FORUM DOKUMENTATIONEN
Es geht ums Ganze - Das Projekt Demokratie
Gespräch auf der Herbst-Mitgliederversammlung, 8.11.2008
Helmut Lachenmann
Thomas Mann in seiner Rede zum 150. Todestag Friedrich Schillers, am 5. Mai 1955:
...Das letzt Halbjahrhundert sah eine Regression des Menschlichen, einen Kulturschwund der unheimlichsten Art ... Zwei Weltkriege haben, Rohheit und Raffgier züchtend, das intellektuelle und moralische Niveau ... tief gesenkt ... Ohne Gehör für seinen (Schillers) Aufruf zum stillen Bau besserer Begriffe ... taumelt eine von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit unterm Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem schon gar nicht mehr ungewollten Untergange entgegen.
Ich könnte ansetzen beim uralten, durchaus begründeten Mißtrauen des Kunstschaffenden im Blick auf den Begriff und die Idee der „Demokratie“, insofern dieser Begriff den unreflektierten Respekt vor einer angenommenen Autorität der Mehrheit impliziert.
(Schiller, Demetrius: „die Mehrheit, das ist der Unsinn“)
Der heutige Ansatz hat indes eher zu tun mit einem zunehmend zu beobachtenden Überdruß und Mißtrauen gegenüber der Demokratie aufgrund entmutigender, manchmal nachgerade abstoßender Erfahrungen im sozialen, politischen, ideologischen, kulturellen Bereich.
Für mich ist es keine Frage, daß dieser Demokratieverdruß nicht zuletzt zusammenhängt mit einer immer wieder bedenkenlos zur Schau gestellten, unehrlichen und demagogisch berechnenden Streit-Unkultur von Politikern im Kampf um die Macht, d.h. um Mehrheiten, wobei unsaubere Tricks, Desinformation, Lügen, wenn aufgedeckt, verharmlost werden als „Fehler“ im Sinne des elften Gebots: „Du sollst Dich nicht erwischen lassen“.
Zum Überdruß an der Demokratie tragen auch die gewissenlos um hohe Einschaltquoten bemühten Medien bei mit hochbezahlten Protagonisten der kollektiven Verblödung für eine scheinbar selbstzufriedene Spaß- und Spießgesellschaft.
Schuld sind indes mehr oder weniger wir alle, denn jene hemmungslos praktizierten Egoismen und Eskapismen, aus denen sich unser Wohlstands- und Sicherheitsdenken rekrutiert, hat unsere Gesellschaft mehr oder weniger unbewußt verinnerlicht, wobei man sich achselzuckend oder einfach resigniert blind und taub stellt gegenüber den uns zur Schande gereichenden Ungerechtigkeiten im sozialen Gefälle – und sich das gute Gewissen durch Spendenüberweisungen erkauft.
Wenn Demokratie als wünschbarer Zustand „Herrschaft des Volkes“ meint und über Wahlen, und Mehrheitsentscheidungen praktiziert wird, dann muß gefragt werden: Sind wir ein Volk? Inwiefern sind wir ein Volk? Was ist das: ein Volk? Woher kommt seine Autorität?
Der Begriff „Volk“, schwerbelastet aus der Zeit „völkischen Denkens“ ebenso wie aus derjenigen des „volkseigenen Betriebs“, dennoch uns nahestehend im Gedanken ans heimatlich Volkstümliche, bleibt problematisch, weil er so oder so ein Moment des Irrationalen, des kollektiv Blendenden, gar des Denkfeindlichen enthält.
Und wer ist „wir“ in einer Phase der europäischen Geistesgeschichte, wo Arthur Rimbaud längst erkannt hatte: „je est un autre“. Gerade hier – um es nur flüchtig zu streifen - hätte eben auch die Kunst „ein „Wörtchen mitzureden“. Der Begriff „Volk“ - als eine Schicksals-Gemeinschaft - impliziert nicht nur ein Gemeinschafts-Bewusstsein, einschließlich eines gemeinschaftlichen Vergangenheitsbewusstseins: er impliziert ein bewusstes Gemeinschaftsbewusstsein, und vielleicht noch mehr: er impliziert ein bewusstes gemeinschaftliches Unterbewusstsein. Und er könnte – müßte – im reflektierenden Blick auf unsere Geschichte sich neu begreifen als so etwas wie ein kritisches, sozusagen „hellhöriges“ Gemeinschaftsbewußtsein.
