Rote Fahne aus dem Besitz von Ruth Berlau

Rote Fahne aus dem Besitz von Ruth Berlau, 1930er Jahre

Im November 1954 notiert die dänische Schauspielerin, Regisseurin und Schriftstellerin Ruth Berlau in Berlin in ihr Tagebuch: „Ich hänge meine rote Fahne raus – diese schöne lange rote Fahne auf der Bambusstange – es regnet – Er [Brecht] macht in sein Teater ein Revolutionsfeier – aber ich gehe nicht hin – ich kann nicht – [...].“

Knapp 20 Jahre zuvor, 1935, war diese Fahne in einer Inszenierung von Brechts Stück Die Mutter im Revolutionært Teater in Kopenhagen zum Einsatz gekommen. Ruth Berlau, die mit Otto Gelsted das Stück ins Dänische übersetzt hat und auch Regisseurin der Inszenierung war, bewahrt die Fahne bis zu ihrem Tod im Jahr 1974 auf. Es ist dieselbe rote Fahne, die sie im Mai 1941 mitnimmt, als sie mit der Familie Brechts Skandinavien verlässt, die Sowjetunion durchquert und sich im Juni, neun Tage vor dem Überfall deutscher Truppen, in Wladiwostok einschifft, mit dem Ziel USA. Wofür steht die rote Fahne? Ist sie ein Erinnerungsstück? Ein Symbol für eine bessere politische Weltordnung? Das Sinnbild einer zugleich erfüllten wie tragischen Liebes- und Arbeitsbeziehung?

1933 begegnet die 27-Jährige dem geflüchteten Brecht – der Liebe ihres Lebens. In dessen Dichtung geht sie als „Lai-tu“ ein, deren Liebe ausreicht, „ein ganzes Volk glücklich zu machen“. Jahrzehnte später noch betont sie: „Unsere Sache war ja nicht nur Liebe – es war vor allem Arbeit – wie Brecht es nennt: DIE DRITTE SACHE. [...] ich war Schriftsteller und Regisseur und vor allem Kommunist bevor ich Brecht traf.“ Als Brecht im April 1940 weiter nach Finnland flieht, teilt er seiner Mitarbeiterin und Geliebten mit: „von jetzt ab warte ich auf Dich, wohin immer ich komme, und rechne immer mit Dir. Und ich rechne nicht wegen Dir auf Dein Kommen, sondern wegen mir, Ruth.“ Sie folgt ihm ins Exil und kehrt sieben Jahre später nach Europa zurück, im Gepäck auch die rote Fahne. Ungebrochen ist ihr Wunsch, Brechts „Auftrag“ zu folgen, „auf sich achtzugeben und sich durch die Gefahren zu bringen, bis unsere Sache beginnt, die echte, für die man sich aufsparen muß“. Im Postskriptum eines Briefes an Brecht von 1955 erinnert Berlau an die gemeinsame politische Heimat, die mit dem Refugium ihrer Liebe verbunden ist. Es ist kein realer Ort, sondern ein Stück Stoff: „Und die Fahne ist rot.“



Ruth Berlau, geb. 1906 in Kopenhagen, gest. 1974 in Berlin/Ost. Schauspielerin, Regisseurin, Fotografin, Autorin. 1932 Mitbegründerin des Revolutionært Teater, 1933 erste Begegnung mit Bertolt Brecht auf Thurø/Dänemark, 1941 Weg ins amerikanische Exil über Leningrad, Moskau, Wladiwostok nach Los Angeles, ab 1942 in New York, 1948 Rückkehr nach Europa, von Le Havre nach Zürich zu Brecht, ab 1949 in Berlin/Ost mit zeitweiligen Aufenthalten in Dänemark.


Gezeigt in der Ausstellung "Uncertain States. Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen", 15.10.2016 – 15.1.2017