Die „Taktstocknummer“
Taking Sides – Der Fall Furtwängler

Konzert des Berliner Philharmonischen Orchesters in Anwesenheit Adolf Hitlers, 1935/36, Fotomontage unter Einfügung von Stellan Skarsgårds Gesicht anstelle Wilhelm Furtwänglers

Das Foto wirkt auf den ersten Blick authentisch. Die leichte Unschärfe, die Bräunung und der in den 1930er-Jahren beliebte weiße Zackenrand tragen zu diesem Eindruck bei. Das Bild ist jedoch eine täuschend echte Fotomontage, die der Regisseur István Szabó für seinen Film Taking Sides – Der Fall Furtwängler anfertigen ließ. Vorlage war die Aufnahme des Dirigenten anlässlich eines Konzertes, das die Berliner Philharmoniker in Anwesenheit Adolf Hitlers und anderer NS-Prominenz 1935/36 aufführten. Anstelle des Dirigenten Wilhelm Furtwängler ist allerdings seine filmische Besetzung – der schwedische Schauspieler Stellan Skarsgård – zu erkennen. Man sieht, wie er sich nach dem Konzert von der Orchesterbühne herabneigt und Hitler die rechte Hand zum Gruß entgegenstreckt. In der Linken hält er Taktstock und Taschentuch. Szabó hat beide Fotos – Vorlage und Montage – neben andern historischen Fotos im Drehbuch verwahrt, ein Beleg dafür, welchen Wert er dem dokumentarischen Material beimaß, das ihm als Requisit und Inspirationsquelle für den Film diente.

Das Foto visualisiert das Thema des Filmes. Wie in der Verfilmung des Romans Mephisto von Klaus Mann geht es auch in diesem 2001 entstandenen Werk des ungarischen Regisseurs um das Verhältnis von Kunst und Politik und die Verstrickung des Einzelnen in die Machenschaften eines totalitären Regimes. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob sich der berühmte Dirigent Wilhelm Furtwängler schuldig machte, als er mit den Nationalsozialisten zusammenarbeitete und ihnen als Aushängeschild diente. Taking Sides ist ein Kammerspiel, in dem Major Steve Arnold (gespielt von Harvey Keitel) im Auftrag der amerikanischen Besatzungsmacht Furtwängler nach seiner Karriere im „Dritten Reich“ befragt, bevor der Fall dem Entnazifizierungsausschuss der Kunstschaffenden vorgelegt werden soll. In drei Verhören muss sich der Musiker dem Besatzungsoffizier stellen. Arnold wird von zwei Personen unterstützt: dem jungen, aus Deutschland geflohenen und nun in der U.S. Army tätigen Leutnant David Willis (Moritz Bleibtreu), dessen jüdische Eltern von den Nazis ermordet wurden, und der Sekretärin Emmi Straube (Birgit Minichmayr), die alles protokolliert. Ihr Vater gehörte zum Widerstand gegen Hitler und ist hingerichtet worden. Während Arnold von der Schuld des Künstlers überzeugt ist und ihn zu überführen sucht, bewundern die anderen beiden den Dirigenten und verteidigen ihn.

Durch seine aggressive Befragung setzt Arnold Furtwängler massiv unter Druck und verwickelt ihn in Widersprüche. Er wirft ihm vor, mit den Nazis kollaboriert zu haben und nur der Karriere wegen in Deutschland geblieben zu sein. Auch unterstellt er dem Musiker, von den Judenverfolgungen gewusst zu haben: „Wenn er nichts gewußt hat […], warum mußten die Juden denn gerettet werden, in diesem Land?“ Furtwängler versucht verzweifelt zu erklären, warum er seine Heimat nicht verlassen wollte, Kompromisse einging und glaubte, Kunst und Politik voneinander trennen zu können. Letztlich hat er Arnold aber nur wenig mehr entgegenzusetzen als seinen idealistischen Kunstbegriff: „Ich weiß, eine einzige Aufführung eines großen Meisterwerkes ist eine stärkere und lebendigere Verneinung des bösen Geistes von Buchenwald und Auschwitz, als es Worte sind.“

Szabó ergreift im Film keine Partei. Der Filmtitel ist eine Aufforderung an den Zuschauer, selbst Stellung zu beziehen. Geschickt sind die Charaktere so angelegt, dass sie Gegensätze bilden, aber keine der beiden Hauptfiguren alleine die Sympathie auf sich zieht. Verstärkt wird diese Wirkung durch die Kameraführung, die in Großaufnahmen der Gesichter die Empfindungen der beiden Protagonisten einfängt. Auch das Publikum befindet sich im Zwiespalt, ein moralisches Urteil fällen zu müssen. Steve Arnold vertritt zwar die überzeugenderen Argumente, wirkt aber durch sein kaltschnäuziges und hasserfülltes Auftreten sowie die rabiaten Verhörmethoden unsympathisch und abweisend. Dagegen weckt Furtwängler dadurch Empathie, dass ihn die Vorwürfe sichtlich erschüttern und er schließlich bekennt: „Ja, ich hätte ’34 weggehen sollen. Es wäre besser gewesen, wenn ich gegangen wäre.“

Die Fotomontage ist für Szabó ein wichtiges filmisches Mittel, das in der Handlung wiederholt eingesetzt wird. Major Arnold verwendet das Bild als Beweis dafür, dass Furtwängler im engen Kontakt zur Nazi-Elite stand. Zugleich entlarvt er mit dem Foto den Versuch der befragten Orchesterangehörigen, den Dirigenten zu entlasten. Die stereotyp erzählte Geschichte, Furtwängler sei widerständig gewesen, indem er bei einem Konzert in Anwesenheit Hitlers den Gruß verweigert habe, wird von Arnold spöttisch als „Taktstocknummer“ bezeichnet und durch das Foto widerlegt. In einem Gespräch mit dem Zweiten Geiger Rohde nötigt er diesen zum Nazi-Gruß mit dem Dirigentenstab und quittiert dessen Handeln ironisch mit den Worten „Jetzt verstehe ich, Sie hätten mir beinahe die Augen ausgestochen.“

Szabó nutzt für den Film mehrfach dokumentarisches Material, das er mit Spielszenen kontrastiert. Grandios ist die Schluss-szene, für die Bilder aus einem Wochenschaubericht verwendet werden. Sie wird zu einer Metapher für den gesamten Film. Furtwängler musiziert vor einem größeren Publikum, darunter finden sich neben Zivilisten auch zahlreiche verwundete Soldaten. In der ersten Reihe sitzt Propagandaminister Goebbels, der beim Schlussapplaus aufspringt, um dem Dirigenten zu gratulieren und die Hand zu schütteln. In Großaufnahme und Zeitlupe ist erkennbar, wie sich Wilhelm Furtwängler unmittelbar danach die Hände mit einem Taschentuch abwischt. Unbewusst zeigt er, dass er sich die Hände schmutzig gemacht hatte.

Die Zitate stammen aus: Sandra Theiß, Taking Sides. Der Filmregisseur István Szabó, Mainz 2003, S. 285, 274 und 276

Die Akademie der Künste hat für den großen europäischen Filmregisseur vor Kurzem das István-Szabó-Archiv eingerichtet und die Drehbücher seiner wichtigsten Filme übernommen.


Autor: Werner Heegewaldt, Direktor des Archivs der Akademie der Künste, Berlin.

Erschienen in: Journal der Künste 22, Mai 2024, S. 64-65


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