Reinhard Jirgl „Mutter Vater Roman“ (1990/2012)

Lesung
Im Begleitprogramm zur Tagung „DDR-Literatur. Eine Archivexpedition“ liest Akademie-Mitglied Reinhard Jirgl aus seinem literarischen Debüt „Mutter Vater Roman“, das erst 1990 nach dem Mauerfall erscheinen konnte, in den Aufregungen der Wiedervereinigung unterging und jetzt im Hanser Verlag wieder aufgelegt wurde. Die DDR hatte dem avancierten, sprachmächtigen Autor eine Schriftstellerexistenz verweigert, u.a. durch die Mentorschaft Heiner Müllers wurde er aber ermutigt, seinen künstlerischen Weg weiter zu verfolgen. Sein Erstling enthält bereits die zentralen Motive und formalen Mittel, die auch Jirgls weiteres Schaffen prägen. „Mutter Vater Roman“ ist eine große, späte Entdeckung.
Donnerstag, 11.4.2013

20 Uhr

Pariser Platz

Plenarsaal

Einführung Norbert Miller. Begleitprogramm zur Tagung „DDR-Literatur. Eine Archivexpedition“.

€ 5/3 €
Dokumentation

DDR-Literatur. Eine Archivexpedition

Gemeinsam veranstalteten das Literaturarchiv der Akademie der Künste und das Deutsche Literaturarchiv Marbach eine Doppeltagung zur "DDR-Literatur". Das erste Kolloquium hatte Ende 2012 in Marbach stattgefunden und sich v.a. an der Thematik der Dissidenz orientiert, das zweite Treffen am 11./12. April 2013 in Berlin stand unter dem Titel "Der Künstler und der Apparat", nahm also das Verhältnis von Künstlern und Kulturpolitik bzw. staatlichen Künstlerverbänden in den Blick.
Ingo Schulze, Direktor der Sektion Literatur, begrüßte die Teilnehmer und zahlreiche Gäste am Hanseatenweg. Mehr als ein Drittel der etwa 330 Bestände des Literaturarchivs zeichnet sich durch starken Bezug zur (Literatur-)Geschichte der DDR aus. Sabine Wolf, Leiterin des Literaturarchivs, stellte die DDR-relevanten Bestände im Überblick und anhand einiger konkreter Beispiele dar.
Roland Berbig (Humboldt-Universität zu Berlin) setzte sich mit den Facetten des Terminus' "DDR-Literatur" auseinander. Über Forschungen zur Verlagslandschaft der DDR berichtete Siegfried Lokatis (Universität Leipzig) aus der Perspektive des Historikers und Buchwissenschaftlers. Carsten Gansel (Justus-Liebig-Universität Gießen) untersuchte Diskussionen des Schriftstellerverbandes der DDR zu Texten von Siegfried Pitschmann und Harry Thürk, die mit ihrer an Hemingway orientierten 'harten' Schreibweise eher Romanen der frühen Bundesrepublik nahestanden. Gansel beschrieb sie in der Terminologie Niklas Luhmanns als 'Störfälle' im System der DDR-Literatur, das sich diese und andere 'Störfälle' nicht als Anlässe zu Lernprozessen zunutze machte, sondern sie durch Zensur ausschaltete und nicht zuletzt daran scheiterte, dass es Transformationen kaum zuließ.
In direktem Bezug zu den Beständen des Akademiearchivs standen eine Reihe hochinteressanter Fallstudien: Ute Brandes (Amherst College, Massachusetts) stellte Texte von Anna Seghers aus den Jahren 1947-49, die bislang eher als peripher angesehen worden waren, als eigenständige, ästhetisch avancierte Werke plausibel in den Kontext der "Trümmerliteratur". Maria Büttner (Berlin) zeichnete die Spuren von Freundschaftsbeziehungen um Erich Arendt nach. Claude Conter (Centre national de littérature / Lëtzebuerger Literaturarchiv, Luxemburg) zeigte an der Novelle "Esther" von Bruno Apitz, wie der Autor seinen schon während der KZ-Haft begonnenen Text den ideologischen Ansprüchen der DDR anpasste. Stephan Pabst (Friedrich-Schiller-Universität Jena) verfolgte minutiös die Überarbeitungsstufen von Wolfgang Hilbigs Erzählung "Eine Übertragung", vor allem hinsichtlich der Reflexionen auf die Sprache und das Erzählen selbst. Helmut Peitsch (Universität Potsdam) analysierte die Remigration Walter Victors aus den USA in die DDR und die Übersiedelung von Ernst Schumacher und Peter Hacks aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR mit ihren literarischen und politischen Implikationen. Kristin Schulz (Humboldt-Universität zu Berlin) setzte sich mit intertextuellen Bezügen innerhalb des Werks von Georg Seidel, vor allem zu "Carmen Kittel" auseinander.
Aus den Vorträgen war, ebenso wie aus den sich anschließenden Diskussionen, den angeregten Gesprächen zwischendurch und der abschließenden Podiumsdiskussion mit Ulrich von Bülow (Deutsches Literaturarchiv Marbach) und Birgit Dahlke (Humboldt-Universität zu Berlin) vor allem eines zu entnehmen: Dass die Diskussion über Literatur, die in der DDR oder in Auseinandersetzung mit ihr entstand, und zu vielen damit verknüpften Themenbereichen alles andere als abgeschlossen ist. Vielleicht ist jetzt erst der Zeitpunk gekommen, an dem eine von Polemik freie, analytische Auseinandersetzung möglich wird. Archive, in der Akademie, in Marbach und an anderen Stellen, sind dafür essentiell, denn nur dort finden sich unveröffentlichte Materialien, die neue Sichtweisen oft erst möglich machen.


