Amazonen und Gleichstellungspolitik im „Jahrhundert der Frauen“ – aus den Illustrationen zu Maria Antonia Walpurgis’ Oper Talestri, regina delle Amazzoni

Johann Benjamin Müller, Tempio di Diana con ara accesa, Radierung auf Papier, 24,4×31 cm (Blattmaß), Blatt Nr. 2 zu: Maria Antonia Walpurgis, Talestri, regina delle Amazzoni, Leipzig: Breitkopf, 1765.

Nicht umsonst nannten die Brüder Jules und Edmond de Goncourt – Namensgeber des heute bekanntesten französischen Literaturpreises – das 18. Jahrhundert Siècle des femmes. Die „Frauenfrage“, angestoßen im 15. Jahrhundert von der Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan, hatte die Debatten über Wesen und Rolle der Frau und über die Gleichheit zwischen den zwei Geschlechtern zu einem einheitlichen „Problem“ kondensiert; nun, im Zeitalter der Aufklärung erregte sie die Geister abermals. Die Epoche, die die Regierungen von Monarchinnen wie Maria Theresia oder Katharina II. entstehen sah, brachte die querelle des femmes erneut aufs Tapet.

Im Sinne ihrer frühfeministischen Vorläuferinnen konzipierte Prinzessin Maria Antonia Walpurgis Symphorosa von Bayern (1724–1780), die durch ihre künstlerische Vielseitigkeit als Komponistin, Dichterin, Sängerin und Malerin dem Profil einer femme savante, einer gelehrten Frau, vollkommen entsprach, eine Opera seria des Titels Talestri, Königin der Amazonen. Das Werk entstand in Dresden, wo Maria Antonia nach der Heirat mit dem sächsischen Kurprinzen Friedrich Christian residierte. Die Oper greift das mythische Thema des uralten Hasses auf, der zwischen Amazonen und Skythen besteht, und projiziert auf diesen dramatischen Hintergrund eine verbotene Liebesgeschichte zwischen der Amazonen-Prinzessin Talestri und dem Skythen-Prinzen Orontes. Die Handlung schlängelt sich durch Intrigen, Travestie-Episoden und gekünstelte Komplikationen von der bipolaren Ausgangslage bis zur Versöhnung von Pflicht und Liebe im Gemüt der Amazone.

Eine Auflage von fünf der insgesamt sieben Illustrationen, mit denen die Partitur 1765 veröffentlicht wurde, befindet sich in der Theatergrafik-Sammlung des Archivs Darstellende Kunst der Akademie der Künste. Die zweite Radierung zum ersten Opernakt, Tempio di Diana con ara accesa, visualisiert besonders aufschlussreich Maria Antonias Vorstellung vom Königreich der Amazonen als einem Ort, wo Macht, Ansehen und Einfluss exklusiv in den Händen der Frauen liegen. Die Innenansicht, weit davon entfernt, an das ursprüngliche Pontusgebiet der antiken Kriegerinnen zu erinnern, ist der barocken Architektur, mit der die Autorin vertraut war, angepasst. Dasselbe gilt für die Tracht der Amazonen, die nebst Waffen, Helm und Panzerhemd zugleich Korsetts und kuppelförmige Reifröcke tragen. Inmitten des Raumes erhebt sich die Statue der jungfräulichen Jagdgöttin Diana, die seit jeher wusste, wie Männer zu bestrafen sind, die die weibliche Privatsphäre missachten. In diesem Setting soll das Schicksal der alleinigen männlichen Figur entschieden werden, des Orontes, der sich verkleidet in die Frauengesellschaft eingeschlichen hatte, dessen Travestie inzwischen durchschaut ist und der nun kniend erscheint.

Als einziges aus dem 18. Jahrhundert erhaltenes Beispiel einer illustrierten, an einem deutschsprachigen Hof entstandenen Opernpartitur (1) gewährt die Verbildlichung der Talestri zugleich einen wichtigen Einblick in die künstlerische Vision der Autorin selbst. Mit der Erstellung des Bildmaterials wurden die Künstler Johann Benjamin Müller und Ferdinando Antonio Bibiena beauftragt, und vermutlich hatte Maria Antonia Walpurgis auch hierin mitzusprechen. Sie selbst war als Malerin tätig und womöglich mit der Stechkunst, in der sich einige ihrer illustren Zeitgenossinnen (z. B. die Marquise de Pompadour) übten, nicht unvertraut.

