Hanns Eisler
Gestrichene Randnotizen wieder lesbar
Bis zu einem gewissen Grad können Komponistinnen und Komponisten selbst bestimmen, welche Objekte und Informationen in ihren Nachlässen fehlen und somit – im Falle einer Archivübernahme – später auch im Musikarchiv nicht zur Verfügung stehen. Die „sicherste“ Methode ist zweifellos die physische Vernichtung des fraglichen Dokuments, etwa einer misslungenen Partitur oder eines im Nachhinein als peinlich empfundenen Jugendwerks: So wird man das Opernfragment zu Leonce und Lena nach Georg Büchner, das Hanns Eisler gegen Ende der 1920er Jahre als einen unvollendeten Torso den Flammen übergab, in seinem Nachlass im Archiv der Akademie der Künste vergeblich suchen. Dagegen tauchten mehr als dreißig romantische Jugendkompositionen, die Eisler als 20-Jähriger verfasst und seiner damaligen Freundin als Geschenk überreicht hatte, kurz nach seinem Tod wieder auf, obwohl sie in seinem Nachlass wie im Verzeichnis seiner Werke bereits restlos getilgt waren: Die erwähnte Freundin hatte die Partituren jahrzehntelang treu aufbewahrt und sie sogar in ihr erzwungenes Exil in die USA mitgenommen; von dort aus transferierte sie Eislers verworfene Frühwerke – die unter anderem den Einfluss von spätromantischen Komponisten wie Gustav Mahler oder Hugo Wolf auf den „Komponisten der Arbeiterklasse“ belegen – 1965 an das gerade gegründete Hanns-Eisler-Archiv in Ost-Berlin.
Eine zweite von Hanns Eisler häufig angewandte Methode, der Nachwelt bestimmte Informationen vorzuenthalten, bestand im mitunter erstaunlich rigorosen Durchstreichen und Radieren von Überschriften, Datierungen und Anmerkungen, aber auch von Takten oder ganzen Notenzeilen in seinen eigenen Autografen. In einigen Fällen wurden die ursprünglichen Eintragungen so gründlich übermalt, dass bislang alle Entzifferungsversuche erfolglos blieben (siehe Abb. oben). Dieser unbefriedigende Zustand hat sich unlängst für einen Teil der Partituren im Hanns-Eisler-Archiv grundlegend geändert: Nach dem Umzug eines Außenmagazins geriet 2014 eine Schachtel mit Kleinbildnegativen ins Blickfeld, deren Bedeutung zuvor übersehen worden war. Wie sich inzwischen herausgestellt hat, handelt es sich um Fotografien, die der Komponist unmittelbar vor seiner Rückkehr aus dem USA-Exil im Jahr 1948 von seinen wichtigsten Werken herstellen ließ – insgesamt über 400 Aufnahmen von fast doppelt so vielen Partiturseiten. Der Clou: Viele der in den Autografen heute nicht mehr entzifferbaren Stellen sind in diesen Aufnahmen problemlos lesbar, da dort die nachträglichen Streichungen fehlen (siehe Abb. rechts). Eine Fundgrube für die Musikwissenschaft – liegen die Partituren doch plötzlich in ihrem Zustand aus dem Jahr 1948 vor uns!
So tritt bei dem Lied Der Mensch eine bislang unbekannte Widmung für Brechts Sohn Stefan und die Datierung „25 Sept 1944 Hollywood“ zutage, womit die 1956 zur gedruckten Erstveröffentlichung hinzugesetzte Angabe, das Lied stamme aus Eislers umstrittenem Opernprojekt Johann Faustus (1952), endgültig widerlegt scheint. Bei der als Reisesonate bekannten Sonate für Violine und Klavier sind erstmals die Entstehungsorte der drei Sätze (Prag, New York und Mexico City) lesbar, die Eisler möglicherweise als überdeutlichen Hinweis auf die in der DDR lange Zeit verpönte „Westemigration“ nicht unbedingt gedruckt sehen wollte. Und auf der letzten Partiturseite der Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben (1941) kann nun endlich die Notiz zur Kenntnis genommen werden, wonach mit den letzten Takten der Komposition nicht nur der zu vertonende Film (Regen von Joris Ivens), sondern auch die für diese Arbeit notwendige „Laune“ des Komponisten zu Ende war. Durch den spektakulären Fund sind diese und zahlreiche weitere Eintragungen, die Hanns Eisler nach 1948 in seinen Partituren unleserlich gemacht hatte, zum ersten Mal der musikwissenschaftlichen Forschung zugänglich.
Autor: Peter Deeg, Mitarbeiter im Musikarchiv der Akademie der Künste, Berlin.
Erschienen in: Journal der Künste 09, Januar 2019, S. 50-51