Die Frage wäre nun: Wie läßt sich dieser Begriff des „Volkes“, dessen Herrschaft die „Demokratie“ meint, vereinbaren mit dem Begriff des in der Entwicklung der europäischen Kultur und Geistesgeschichte seiner Autonomie, seines persönlichen Gewissens, seiner Vernunft, seiner „unantastbaren Würde“, seiner Freiheit, bewußt gewordenen, aber auch - spätestens seit Georg Büchners Wozzeck - ebenso des an seine Unfreiheit, seine Abgründigkeit und Unvernunft erinnerten Individuums, und wie mit dem daran gebundenen liberalen Gedanken? Und dies in einer Gesellschaft, wo die Idee der Selbstverwirklichung bei den einen gezwungenermaßen verkommt zur verzweifelten Selbsterhaltung und bei den anderen zur rücksichtlosen Selbstbereicherung und im übrigen weithin gleichgeschaltet scheint und angepaßt an profitorientiert gesteuerte, standardisierte Glücksvorstellungen, so daß der Gedanke des „Liberalen“ Mühe hat, sich von seinen willkürlichen Verzerrungen abzugrenzen…
Eine Selbstverwirklichung des Einzelnen, die den Namen verdient als unabhängig von den kommerziell uns manipulierenden Glücksversprechungen, und die sich vereinbaren läßt mit jener Idee eines zu „mündigen“ Mehrheitsentscheidungen fähigen Volks scheint mir möglich nur dort, wo der Mensch sich erkennt als geist- und reflexionsfähige Kreatur, als nach Erkenntnis Suchender und als mitten im Leben vom Tod Umfangener. Alle anderen ihn wie auch immer prägenden, adelnden, kennzeichnenden Glücksvorstellungen, Wert- und Moralvorstellungen und Erwartungen an sich und an die Gesellschaft ergeben sich von dort.
Hier wären eigentlich die Religion und das Wirken der Kirchen gefragt. Aber die Kirchen scheinen mir ehrwürdige Ruinen jener machtvollen Religiosität der frühen Christenheit, aus welcher im Lauf der Geistesgeschichte die Emanzipation des Logos die ungebrochene Glaubwürdigkeit herausgezwungen hat. Ihr Wirken, abgesehen von ihren zumindest im Falle der katholischen Lehre, wirklichkeitsfremden, in der Dritten Welt verheerend wirkenden Dogmen, bewegt sich heute hierzulande hart an der Grenze zum Entertainment, eine Grenze, die die Kirchen anderswo, nicht nur in den USA, längst überschritten haben.
Demokratie scheint mir nur dort liebenswürdig, lebenswürdig, verteidigungswürdig und so auch für die Gemeinschaft positiv vermittelbar zu sein, wo ein wie auch immer gegründetes Gemeinschaftsbewußtsein sich verbindet mit dem Gedanken an unsere Geistfähigkeit, unsere Reflexionsfähigkeit, unsere Öffnungsfähigkeit, auch an unsere ästhetische Abenteuerbereitschaft, - aber auch an unsere Vergänglichkeit und unsere Bedrohtheit und Gefährdetheit durch Angst, Gewalt, Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit, Geistfeindlichkeit.
Es müßte hier nun die Rede sein von Kunst. Denn diese appelliert in ihren intensivsten Ausprägungen an jene Geistfähigkeit des Menschen, ohne welche die Demokratie als manipulierbare suspekt bleiben wird. Dabei sehe ich keine andere, ernstzunehmende Möglichkeit für die Kunst, auf den Menschen bzw. auf die Gesellschaft einzuwirken, als diejenige, durch die Radikalität ihrer geistgeladenen Sinnlichkeit den Menschen an seine Bestimmung als geistfähiges Wesen zu erinnern, - zu „gemahnen“, so daß er von dort her sich und seine Wirklichkeit reflektiert. Will sagen: der Kunstschaffende hat nichts zu sagen – sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
Meine Aufforderung, nicht zuletzt im Hinblick auf eine Versöhnung mit dem fragwürdig gewordenen Begriff der Demokratie, wäre demnach diese: Aus den Akademien der Künste sollten - deutlicher und viel „aufdringlicher“ als bisher - Akademien der Kunst werden.
Dies meint zum einen: als zentrales Aufgabenfeld die ständige Reflexion und bewußte Problematisierung des Kunstbegriffs, und zwar zunächst des europäischen Kunstbegriffs – denn dort – wo das Wirken des Logos unsere Sinneserfahrungen immer wieder neu beleuchtet und so über die Sinne das Bewußtsein bewegt- hat dieser Begriff seinen Ursprung. Zu solcher Reflexion gehört - mit allem Respekt, mit aller Neugier, mit aller Betroffenheit - die ehrfurchtsvolle Begegnung mit und das Studium von außereuropäischen Kulturen und der in ihnen entwickelten Schönheiten – und das Studium jener in ihnen mehr oder weniger ungebrochen wirkenden Weltbilder mit ihren mythischen und magischen Räumen. Zur europäischen Kultur gehörte schon immer - durchaus legitim - der ästhetisch faszinierte, darüber hinaus aber selten kompetente Blick bzw. die Flucht in die Idylle und das exotische Kolorit „anderer“ Kulturlandschaften, übrigens einschließlich des idyllischen Kolorits der eigenen Tradition.