Lesung Reinhard Jirgl "Mutter Vater Roman"

Als Begleitveranstaltung zum Kolloquium "DDR-Literatur. Eine Archivexpedition" las Akademiemitglied Reinhard Jirgl am 11. April 2013 im Plenarsaal am Pariser Platz aus seinem literarischen Debüt "Mutter Vater Roman". Die Leiterin des Literaturarchivs, Sabine Wolf, begrüßte die Gäste. Norbert Miller, Akademiemitglied und langjähriger Ordinarius für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin, stellte den Autor vor und führte in sein Werk ein. Anschließend berichtete Reinhard Jirgl über die Entstehung des Textes, der in der DDR zunächst nicht erscheinen konnte und dann in der von Gerhard Wolf im Aufbau-Verlag betreuten Reihe "Außer der Reihe" erscheinen sollte, was erst 1990 tatsächlich geschah. Drei Jahre später wurden die Restbestände makuliert, so daß die Erstausgabe heute ein äußerst seltenes (und teures) Stück ist. Erst im Jahr 2012 wurde der Text bei Hanser neu aufgelegt. In aller Härte und dabei höchst artifiziell stellt Jirgl darin die Schicksale zweier Protagonisten, Margarete und Walter, in ihrer Umgebung und den letzten Kriegsjahren und der frühen Nachkriegszeit dar. Vor 1989 hatte Jirgl mehrere Manuskripte fertiggestellt, die jedoch allesamt nicht erscheinen durften, und "Mutter Vater Roman" ging in den ersten Nachwendejahren auf dem literarischen Markt unter. Erst mit dem Roman "Abschied von den Feinden" (1995), für dessen Manuskript er 1993 den Alfred-Döblin-Preis erhalten hatte, wurde die Bedeutung seiner Texte angemessen gewürdigt. Inzwischen erhielt Jirgl zahlreiche Literaturpreise und -stipendien, darunter 2010 den Georg-Büchner-Preis. Im Februar 2013 erschien sein neuester Roman "Nichts von euch auf Erden".

Helga Neumann

DDR-LITERATUR – EINE ARCHIVEXPEDITION

Kooperative Doppeltagung des Literaturarchivs der Akademie der Künste in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach vom 11. bis 12. April 2013 in der Akademie der Künste, Berlin, Hanseatenweg 10     > Tagungsprogramm  (PDF-Datei)

Fotos

Blick in den Plenarsaal, Lesung Reinhard Jirgl im Rahmen der Tagung zur DDR Literatur in der AdK, Berlin, 11.04.2013

Sabine Wolf, die Leiterin des Literaturarchivs der AdK begrüßt die Gäste zur Lesung von Reinhard Jirgl

Einführung von Norbert Miller in das Werk von Reinhard Jirgl

Reinhard Jirgl liest aus seinem Buch Mutter Vater Roman

Fotos Hans-Jörg Schirmbeck