Frühe Manuskripte von Anna Seghers im Archiv "Grubetsch" und "Aufstand der Fischer von St. Barbara"
Anna Seghers, mit bürgerlichem Namen Netty Radvanyi, geborene Reiling, erhielt 1928 den renommierten Kleistpreis. Die junge Frau, die mit ihrem Mann seit 1925 in Berlin lebte, hatte erst wenige Texte veröffentlicht: Weihnachten 1924 war in der "Frankfurter Zeitung und Handelsblatt" ihre Erzählung "Die Toten auf der Insel Djal" erschienen – unter dem Pseudonym Antje Seghers. Die Erzählung "Grubetsch" folgte, ebenfalls in der "Frankfurter Zeitung", in elf Folgen vom 10. bis 23. März 1927. Die Autorennennung beschränkte sich hier auf den Familiennamen Seghers.
Für zwei Texte wurde Anna Seghers der Preis verliehen: "Grubetsch" und "Aufstand der Fischer von St. Barbara". Die Auswahl des Kleist-Preisträgers für 1928 oblag Hans Henny Jahnn, der den Preis im Jahr 1920 erhalten hatte. Anna Seghers schickte ihm auf seine Aufforderung hin im Mai 1928 das Manuskript "Aufstand der Fischer von St. Barbara". Meist wird dieser Text zuerst (oder als einziger) genannt, wenn es um den Kleistpreis geht. Jahnn, der Vertrauensmann der Kleistpreisjury, war jedoch vor allem von "Grubetsch" begeistert, wie Anna Seghers in einem Interview mit Achim Roscher 1978 betonte: "Den Kleistpreis bekam ich eigentlich gar nicht für die 'Fischer von St. Barbara'. Jahnn hatte 'Grubetsch' gelesen, und er war sofort dafür, daß ich den Preis bekommen sollte. Das Manuskript für die 'Fischer von St. Barbara' war da noch gar nicht fertig".
Die "Frankfurter Zeitung" berichtete am 22. Dezember 1928 über die Preisvergabe und zitierte aus der Begründung Hans Henny Jahnns. Nicht zuletzt auf Anna Seghers' Sprache gingen Kritiker ein – nicht nur mit Lob, sondern auch mit herber Kritik. So befand etwa Arno Schirokauer am 11. Januar 1929 in der Zeitschrift "Die literarische Welt" knapp und deutlich: "Das Herz schlägt für die Armen, wodurch aber die Grammatik noch nicht besser wird. Die Prosa ist unbrauchbar." Und Gerhart Pohl stellte in einem Querschnittsartikel über junge Autoren in der "Neuen Bücherschau", Heft 1/1929, fest: "Und der schöne Roman 'Aufstand der Fischer' ist offenbar das erste Werk Eines, der Deutsch nicht als Muttersprache aufnahm […]".
Der ganz eigene Stil Anna Seghers' entsprach offenbar nicht dem Erwartungshorizont vieler Leser, die dann auch noch darüber staunen konnten, daß der Autor "Seghers" eine Frau war: Erst bei der Bekanntgabe des Preises wurde nämlich publik, daß es sich bei "Seghers" – auch "Aufstand der Fischer" war im Herbst 1928 zunächst nur mit diesem Familiennamen erschienen – um eine junge Autorin handelte, nicht um einen Mann, dem man Sprache und Thematik gerade des "Aufstands" eher zugetraut hätte. So stellt etwa die "Mainzer Warte" am 19. Januar 1929 fest: "Auch der Unbefangene, der die schmale Erzählung liest, wird schwerlich eine Frau als Autor erraten. Denn wenn es überhaupt eine männliche Handschrift gibt, so ist diese Novelle in ihr geschrieben. Es wird nämlich in dem Küstendorf Sankt Barbara keinerlei Verschwendung mit Gefühl und anderem weiblichen Erbgut getrieben." Damit wird deutlich, was zumindest viele Zeitgenossen von schreibenden Frauen zu lesen erwarteten, und welche 'Enttäuschung' Anna Seghers manchem mit ihrem von diesem Klischee abweichenden Stil und ihrer Themenwahl bereitete. Jahre später bemerkten Stephan Hermlin und Hans Mayer dazu: "Man nennt dieses herbe, oft kantige Ziehen der Konturen gerne männlich, obwohl noch niemand einfiel, Prosa von Novalis oder Jean Paul oder gar Proust weiblich zu heißen."
Unabhängig von der Tendenz der jeweiligen Urteile: Anna Seghers war in der literarischen Öffentlichkeit nun keine Unbekannte mehr. Nach "Aufstand der Fischer" veröffentlichte sie als zweites Buch 1930 den Band "Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft", der auch die Erzählung "Grubetsch" in überarbeiteter Form enthielt.
"Grubetsch"
"Ein böser Hof, und in dem Hof ein Mann, der es versteht, die geheimen Wünsche der Menschen nach Zugrundegehen zu erraten und jedem in seiner Weise zu erfüllen." So beschrieb Seghers ihre Erzählung 1931 in einer "Selbstanzeige" für ihren Band "Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft". Sie veröffentlichte "Grubetsch" später erst wieder 1963 in der Sammlung "Bienenstock".