Zu solcher Reflexion gehört aber auch die Auseinandersetzung - noch einmal sei es betont: mit allem Respekt, aller professionellen Neugier, aller Betroffenheit - mit dem, was unter dem zugegebenermaßen oberflächlichen Begriff des „Entertainment“ zu jenem weithin kommerziell orientierten Dienstleistungsbereich gehört, der unserem Bedürfnis entgegenkommt, aus der Wirklichkeit zur glücksverheißenden „Entspannung“ welche ästhetisch intakte Räume auch immer zu fliehen.
Zur Reflexion des Kunstbegriffs gehört in allen Fällen die Reflexion jener Erfahrung, in der die Vermittlung von Kunst sich trifft - oder auch sich schneidet mit der Vermittlung jenes übergreifenden Gemeinschaftsbewußtseins, von der im Zusammenhang mit der Demokratie die Rede war, sei es im politischen Leben als „Volk“, im Konzertsaal als Publikum, in der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen, im Stadion hier als Fußballfans, dort als Pop-Fans: sie gilt dem Begriff bzw. der Erfahrung des Magischen als kollektiv berührende, mitreißende, emotional anrührende, uns zum Volk im eher irrationalen Sinne zusammenzwingende, gelegentlich rauschhaft verbindende Kraft, als einer Kraft, die es allerdings in der Kunst nicht bloß herbei zu beschwören sondern als zu Reflektierende zugleich zu brechen bzw. neu zu laden, sozusagen zu „suspendieren“, sprich „aufzuheben“ gilt.
Denn, - um einer diesbezüglichen Diskussion zwar vorzugreifen, keinesfalls aber, sie abzuschließen - nur soviel sei zum Kunst-Begriff gesagt: Die Kunst hat solche uns verbindende Erfahrung des Magischen gemein mit jenem durchaus zu respektierenden Bereich, den wir oberflächlich verallgemeinernd als „Entertainment“ etikettieren. Letzterer bezieht seine Wirkung - auch seine gesellschaftliche Bevorzugung - aus dem ungebrochenen Spiel mit dem Magischen auf welchem Niveau auch immer – ob im Techno-Schuppen, in Rock-Palästen, oder für Feinsinnigere bei den Salzburger Festspielen, oder in Bayreuth. In der Kunst hingegen, emphatisch erlebt als Abenteuer des Geistes, wird dieses Moment des Magischen neu gepolt in dem Maße, wie in ihr Logos und Eros, Intellekt und Intuition, Phantasie und konstruktiver Wille das Magische im Beschwören zugleich gebrochen, „suspendiert“ haben. Von dieser Brechung samt der darin enthaltenen ästhetischen Irritation bezieht Kunst ihre gesellschaftliche „subversive“ Wirkung. Und um diese geht es allemal.
Eine andere Aufgabe wäre die Vermittlung dieser Diskussion in der Öffentlichkeit, die Aufforderung zur Beobachtung des ständig sich wandelnden, sich erweiternden Kunstbegriffs - und dies an allen geeigneten Stellen, in allen geeigneten Formen: (sogar!) im Vorschulalter, in den Schulen, Gymnasien, Universitäten, in den Rundfunk- und Fernsehprogrammen, in den Feuilletons, den Programmheften, den Ausstellungskatalogen, den CD-Booklets, den usw. usw. Das mag blauäugig klingen, aber man hat es bisher kaum versucht.
So wie es offensichtlich zu einem gewissen Grad gelungen scheint, der Gesellschaft so etwas wie ein Umwelt-Bewußtsein zu vermitteln. – mit Rückschlägen natürlich – müßte es möglich sein und wäre es einen Versuch wert, ein die Worthülse des „mündigen Bürgers“ aufbrechendes reflektiertes Demokratieverständnis zu vermitteln in bewußtem Widerstand gegen das, was ich oben vereinfachend „Verblödung“ genannt hatte, und - als genau hier ansetzender Beitrag aus unserer Perspektive als Kunstschaffende - ein die Phantasie und den Intellekt elektrisierendes Bewußtsein für das, was den Begriff Kunst für uns alle so unverzichtbar macht.
Und jeder Tag mit all seinen in unserer Gesellschaft eingerichteten Vermittlungsformen ist entweder eine vertane oder eine genutzte Chance.
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