Der politische und autobiografische Kontext, in dem Maria Antonia Walpurgis ihre Oper verfasste, ist wesentlich für das Verständnis dieses Werkes. Talestri wurde 1763 in Dresden uraufgeführt und zwar nach der Rückkehr des Schwiegervaters der Komponistin, August III., aus dem Exil, zu dem ihn die preußische Armee Friedrichs II. genötigt hatte. In Abwesenheit des Kurfürsten war das Land von dem jungen Kurprinzenpaar regiert worden, wobei sich Maria Antonia an den politischen Angelegenheiten, die auf den Schultern ihres gehbehinderten Gatten lasteten, beteiligt hatte. Zur Zeit der Uraufführung, in der sie als prima donna die Protagonistin spielte, konnte sich die Kurprinzessin nicht nur einer außerordentlichen Virtuosität, sondern zugleich einer beachtlichen politischen Kompetenz rühmen, die sie in der Kriegszeit erlangt hatte. Genau wie Talestri war Maria Antonia Walpurgis gerade im Begriff, die höchsten Würden in ihrem Land zu übernehmen – als Kurfürstin von Sachsen und, nach dem Tod ihres Mannes, als Regentin für ihren minderjährigen Sohn. In diesem Zusammenhang erweist sich die Wahl von Amazonen als Heldinnen ihrer Oper nicht nur als Vorliebe einer gelehrten Feministin. Sie sind mögliche Identifikationsfiguren einer ehrgeizigen Politikerin, die imstande war, ihre „Vision von weiblicher Macht“ (2) mithilfe von Poesie und Musik zu „instrumentieren“.

Im Werk und Leben von Maria Antonia Walpurgis überlagern sich das weibliche Rollenbild der femme savante oder der weisen Minerva und das Motiv der femme forte oder der mutigen Amazone, um ein Gleichstellungsideal hervorzubringen, das die französische Schriftstellerin Madeleine de Puisieux schon 1750 in die Worte fasste: „Wir haben das gleiche Recht auf alle öffentlichen Ämter wie [die Männer]. Die Natur hat uns ein Genie gegeben, das ebenso fähig ist, diesen Ämtern zu genügen, wie es das ihrige ist. Unsere Herzen sind ebenso empfänglich für Tugend wie unsere Köpfe für die Wissenschaften. Uns fehlt es weder an Geist, Kraft und Mut, um ein Land zu verteidigen, noch an Klugheit, um es zu regieren.“(3)


(1)   Christine Fischer, Engravings of Opera Stage Settings as Festival Books: Thoughts on a New Perspective of Well-Known Sources, in: Music in Art 34 (2009) H. 1, S. 74.

(2)    Christine Fischer, „Instrumentierte Visionen weiblicher Macht.“ Maria Antonia Walpurgis’ Werke als Bühne politischer Selbstinszenierung, Kassel 2007.

(3)    Madeleine de Puisieux, La femme n'est pas inférieure à l'homme, London 1750, S. 137.


Autorin: Elena Pascalau, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste.


Die Theatergrafik-Sammlung der Akademie der Künste umfasst heute insgesamt ca. 5.500 Blatt. Sie wurde von der Gesellschaft für Theatergeschichte ab 1902 zusammengetragen und 1923 an die Berliner Universität überführt. In einem Arbeitsbericht der Akademie der Künste der DDR taucht 1953 die Übernahme „wieder aufgefundenen theatergeschichtlichen Materials (…), das vor 1945 der ‚Gesellschaft für Theatergeschichte‘ gehörte“ zum ersten Mal auf. Die Sammlung wurde auf Karteikarten inventarisiert, die Grafiken zum Teil restauriert und auf einheitliche Pappen aufgezogen. Elena Pascalau verzeichnet die Sammlung nach theater- und kunstwissenschaftlichen Kriterien.


Erschienen in: Journal der Künste 20, Mai 2023, S. 62-63