Das Manuskript von "Grubetsch", das nun im Seghers-Archiv vorliegt, ist auf der ersten Textseite datiert: "Oktober 1926". Es handelt sich um ein gebundenes Notizbuch, das ausschließlich diesen Text enthält, mit zahlreichen Streichungen, Ergänzungen, auch auf eingelegten Zetteln. Anna Seghers schrieb teils mit Tinte, teils mit Blei- bzw. Kopierstift. Als Besonderheit enthält das Notizbuch auf dem Vorsatzblatt eine Skizze, auf der sich Seghers den Schauplatz der Handlung, einen engen Hof mit zahlreichen Fenstern, den Eingang zu einer Kellerkneipe, vergegenwärtigte. Wie ein Bühnenbild ist diese Zeichnung dem Text vorangestellt, ergänzt durch kleinere Skizzen handelnder Figuren.
Die Erzählung beginnt mit einem Blick in den verregneten Hinterhof. Es folgen Szenen aus dem Leben der Hofbewohner, die Arbeiter sind oder Arbeitslose, dazu kommt Grubetsch: Er ist im Sommer als Flößer unterwegs und verbringt den Winter in einem Verschlag unter der Treppe zu Munks Kellerkneipe. Grubetsch kommt und geht, sein Einfluß und Handeln sind von destruktiver Wirkung, ohne daß ein Grund dafür genannt würde. Am Ende wird er von einer Gruppe von Hofbewohnern erstochen. Es gibt keine Erzählerkommentare, keine moralischen Wertungen, es wird eine armselige und von Gewalt geprägte Hinterhofwelt gezeigt. Die Sprache ist karg, dabei sehr bildhaft.
Aus den lose aneinander gereihten Episoden entsteht ein facettenreiches Bild des grauen Lebens in dem engen Hof, von der Sehnsucht der Figuren nach etwas, das – im Guten oder im Bösen – aus diesem Hof und über dieses enge Leben hinausreicht. Anna Seghers erläutert 1961 rückblickend: "Gewiß verstand ich damals besonders gut den Wunsch vieler Menschen, auch wenn sie erniedrigt und verkommen waren oder gleichgültig und flott, nach etwas Hellem, das von ihrer gleichförmigen Umgebung abweicht. Mag es gut oder schlecht sein, es weicht ab."
Der Text der Handschrift unterscheidet sich sowohl von der in der "Frankfurter Zeitung" veröffentlichten Fassung als auch von der in "Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft" enthaltenen und ist damit wesentlich für den in Arbeit befindlichen Band der Seghers-Werkausgabe mit frühen Erzählungen.
"Aufstand der Fischer von St. Barbara"
Die Erzählung "Aufstand der Fischer" erschien im Herbst 1928 im Kiepenheuer-Verlag Potsdam als erste eigenständige Veröffentlichung von Anna Seghers. Wie schon in "Grubetsch" wird die Geschichte armer Leute erzählt: Die Fischer eines weder zeitlich noch räumlich konkret beschriebenen Ortes treten in Streik, da die Bezahlung für ihre Fänge zu gering ist, um das Leben ihrer Familien auskömmlich zu sichern. Der – wie die Figur des Grubetsch – von außen kommende, nicht zur geschilderten Gemeinschaft gehörige Hull ist treibende Kraft bei dem Widerstand gegen den Reeder Bredel. Der Aufstand scheitert, die Fischer fahren zu den alten, ungenügenden Bedingungen aus – das erfährt der Leser schon mit dem ersten Satz der Erzählung. Doch gleichzeitig erfährt er auch, daß der Aufstand nicht wirklich beendet ist, daß die nun wieder eingekehrte Ruhe eine scheinbare ist: "Aber längst, nachdem die Soldaten zurückgezogen, die Fischer auf der See waren, saß der Aufstand noch auf dem leeren, weißen, sommerlich kahlen Marktplatz und dachte ruhig an die Seinigen, die er geboren, aufgezogen, gepflegt und behütet hatte für das, was für sie am besten war."
Das Typoskript weicht nur geringfügig vom gedruckten Text ab, wie Helen Fehervary im Nachwort zur Ausgabe des Textes schreibt. Es ist allerdings auch nicht unmittelbare Vorlage für den Erstdruck, vermutlich, wie Fehervary zeigt, eine Vorstufe dafür. Neben vereinheitlichenden Korrekturen von Namen gibt es wenige inhaltliche Varianten, so u. a. auf Seite 53 in der Szene, in der Kedennek, ein am Aufstand beteiligter Fischer, von Soldaten erschossen wird. Der Satz, den Seghers hier handschriftlich einfügt, ist in der Druckfassung nicht enthalten.
In den Jahren 1931 bis 1934 wurde in der Sowjetunion der "Aufstand" unter Regie von Erwin Piscator verfilmt, mit einer wesentlichen Änderung der Handlung: Der Aufstand wird hier nicht niedergeschlagen, sondern endet erfolgreich aufgrund des Eingreifens bewaffneter Matrosen. Thomas Langhoff inszenierte den Stoff 1988 erneut für einen DEFA-Fernsehfilm.
Neben "Grubetsch" und "Aufstand der Fischer" stehen weitere Erzählungen von Anna Seghers aus den zwanziger Jahren, die ebenfalls im Arbeitermilieu bzw. im sozialen Zwielicht der Hafenschenken angesiedelt sind. Dazu befragt, wie sie – aus großbürglichen Verhältnissen stammend – nicht nur anteilnehmend, sondern auch authentisch aus ihr so fremden Gesellschaftsschichten erzählen konnte, meinte Anna Seghers: "Ich konnte doch überall hingehen und sehen, was ich sehen wollte. Man muß doch nicht, um etwas beschreiben zu können, es erst selbst erlebt haben. Man muß nur richtig hinsehen und intensiv mitempfinden."
Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von Pierre Radvanyi, Orsay
(Stand 30.12.10)
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