel noch wer. Später begriff ich, dass die ja gar nicht rauf dürfen. Drunten, wie ich gerade sagen wollte „i ha gnueg“ fragte jemand: „Fräulein Lutz“ Ich war soffort wieder in Positur. Die Sekretärin Kasprowiak und eine 2. vom Büro hatten mich gefunden. Beide sahen glänzend aus, frisch keck, brünett, rundlich, bester Laune. Sie nahmen mir alles ab und begleiteten mich die 5 Minuten zum Hotel Adria (das Ausländerhotel, resp. das beste der Stadt). Nach 5 Minuten waren wir schon dicke Freunde. Die Wohnung kriege ich in den nächsten Tagen, bis dahin bleib ich im Hotel, was mir sehr recht ist. Mein Zimmer ist recht, wenn auch nur kalt Wasser und das Bett hat nur eine Leintuchüberzogene Matratze und eine Flache Decke darüber. Zum Hineinschlüpfen gibt es nichts! Das Fenster geht in einem von hinten noch unzerstörten Häusern umstandenen Hof. Gegenüber ist ein Coiffeur, bei dem noch gearbeitet wird (Dabei ist es 9°°=21°°!) (Bei euch 8°°=20°° abends) Telephon ist auch im Zimmer dafür kann man den Ablauf vom Brünneli nicht zumachen so dass man kein Seeli im Lavabo machen kann – aber dafür hat es pro Stock ein Badezimmer, das von allen benutzt werden kann. (!) – Nachdem also meine zwei Hilfen mir mein Gepäck geschleppt hatten bewirtete ich sie noch mit Kühnerli, die sie seit (Jahren!) nicht mehr gegessen hatten. Dann liessen sie mich mit tausend Vorschriften, geboten, Aufpassenswertem etc. zurück. Dann bekam ich meinen bestellten Tee, aber der war so entsetzlich schlecht, dass ich wie Tante Hille wegen einer solchen Kleinigkeit grad den Hüler bekam und auf dem Bett lag und mir leicht einsam vorkam. Aber wisst, es war doch die Aufregung des Abschieds, der Reise, zum ersten Mal Ruinen etc. Da ist das eigentlich ganz natürlich. Ich hab mich dann auch wieder getröstet und bin dann nach einem Bericht nach Arlesheim auf den Bahnhof Friedrichstrasse gegangen, der grad nebem Hotel liegt, die Passagiergüter zu holen. Vorher sah ich mich noch ein bischen um; das Frappanteste ist, das die Leute „Tante Stephi all over“ sind. (Wenn ´s chuel isch in Tessin etc….) Sie sehen nämlich die Ruinen nicht mehr. An der Spree entlang sitzen die Frauen strickend auf dem Mäuerchen genau vis à vis von lauter Trümmern und sind ganz vergnügt. Darum denke ich jetzt auch: „He ja Hedi; wenn mi dänkt, es heb keni Ruine hets e keni!“ Nachdem mir ein Gepäckträger das Zeug ins Hotel geschleppt hatte ging ich mit einem Fläschchen Selters aufs Zimmer, da die Hitze so ist, dass man Schleim im Maul hat. Komischer Weise ist die Luft toll. Kein Föhn, kein Druck, nichts! Neben Seltersglas sitz ich am der Kommode am offenen Fenster und denke an Euch. Unten aus dem Esszimmer tönt geschwollen die Kurkapelle mit der Gleichen Musik wie bei uns Kapellen Jean Louis und Co. Ich bin eigentlich richtig glücklich und ich glaube, dass Berlin mit seinem Gotti Hanni wesen die Stadt für mich sein wird. Weigel ist eben für 2 Tage weg, morgen werden mit Kasprowiak und Co. meine Papiere hier angemeldet. Etc. Nun grüsse ich Euch 10000 Mal. Wenn ihr mich seht würde Väti sagen ich hätte ´s Sacheli unberufen bis jetzt guet gmacht! Tausend Grüsse auch an Anni und Kurt, Dorli, Frau Mutter die Verwandten, den Eltern 1000 Müntschi von Ginili.
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